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Donnerstag, 18.10. 2012

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So ein Akkuschrauber machte schon ein schönes Geräusch, fand Doro, während sie am Schreibtisch letzte Hand an das Ex des Geschichtskurses legte und im Geiste schon bei der Angabe für ein neues in der Elften war.

Der Schrank wuchs und gedieh, am liebsten hätte sie zugesehen, aber sie wollte die beiden auch nicht stören, die da so konzentriert aufbauten. Zwei Schränke hatten sie jedenfalls schon aufgestellt, und sie selbst wollte gerne alles vorbereitet, abgelegt und eingepackt haben, wenn die beiden fertig waren, um den Rest des Abends mit genussvollem Einräumen zu verbringen.

Noch vier Leute, dann hatte sie alle überprüft! Und der Schnitt lag so etwa bei elf Punkten, wirklich erfreulich. Guter Kurs. Oder guter Unterricht, schmeichelte sie sich selbst.

Vom Gang ertönte halblautes Hämmern. Aha, die dritte Rückwand. Ob die Schubladen und Fächer schon drin waren? Und die Kleiderstange?

Egal, erst die letzten vier! Sie sah sie durch, schrieb Punktesummen, Punkte und Noten auf die Blätter, rechnete den Durchschnitt präzise aus: 11,24, äußerst zufrieden stellend, druckte den Erwartungshorizont aus, tütete ihn ein und versenkte alles in der G 12-Mappe.

Draußen war wieder der Schrauber zu hören. Sie bezähmte sich und bastelte die Angabe für den Kurs G 11 – die hatten heute auch ordentlich mitgearbeitet und konnten morgen bestimmt etwas.

Danach strich sie in ihrem Terminplaner alles Erledigte sorgfältig mit pinkfarbenem Textmarker ab – nicht mehr viel zu tun! - , packte ihre Tasche, räumte im Zimmer ein wenig herum, schaute auf die Uhr – halb fünf – sortierte ihre Bücher schöner, warf einige überzählige Kopien weg, spülte zwei herumstehende Teller ab, polierte die Arbeitsplatten und räumte den Schrank mit den Lebensmitteln auf. Sehr ergiebig war das nicht, sie wohnte ja erst fünf Wochen hier.

Immerhin, eine eigene Küche, und wenn sie noch so winzig war! Wenn sie da an die Wohnküche in der Wörthstraße dachte…

Der Raum war schön gewesen, mit Blick auf den Bordeauxplatz, man hörte immerzu das Klingeln und Surren der Neunzehner Tram. Saugemütlich – aber die Möbel waren völlig abgewohnt, offenbar noch aus den frühen Sechzigern, als Frithjofs Großeltern dort gelebt hatten. Und um den großen Tisch in der Mitte saßen immerzu die merkwürdigsten Leute, meistens welche, die Anna irgendwo aufgegabelt hatte. Die rauchten eine nach der anderen (und man konnte froh sein, wenn es bloß Tabak war…), tranken – und fraßen - den Kühlschrank leer, belästigten die Mitbewohner und diskutierten über Fußball.

Gut, man hatte Anna, die mit jedem Idioten Mitleid hatte, schließlich zum Auszug bewogen, aber auch sonst war die Küche ein Ort des Grauens. Ob es nun um die Siegeschancen von Schalke ging, die Frage der Mindestlöhne, eine Untersuchung, wer den letzten Joghurt von Matthias geklaut oder wer schon wieder die Spülmaschine nicht ausgeräumt hatte… man traute sich schon kaum noch hinein.

Der Brief mit der Versetzung nach Leisenberg war geradezu eine Erlösung gewesen. Sicher hatte Doro gerne in München gelebt, aber mit diesem Brief konnte sie fristlos kündigen und noch auf Verständnis rechnen.

Also hatte sie ihren Krempel in Kisten gepackt, sich in Leisenberg eine kleine Wohnung gesucht (und über die vergleichsweise niedrigen Mieten gestaunt) und ihre Kisten herschaffen lassen. Bis auf das Bettsofa und den wackligen Tisch hatte sie nichts mitgenommen - sollten die Chaoten doch damit glücklich werden!

Wenn sie sich an die WG erinnerte, gefiel ihr die winzige Wohnung gleich noch viel besser: alles ganz für sie allein, herrlich! Sicher, Matthias, Sophie, Carina, Frithjof und sogar die durchgeknallte Anna waren nett gewesen – aber ebenso oft hatten sie auch furchtbar genervt. Und sich in sein Zimmer zurückziehen und gut hörbar den Schlüssel umdrehen – das galt als unsozial: „Hast du was? Bist du irgendwie blockiert? Haben wir dir was getan? Warum willst du dich nicht einbringen? Carina hat vorgeschlagen, echte Schafwolle selbst zu färben und zu spinnen und hinterher etwas echt Authentisches daraus zu stricken – willst du nicht mitmachen? Hast du ein gestörtes Verhältnis zur Natur? Wie, Pullis kratzen? Das ist doch egal, es geht schließlich um ein Statement!“

Doro kicherte vor sich hin, während sie geringfügig aufräumend durch die Küche strich. Ins Bad konnte sie schlecht, davor werkelten ja die beiden Handwerker und sie müsste über Werkzeugkasten, Regalbretter, halbfertige Schubladen und alles andere klettern und wäre nur im Weg. Außerdem gab es im Bad nichts Interessantes aufzuräumen.

Sie lauschte auf den Akkuschrauber, trocknete das bisschen Geschirr ab und verräumte es – und dann beschloss sie, doch schon ihre Klamotten in ordentlichen Häufchen auf dem Bettsofa aufzustapeln. Neben den Blazern, die sie auf dem Heimweg von den verschiedenen Reinigungen abgeholt hatte.

Sah recht nett aus, fand sie nach dem fünften Stapel, nach Farbe geordneten T-Shirts; daneben lagen Strickjacken, Rollis, Tops und eine Handvoll Jeans und Chinos. Sehr ordentlich. Und wenn sie das langsam und sorgfältig machte, dauerte es bestimmt, bis die beiden fertig waren!

Kriegten die wohl Trinkgeld?

Na, wenn es nachher schön aussah und sie vielleicht sogar die Sägespäne wegfegten, pro Nase einen Zehner? Die Montage kostete sowieso noch 120 Euro für zwei Stunden – aber das war es wert. Der Schrank war teuer genug, da musste er nicht wackeln und schief dastehen, weil sie sich selbst laienhaft daran versucht hatte!

Die zwei Stunden waren eigentlich schon fast vorbei, überlegte sie – und in diesem Moment wurde der Akkuschrauber ausgeschaltet.

„Mir hätten´s jetzt“, verkündete der eine. „Wollns mal schaugn?“

Doro schaute. Sehr ordentlich! Alles drin, Kleiderstangen, Regalbretter, Schubladen, zwei Drahtkörbe… alle Türen gerade, leichtgängig und mit den eleganten Edelstahlgriffen. Sie rüttelte probeweise am Korpus, probierte alle Schubladen aus, nickte zufrieden, lobte die beiden, verteilte das Trinkgeld, ohne sich über das Häuflein Sägemehl aufzuregen, unterschrieb die Rechnung und brachte die beiden samt ihrem Equipment zur Tür.

Herrlich!

Wieder allein – mit einem perfekten Schrank.

Sie war gerade mit dem Stapel T-Shirts auf dem Weg, als das Telefon klingelte.

Huch? Hatte das, seitdem sie hier wohnte, schon mal geklingelt? Der Festnetzanschluss? Wer kannte eigentlich die Nummer? Wahrscheinlich bloß wieder solche Gauner, die fragten, ob sie nicht einen Bausparvertrag – eine Umfrage – einen billigeren Handyanbieter – ein Diätzaubermittel….

Nein – Silvia.

„Na, kleine Schwester?“

„Ich bin fünf Zentimeter größer als du!“, entgegnete Doro sofort. Silvia lachte. „Und ebenso viele Jahre jünger. Finde dich damit ab, du bleibst das Schwesterchen. Wie geht´s dir so?“

„Gut. Ich habe gerade die Wohnung fertig eingerichtet.“

„Na, endlich. Du wohnst doch schon bald fünf Wochen in diesem komischen Kaff.“ Doro ärgerte sich. „Na und? Ich muss doch nicht an einem Tag alles fertig haben.“ So wie du, du blöde Perfektionistin.

„Na, dir hat es ja noch nie etwas ausgemacht, im Chaos zu hausen. Willst du überhaupt dort bleiben? Lass dich doch nach München zurückversetzen!“

„Wozu? In Leisenberg lebt es sich viel günstiger. Und die Leute hier sind nett. Was soll ich schon in München?“

„Und was ist mit Vinz und mir?“

„Warum soll ich euretwegen nach München ziehen? Als ich noch in der Wörthstraße gewohnt habe, haben wir uns auch so nicht oft gesehen. Vinz hat immer was Trendigeres vor, und du bist ja auch dauernd beschäftigt.“

„Soll das ein Vorwurf sein?“

„Quatsch. Nur eine Feststellung. Was gibt´s denn bei euch Neues?“

Silvia seufzte ausdrucksstark in den Hörer. „Noch nichts!“

„Wie, nichts?“ Doro war ratlos. „Dass bei euch die totale Langeweile herrscht, kann ich mir nicht vorstellen. Ich denke, du wohnst in einer so pulsierenden Großstadt, kein Vergleich mit dem provinziellen Leisenberg?“

Silvia hörte den Spott natürlich heraus – man kannte sich schließlich schon etwas länger. „Blöde Nuss, du weißt genau, was ich meine!“

„Ach herrje, versucht ihr es immer noch? Mensch, Silvia, du hast doch drei wohlgeratene Kinder und die sind gerade aus dem Gröbsten heraus – und da wollt ihr euch das Ganze noch mal antun?“

„Das verstehst du nicht“, maulte Silvia. „Gerade, weil die drei schon so selbständig sind… da ist man ja gar nicht mehr gefragt. Sogar die Hausaufgaben machen sie unaufgefordert! Ich brauche wieder jemanden, den ich umsorgen kann.“

„Du hast auch noch einen Mann“, erinnerte Doro sie. „Kümmere dich doch mal um den! Oder um den Wiedereinstieg in den Beruf. Silvi, du bist erst dreiunddreißig, du bist noch nicht zu alt. Oder willst du Kinder kriegen, damit du bis zum Rentenalter gut beschäftigt bist? Viel Rente wirst du dann allerdings nicht kriegen.“

„Sei nicht so fies. Und ich wüsste nicht, dass du so besonders viel von Männern verstehst, schon gar nicht von meinem.“

Das stimmte allerdings. Doro kannte Günther, ihren Schwager, eher flüchtig und fand ihn herzlich uninteressant. Harmlos und belanglos. Vielleicht hatte er ja verborgene Tiefen, aber dazu hätte sie ihn besser kennen müssen. Ach, wozu? „Ich will gar nicht fies sein“, begütigte sie also. „Dann wünsche ich dir einfach viel Erfolg bei euren weiteren Versuchen. Was hättest du denn am liebsten, Bub oder Mädel?“

„Noch ein Mädel… zwei Jungs und zwei Mädels wären doch toll… und von Mädchen hat man ja auch länger was.“

„Ehrlich? Ich finde, Mädchen sind viel alltagstauglicher. Ich hab in meinen Kursen Jungs, die sind achtzehn und wenn sie was wollen, schicken sie die Mama rein. Den Mädels wäre das schon mit zwölf zu peinlich. Pass bloß auf, dass du nicht in fünfzehn Jahren als Hotel Mama dastehst.“

„Das fände ich gar nicht so tragisch. Ist doch schön, wenn man noch gebraucht wird.“

„Zum Frühstückmachen und Wäschewaschen? Silvi, was ist mit deinem Beruf?“ Silvia prustete verächtlich in den Hörer. „Zurück ins Büro? Ich bin doch nicht blöd!“ Silvia war Verwaltungsfachangestellte gewesen, bevor sie geheiratet hatte. Und da sie schon mit einundzwanzig geheiratet und dann zügig Lisa, Sebastian und Benedikt in die Welt gesetzt hatte, die jetzt elf, zehn und neun waren, hatte sie in ihrem Beruf nicht gerade lange gearbeitet. Vielleicht verständlich, dass ihr das jetzt etwas fern gerückt war, überlegte Doro.

„Ja gut, aber vielleicht könntest du was anderes machen? Irgendein Hobby zum Beruf machen?“

„In Volkshochschulkurse gehen, was?“, höhnte Silvia.

„Quatsch. Selber welche geben schon eher. Oder einen Wollladen – ein kleines, aber feines Catering… irgend so was.“

„Und warum soll ich mich nicht um meine Kinder kümmern? Immerhin muss Benni noch den Übertritt schaffen!“

Doro verkniff sich eine Bemerkung über Eltern, die ihre Kinder um jeden Preis aufs Gymnasium prügelten, weil sie sich nicht vor den Nachbarn genieren wollten. „Und sonst ist bei euch nichts los?“, wechselte sie also entschlossen das Thema. „Was macht denn Vinzenz? Von dem hört man ja auch nichts.“

„Weiß ich auch nicht. Geschäfte, denke ich. Mensch! Du kennst doch den Pointner, der bei uns an der Ecke zur Wasserburger diese Riesenscheune gebaut hat, oder?“

„Den gelben Klotz?“, fragte Doro, die sich vage an das überdimensionierte Ding mit den vielen spacigen Erkern, Terrassen, Balkonen und merkwürdigen Einbuchtungen erinnerte. Dass so was genehmigt worden war?

„Ja, genau. Der Pointner hat sich ja beim Boom 2000 dumm und dämlich verdient, nicht? Und jetzt hat er alles wieder verspekuliert.“

„Hui“, machte Doro. „Hatte der nicht diese unglaublich arrogante Zimtzicke zur Frau? Die mit dem roten Sportflitzer und den Riesensonnenbrillen?“

„Die Vanessa, genau. Naja, Hochmut kommt vor dem Fall. Jedenfalls, der Pointner hat sich vor den Zug geworfen, und die Vanessa muss aus dem Haus raus, wird alles zwangsversteigert, damit die Bank wenigstens einen Teil der Schulden wieder reinkriegt.“

„Bitter. Der arme Mann. Ich muss zugeben, diese Vanessa tut mir jetzt nicht so furchtbar leid.“

„Mir auch nicht“, sagte Silvia mit etwas schwankender Stimme.

„Kicherst du etwa??“, fragte Doro streng, musste aber auch lachen. „Da gab´s doch mal eine Serie, wo ganz Reiche alles verloren haben und sozusagen ins Hasenbergl ziehen mussten… stell ich mir gerade mit Vanessa Pointner vor…“ Sie prustete los, und Silvia lachte mit.

Schließlich wurde Doro wieder ernst. „Trotzdem, vor einen Zug? Das stelle ich mir total grässlich vor.“

„Ja, ich auch. Aber anscheinend wollte er seinen Gläubigern und seiner Frau nicht ins Gesicht schauen.“

„Gut, aber warum nicht eine friedliche Dosis Schlaftabletten?“

„Musst du erstmal auftreiben. So viele verschreibt dir ja auch keiner. Und wenn du´s eilig hast…“

„Na gut, dann Auspuffgase.“

„Geht das mit Kat überhaupt noch?“, wandte Silvia ein.

„Hm, weiß ich auch nicht“, musste Doro zugeben. „So einfach ist ein Selbstmord wohl doch nicht. Naja, Strick um den Hals geht wohl immer. Übrigens hatten wir hier auch so eine Bahnleiche. War aber wohl einfach ein Besoffener, der den Abhang runtergefallen und auf die Gleise gekullert ist.“

„Du meinst, gruselfaktormäßig kann Leisenberg mit München durchaus mithalten?“, spottete Silvia, und Doro wusste wieder, warum sie sich eigentlich doch ganz gut verstanden – es war die familieneigene spitze Zunge.

„Hauptsache, Vinz spekuliert vernünftig“, hoffte sie abschließend, während sie allmählich sehnsüchtige Blicke auf die verlockenden weit offenen Schranktüren warf.

„Ach, der ist doch eher risikoscheu. Da mache ich mir mal keine Sorgen. So, und du bleibst also in diesem Kaff und erziehst die Kinder anderer Leute. Na, jedem Tierchen sein Pläsierchen!“

Als sie endlich aufgelegt hatte, rieb sich Doro vergnügt die Hände. Erst mal feucht auswischen, falls es drinnen auch noch Sägemehl gab! Eigentlich war es ganz gut, dass Silvia angerufen hatte – sie hätte sonst das Putzen womöglich in ihrem Eifer ganz vergessen.

Also wischte sie mit einem leicht feuchten Tuch sorgfältig durch alle Fächer und Schubladen, verteilte auch ein paar Tropfen Zedernöl in den Ecken, polierte die Edelstahlgriffe, bis sie funkelten, und amüsierte sich dann damit, die T-Shirt- und Pulloverstapel auf dem Bettsofa noch gleichmäßiger und nach Farben sortiert zu arrangieren.

Perfekt.

Und alle Söckchen waren ordentlich gerollt, sogar die Wäschegarnituren sahen tadellos aus, je drei Slips gerollt und in die ineinander geklappten Schalen des dazu passenden BHs gesteckt. Bildschön.

So, und jetzt kam alles in den Schrank!

Sie begann mit allem, was auf einen Bügel gehörte, ihren paar Blazern, den Blusen, dem einzigen Rock und den zwei Sommerkleidern, hängte einige Male um, bis die Reihenfolge einleuchtend schien, und füllte dann die Fächer. Auf den Boden unter den Blazern stellte sie alle ihre Schuhe und Stiefel, ordentlich auf Spanner gezogen und frisch geputzt. Oh, die blauen Lackballerinas mussten neue Absätze kriegen! Sie ließ sie im Flur stehen, morgen nach der Schule würde sie die zum Schuster bringen.

Himmel, wo gab es denn hier einen Schuster? Vermutlich hatte das Kaufhaus am Markt so einen Schnellservice. Na, sie konnte morgen ja mal herumfragen.

Schließlich war alles auf das Schönste untergebracht. Doro betrachtete sich das Schrankinnere befriedigt, schloss dann die Türen und sah sich im Zimmer um. Ohne die Kleiderstapel allenthalben wirkte das Zimmer gleich viel größer und ordentlicher. Fast schon puristisch.

Hoch zufrieden setzte sie sich an den Schreibtisch, legte eine Liste davon an, was sie morgen alles erledigen wollte, und fand sich ungemein effizient und organisiert. Dann hatte sie jetzt neben einem kleinen Abendimbiss doch etwas hirnlose Fernsehkost verdient?

Tod auf den Gleisen

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