Читать книгу Tod auf den Gleisen - Elisa Scheer - Страница 6

Freitag, 12.10.2012

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Das Aufwachen war jetzt der reine Genuss, stellte sie am nächsten Morgen fest, als ihr erster Blick auf diesen nahezu perfekten Arbeitsplatz fiel. Da wollte man sich doch am liebsten gleich wieder hinsetzen! Naja, erst musste man sich natürlich mal aus dem Bett quälen…

Sie krabbelte heraus, tappte ins Bad, wusch sich, duschte, kramte etwas ratlos ihre Kisten und die Türklinken durch, stellte fest, dass der Pfeffer-und-Salz-Blazer immer noch in die Reinigung musste und entschied sich schließlich für den camelfarbenen Boucléblazer. Dazu rehbraune Chinos und ein cremeweißes T-Shirt… und wieder die braunen Schuhe. Ziemlich elegant, fand sie schließlich. Direkt karriereverdächtig! Sie kontrollierte ihre Tasche, backte sich eine Vollkornsemmel auf, aß sie mit hartem Ei, dünn Kräuterfrischkäse, ein paar Nüssen und einer Handvoll Tomaten, packte sich zwei Äpfel und einen zuckerfreien Müsliriegel ein, gönnte dem Zimmer noch einen verliebten Blick und machte sich schließlich auf den Weg.

Mal sehen, welche Dramen sich heute im Lehrerzimmer abspielten! So lustig waren die anderen Schulen bei weitem nicht gewesen. Auf dem Weg zum Bus kaufte sie sich noch schnell eine HOT! Aha, Schlagzeile: Unfall, Selbstmord oder Mord? Wohl immer noch die Leichenteile vom Bahngleis. Sie fuhr zur Schule, eilte ins Lehrerzimmer, packte aus und sah sich um. Noch niemand da – aber das Licht hatte doch schon gebrannt?

Und nebenan kopierte jemand, wie dem leisen Jaulen zu entnehmen war. So, was brauchte sie zuerst? Geo 7, das – natürlich – erdbraune Mäppchen. Ach ja, diese Übersicht und das Arbeitsblatt, sie brauchte 31 Stück.

Am Kopierer stand die Steinleitner, die Haare vorne sorgfältig toupiert und hinten streng festgesteckt, in violettem Kostüm mit cremefarbener Bluse und sichtlich bequemen Schuhen. Warum richtete die Frau sich so altmodisch her? Die war doch höchstens, na – vielleicht vierzig? Sie begrüßten sich lächelnd und Doro überlegte, was sie jetzt noch Nettes sagen konnte, aber ihr fiel nichts Rechtes ein. „Haben Sie sich schon gut eingewöhnt?“, fragte die Steinleitner, stellte den Kopierer auf null und fischte Vorlage und Kopien heraus. „Bitte schön!“

„Danke. Ja, hab ich. Mir gefällt es hier sehr gut. Sie geben auch Deutsch, nicht?“

„Und Französisch, ja. In Deutsch hab ich Kurse in Q 11 und Q 12 und außerdem eine Neunte. Und Sie?“

„Eine Achte, eine Neunte und Q 11. Lesen Sie auch gerade Maria Stuart?“

Die Steinleitner schüttelte den Kopf. „Ich bin mehr ein Fan von Iphigenie auf Tauris. Aber Faust lesen ja dann alle, und der Film ist ständig ausgebucht.“

„Der Gründgens oder der Dorn? Den Dorn hab ich selbst, ich brauche dann nur noch eine Laptop-Beamer-Einheit.“

„Die haben wir glücklicherweise reichlich, man muss sie sich nur im Intranet reservieren. Also, einen schönen Tag noch!“ Sie verließ den Kopierraum, und Doro nudelte ihre Blätter durch und bereitete ihre Tasche dann für die erste Stunde vor. Mittlerweile hatte sich das Lehrerzimmer beträchtlich gefüllt.

Richling saß in seiner Ecke und las nicht Zeitung, sondern versuchte, fromm dreinzuschauen. Vergebliche Liebesmüh, fand Doro. Der hatte sich gestern ja schön ins Knie geschossen! Ob der Chef ihm ein Disziplinarverfahren angedroht hatte? Was war eigentlich passiert, während Richling hier oben gelesen hatte anstatt Aufsicht zu machen?

Stand vielleicht etwas am Direktoratsbrett? Sie ging nachschauen, fand aber nichts. Dafür stand sie auf dem Vertretungsplan: Vierte Stunde 10 a… denen fiel Mathe aus. Mal sehen, was sie mit denen machen konnte – am besten fragte sie Hilde, ob sie die für die Oberstufe briefen sollte. Viertel vor acht – auf dem Weg zur siebten konnte sie mal schnell im Oberstufenbüro vorbeischauen. In der Tür zum Büro drängte sich eine Traube Oberstüfler mit Zetteln in der Hand.

„Hatte ich nicht gesagt, kursweise und alphabetisch sortiert bei mir abgeben? Na, gebt schon her. Lesen ist wohl Glückssache?“ Hilde war eindeutig schlechter Laune. Sie sammelte die Zettel ein und nahm noch einen feixenden Zwölftklässler ins Gebet, warum er letzte Woche am Mittwoch unentschuldigt in Physik, Geographie und Englisch gefehlt habe.

„In Geo war ich doch bloß zu spät!“, behauptete der. „Die Fiedler hat mich bloß nicht reinkommen sehen.“

„Was jetzt? Außerdem heißt das Frau Fiedler!“ Doro zog ihr Büchlein aus der Tasche. „Weder noch“, mischte sie sich dann ein, und Kevin Niederkirchner fuhr erschrocken herum. „Du warst die ganze Stunde nicht da. Erzähl hier nicht einen vom Pferd.“ Kevin brummelte etwas.

„Also geschwänzt“, stellte Hilde fest. „Café Schön oder Deli, vermutlich. Kevin, so wird das nichts mit dem Abitur. Und wenn du mir noch mal mit einer solchen Aktion auffällst, gibt´s einen verschärften Verweis. Zwei normale hast du schließlich schon, du Stratege.“ Kevin trollte sich mäßig niedergeschlagen.

„Und dann rumjammern, wenn´s ihn durchs Abi haut“, kommentierte Hilde. „Hallo, Doro. War ja perfektes Timing! Kann ich dir helfen?“

„Vielleicht. Ich hab später eine Vertretung in der 10 a. Hast du vielleicht Infomaterial oder soll ich denen was ausrichten?“

„Ja, super. Hier, wenn du das noch kopierst – die sind zwar informiert, aber die Tatsache, dass an Mathe und Deutsch kein Weg vorbeiführt, kann man ihnen nicht oft genug klarmachen.“

„Und dass man die einzige Naturwissenschaft komplett einbringen muss?“

„Und dass sie, bevor sie auf Verdacht hin erst mal nichts tun, bitte vorher bei mir nachfragen sollen! Erst dummstellen und dann rumjammern klappt nicht. Sehr gut, wenn du das übernimmst, spare ich wieder Zeit. Am besten sorge ich dafür, dass du in jeder Zehnten mal eine Vertretung kriegst?“

„Och“, grinste Doro, „muss jetzt auch nicht sein. Also, bis später!“

Sie eilte in ihre Siebte, dann in den Geschichtskurs in der Elften, kopierte die Informationen für die 10 a und verbrachte den Rest der dritten Stunde im Lehrerzimmer.

Tote Hose. Na, besser als ein neuer Krach! Dafür hing jetzt ein Zettel am Direktoratsbrett – gestern hatten sich zwei Sechstklässler, da unzureichend beaufsichtigt, in der großen Pause ein U-Hakerl-Duell geliefert, wobei der eine dem anderen ins Auge geschossen hatte. Ob das Auge zu retten war, war noch nicht klar. „Puh“, murmelte Doro, „damit möchte ich nicht leben müssen. Da kommt auf den Richling noch was zu.“

Katja kam mit einem Stapel Schulaufgabenpapier herein und setzte sich. „Jetzt kommen wieder die Schulaufgaben… Scheißkorrekturen! Na, Latein geht ja wenigstens schnell.“

„Deutsch ist das Übelste“, stimmte Doro zu. „Und vorher immer diese Übungsaufsätze. Man freut sich ja schon fast, wenn keiner einen abgibt. Eigentlich total unpädagogisch, was?“

„Genau. Und was Deutsch und – by the way, auch Englisch – für eine Arbeit ist, sagt einem ja keiner, bis man in der Falle sitzt.“ Sie grinste, aber das Grinsen erlosch schlagartig, als Trattner hereinkam.

„Mist“, murmelte sie, „der schon wieder!“

Trattner setzte sich neben sie, ignorierte Doro und strahlte Katja an. „Du, die Berge sind zurzeit so unglaublich schön, du musst am Samstag mit mir wandern gehen! Du musst einfach!“

„Muss ich nicht“, brummte Katja. „Luis, jetzt lass mich doch endlich in Ruhe. Ich will nicht mit dir weggehen, und ich mag die Berge nicht so sehr. Ich halte mich an den norddeutschen Grundsatz: Berge von unten, Kirchen von außen, Kneipen von innen. Ich kann bloß leider kein Platt.“

Doro kicherte und Luis warf ihr einen giftigen Blick zu. „Finden Sie es sehr taktvoll, uns hier zu belauschen?“

„Wenn Sie ungestört baggern wollen, gehen Sie doch woanders hin, ich war zuerst hier“, entgegnete Doro nicht minder giftig. „Ich glaube auch nicht, dass Katja so besonders begeistert von ihren Vorschlägen ist.“

„Für eine poplige Anfängerin sind Sie ganz schön unverschämt! Ich werde darüber mal mit dem Chef sprechen müssen, denke ich.“

„Machen Sie nur - wenn Sie das brauchen.“ Doro tat, als vertiefe sie sich wieder in ihre Unterlagen, sah aber mit dem äußersten Augenwinkel, wie Trattner sie unschlüssig anstarrte und sich dann abrupt wegdrehte.

„Danke“, sagte Katja, „der Typ nervt so wahnsinnig. Und dieses Bergsteigergetue! Wenn ich was nicht leiden kann, dann so was.“

„Zu viele Luis-Trenker-Filme gesehen, vermutlich“, antwortete Doro, und Katja lachte schallend. „Und darin sein Idol erkannt? Das wird es sein, genau!“

„Nomen est omen… aber manche Leute gehen natürlich wirklich gerne in die Berge“, gab Doro nun zu bedenken.

„Aber sie müssen nicht jemanden mit Gewalt auf den Berg zerren wollen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm schon gesagt habe, dass ich Berge und Skifahren und all solchen Scheiß nicht mag und dass ich außerdem schon einen Freund habe. Warum kann der Kerl nicht hören?“

„Selektive Wahrnehmung der Realität?“, schlug Doro vor. „Muss ansteckend sein. Das haben hier so einige…“, seufzte Katja. „Mensch, es läutet gleich!“

Sie machten sich nach hastigem Umpacken in verschiedene Richtungen davon – Doro kam allerdings noch einmal zurück, weil sie sowohl die Kopien für die Zehnte als auch das Literaturlexikon, das sie nachher in der Elften herumgehen lassen wollte, liegen gelassen hatte. Zu diesem Zeitpunkt saß nur noch der fiese Ederer im Lehrerzimmer und grinste sie fettig an. Doro verzog angewidert das Gesicht, schnappte sich ihren Kram und eilte in die 10 a.

Leicht betäubt wankte sie vierzig Minuten später wieder aus dem Zimmer: Was die alles wissen wollten! In manchen Fällen hatte sie wirklich auf Hilde verweisen müssen, aber ansonsten hatte sie geduldig alles mehrfach erklärt und ganz besonders betont, dass Leute, die ohne Arbeitseifer und ohne echtes Genie antraten, am besten gleich nach Alternativen Ausschau halten sollten. Das gab etliche lange Gesichter, aber manche wandten sich auch feixend bestimmten Mitschülern zu…

So, jetzt Pausenaufsicht und dann Deutsch 11 und Deutsch 8. Und dann war Wo-chen-en-de!

Die Pausenaufsicht war mäßig spannend; bis auf einen Siebtklässler, der seinen Müll einfach fallen ließ, noch frech wurde, als Doro ihn aufforderte, Bananenschale und Schokoriegelpapier wieder aufzusammeln, und ihr dann einen falschen Namen nannte (dummerweise hatte er aber sein Lateinbuch unter dem Arm, und da stand vorne der richtige Name drin), benahmen sich alle annehmbar. Aber dieses Herzchen würde auf jeden Fall einen Verweis bekommen!

Wahrscheinlich klagten dann die Eltern, weil sie dem kleinen Scheusal zu Hause alles hinterher räumten und fanden, das müsse an der Schule ebenso sein.

Na, nicht ungerecht sein, ermahnte sie sich selbst, während sie nach dem ersten Läuten die Menge in der Pausenhalle langsam in Richtung Klassenzimmergänge bzw. Haupttreppe trieb, es gab viel mehr echt nette Eltern.

Aber manche waren schon Kotzbrocken! Ihr selbst war noch nichts passiert, aber die Geschichten, die an ihren früheren Schulen so in Umlauf waren… und hier auch… Trotzdem, so ging´s ja nun nicht!

Nach der letzten Stunde würde sie sich die halbe Stunde noch nehmen, die Verweisbegründung wasserdicht zu machen. Siebte Klasse… wer in der Schulleitung war da für Disziplinarmaßnahmen zuständig? Später!

Die Bittl sauste durch die Halle und stieß fast mit dem blöden Ederer zusammen. „Passen Sie doch auf!“, schnauzte der, die Bittl entschuldigte sich knapp, grinste zu Doro rüber und hielt sich kurz die Nase zu, was Ederer leider nicht verborgen blieb und ihn dunkelrot anlaufen ließ. Sollte er sich eben waschen, wenn er nicht als Saubär gelten wollte! Doro hatte kein Mitleid.

Die Elfte arbeitete wunderbar mit, aber die Achte hatte ganz offensichtlich keine Lust, war geistig schon im Wochenende und außerdem mit einem bösartigen Krach zwischen Susi und Saskia beschäftigt, der die Klasse in zwei Lager spaltete.

Schließlich gab Doro auf und beschloss, lieber diesen Krach aufzuarbeiten und dabei die Regeln vernünftigen und wertschätzenden Debattierens zu wiederholen. Sie bestimmte einige Wächter/innen, die bei jedem „immer“, „nie“, „du blöde Kuh, du“ und Ähnlichem STOPP! zu rufen hatten.

Schließlich stellte sich heraus, dass Saskia mit der Erwähnung von Justin Bieber Susi nicht hatte verarschen wollen (Doro bot „veralbern“, „auf den Arm nehmen“ und „sich über … lustig machen“ als Alternativen an), sondern einfach nur selbst Justin Bieber VOLL SÜSS! fand. Darin waren sich die beiden Feindinnen nun von Herzen einig und lagen sich schließlich, einige Rührungstränchen verdrückend, in den Armen, was manche in der Klasse offenbar etwas enttäuschte - null action mehr zu erwarten…

Doro fand Justin Bieber insgeheim völlig belanglos, hütete sich aber, das vor einer Horde anbetender Teenies zuzugeben. „Ach, wisst ihr, für mich wäre der ja doch ein bisschen zu jung“, war das Äußerste, was die Mädels bereit waren zu akzeptieren.

„So, und weil wir jetzt die ganze Stunde mit Justin Bieber verbracht haben -“

Gekicher.

„- schreibt ihr mir zu Hause je fünf unhöfliche Diskussionsbeiträge und eine entsprechende wertschätzende Verbesserung dazu auf. Das besprechen wir dann am – na gut, am Mittwoch. Schickt mir eure Beiträge bis Dienstagnachmittag, dann können wir sie übers Whiteboard anschauen und gemeinsam bewerten.“

„Och Männo!“ Sie stellten ihre Stühle unter Protestgeklapper hoch und schoben sich etwas mürrisch aus dem Zimmer. Dass Doro ihnen ein schönes Wochenende wünschte, fassten sie sicher wieder als Verarsche auf.

Im Lehrerzimmer rief Doro das entsprechende Programm auf und formulierte an dem Verweis herum, bis Herumferkeln, Frechwerden und Lehrkraft belügen als drei Straftaten dastanden.

Dabei stellte sie fest, dass der kleine Held schon zwei Verweise in diesem Jahr kassiert hatte. Zurückgezogen hatte man keinen, offenbar waren die Eltern also bereit, die Maßnahmen der Schule zu unterstützen.

Und zuständig für Übeltäter aus 5-7 war Luise!

Doro druckte den Verweis zweimal aus und brachte ihn nach nebenan zu Luise, die sich gerade durch mehrere Ordner wühlte.

Sie sah auf und grinste, als Doro eintrat. „Du bist auch noch da? Sehr interessant, das gewöhnliche Volk ist ja schon längst ins Wochenende abgehauen.“

„Wieso interessant? Ich gehe jetzt dann auch, ehrlich gesagt.“

„Ja, aber du machst eben vorher deine Arbeit. Lobenswert. Was hast du da?“

„Sagt dir der Name Dennis Hackenreuther etwas?“

„Ach nein – er schon wieder? Was hat er denn jetzt gemacht?“

Doro berichtete und reichte Luise den Verweis. Die kreuzte die Rubrik „verschärft“ an, unterschrieb, kuvertierte den Verweis und reichte ihn zurück. „Leg ihn nebenan im Sekretariat in den Postausgang. Das war der dritte, also hab ich einen verschärften Verweis draus gemacht. Der Kleine steht spätestens Ostern vor dem Disziplinarausschuss, wenn er´s jetzt nicht endlich kapiert."

Bitter, überlegte Doro auf dem Heimweg, wenn man noch so jung und doof war und schon drauf und dran, sich die Schullaufbahn zu versauen. So ein kleiner Idiot!

Aber jetzt war Wochenende… Sie kaufte auf dem Weg nach Hause einige Kleinigkeiten ein und holte sich den MorgenExpress. Zu Hause hängte sie ihren Blazer sorgfältig auf einen Bügel, wobei sie sich unglaublich spießig vorkam. Darüber grinsend betrachtete sie sich dann das Wohnzimmer: alles in Ordnung.

Man konnte vielleicht manche Bücher noch etwas intelligenter anordnen und die Kissen auf dem Bettsofa mal aufschütteln, aber das war schnell erledigt.

Und jetzt? Na gut – Staub wischen, staubsaugen, Küche und Bad aufwischen, eine Ladung Wäsche waschen – nein, das war viel zu wenig. Erst am Sonntag, dann hatte sie auch Bettbezug und Handtücher dazu.

Dann hatte sie jetzt frei?

Sie setzte sich an den Schreibtisch und inspizierte ihren Zeitplaner: tatsächlich!

Na gut, vorbereiten sollte sie schon noch. Aber dafür eignete sich der Samstagmorgen ganz besonders gut. Sie warf ein Stück tiefgefrorenen Fisch und etwas Gemüse mexikanische Art in eine Pfanne, drehte den Herd an und schnappte sich den Staubwedel.

Als sie einmal alles durchgewedelt hatte (boah, war das Ding schon grau - das ging höchstens noch einmal), rüttelte sie die Pfanne und wendete den Fisch, der schon recht gut gebraten aussah, dann schloss sie den Staubsauger an und attackierte Holzboden und Kacheln. Als sie eine versprengte Erbse einsaugte, klackerte es lustig im Rohr, und sie musste wieder lachen. Staubsauger wieder weg, Fisch und Gemüse noch einmal wenden… Mülltüte nach unten tragen.

Sie aß bedächtig und überlegte währenddessen, welche Arbeitsblätter sie morgen herstellen sollte. Und vielleicht ein, zwei Extemporalien…

Und nachher schön lange spazieren gehen! Vielleicht fand sie ja noch einen überzeugenden Blazer, es konnte auch gerne in einem Secondhand-Laden sein. In der Philippinengasse gab es gleich zwei bessere, Tradition und Classics. Und noch einen am Fuggerplatz. Und am Markt alle üblichen Ketten. Natürlich war es fraglich, ob man den gewünschten souveränen Eindruck erweckte, wenn man in einem Billigblazer von H&M herumlief. Ach, warum nicht? Da stand man eben souverän über der allgemeinen Markengeilheit - und ebenso souverän über unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt, leider.

Wenn man solches Billigzeug nicht kaufte, tat man dann etwas für faire Löhne in Bangladesch oder nahm man den Leuten dort auch noch die letzten miesen Jobs?

Schwierig.

Sie spülte den Teller rasch ab und wischte Küche und Bad feucht durch. Am besten ein, zwei echte Harris-Tweed-Blazer für je zehn Euro aus dem Classics!

Unterwegs gab sie endlich das Pfeffer-und-Salz-Teil in der Reinigung ab und wandte sich dann hoffnungsfroh der Philippinengasse zu.

Im Classics hatten sie prompt absolut gar nichts Gescheites und Tradition war freitags geschlossen. Doro spürte, wie ihre Laune sank, aber sie ermahnte sich selbst und stiefelte zum Fuggerplatz. Auch wenn sie nichts fand, der Fußmarsch von Selling in die Innenstadt sorgte doch wenigstens für Bewegung und frische Luft, und jetzt im Herbst roch alles so wunderbar morbide nach Moos und faulendem Laub. Und man konnte durch die Blätter auf dem Boden schlurfen, das raschelte so schön.

Und saute die Schuhe ein.

Egal, sie hatte die Schuhcreme ja wieder gefunden.

Der Laden am Fuggerplatz hatte einen Rollständer vor die Tür gestellt, und Doro klapperte die Bügel rasch durch.

Ach – braun-beiges Pepita? Reine Schurwolle? Größe 38? 15 Euro?? Sie hängte sich das Prachtstück schon einmal über den Arm und wühlte weiter. Dunkelgrauer Tweed mit bunten Einsprengseln, bildschön! Und innen: sattlila Futter, das Logo von Harris und schon wieder Größe 38. Okay, fünfzig Euro – aber so ein Stück war das wert, der war ja unzerstörbar! Solange sie ihre Figur hielt…

Sie hängte ihn zum ersten Fundstück und suchte weiter.

Crème, rosa, pink, eine Art Bouclé? Warum eigentlich nicht… nein, 44. Und der Samtblazer in leuchtendem Rot? Die goldenen Knöpfe waren allerdings entsetzlich. Wenn man die austauschte…

Nein, das machte sie ja dann doch nicht und das Ding hing nur blöd im Schrank. Lieber nicht.

Und der grüne dahinten? Schon ein schönes Stück – allerdings trug sie nie grün, schon gar nicht so einen Olivton. Der passte dann ja zu gar nichts.

Sie trug die beiden Blazer nach drinnen, probierte sie an, fand den Sitz überzeugend und bezahlte sie und ein wunderschönes Seidentuch, dass sie in einer Kiste neben der Kasse gefunden hatte und das nur zehn Euro kostete. 75 Euro und so eine Ausbeute!

Am Markt entdeckte sie im Kaufhaus noch Jeans in einer ganz dunklen Blaufärbung und mit einem sehr hohen Stretchanteil, fast schon Leggings. Die mussten ihre langen, schmalen Beine eigentlich gut zur Geltung bringen.

Und um die Ecke war diese gute, aber günstige Expressreinigung! Dort gab sie die beiden Blazer gleich ab. Morgen um eins. Wenn sie bis dahin alles vorbereitet hatte…

Ach, war das Leben perfekt! Sie schaute sich auf dem Marktplatz um. Renovierte Fassaden, Schaufenster voller Herbstmode, Schuhe, Schmuck, Bücher… Neue, glänzende Autos in den Straßen, gut gekleidete Menschen, klare Luft… alles sah so blank geputzt aus, fast schon unecht. Als bewege man sich in einer Welt aus stark vergrößerten Modelleisenbahnhäuschen…

Ihr ganzes Leben war so blank poliert, fand Doro. Sie war gesund, sah ordentlich aus, hatte eine Businessgarderobe nach dem Vorbild der drei Mädels zusammen, hielt guten Unterricht, machte bestimmt bald Karriere, verdiente genug, besaß sogar ein ganz nettes kleines Depot, hatte eine recht hübsche kleine Wohnung, bekam am Donnerstag eine Schrankwand geliefert und hatte ein praktisch freies Wochenende vor sich. Konnte es denn besser sein?

So, und jetzt würde sie wieder nach Selling laufen und das Seidentuch waschen. Und endlich mal die Zeitung lesen. Oder bei Local One gucken, was die zu berichten hatten. Dass Leisenberg einen eigenen kleinen Lokalsender hatte, hatte sie anfangs eher lächerlich gefunden (dieses Kaff!), aber jetzt hatte sie sich daran gewöhnt. Gut, Local One klang, als gäbe es da eine ganze Senderfamilie, aber vielleicht kam ja wirklich noch etwas nach.

Sobald das Seidentuch über dem Badewannenrand hing und vor sich hin tropfte, warf Doro sich mit dem MorgenExpress und der Fernbedienung auf ihr Bettsofa. Viel war nicht los… sie überflog die Politik: Konnte man etwas für den Unterricht brauchen?

Unruhen im Jemen… konnte man den Arabischen Frühling mit der Französischen Revolution vergleichen? Und wusste man, ob etwas Besseres nachkam? Sie konnte das dem Kurs in der Q 12 vorlegen… diskutieren würden sie bestimmt!

Euro-Rettungsschirm… passte auch, die Idee Europa war ja im weitesten Sinne das Semesterthema.

Kultur… Kinoprogramm – nichts Interessantes. Die Ausstellung in Ludwigskron, vielleicht? Sonntags ein bisschen Bildung? Fotorealismus - sie wusste nicht so genau, was man darunter verstand, aber sie konnte ja nachher nachsehen. Es lebe Wikipedia!

Obwohl, im CineArt: Humphrey, wir lieben dich! Heute Casablanca, morgen Der Malteserfalke, am Montag Der tiefe Schlaf, am Dienstag Wir sind keine Engel. Immer um 18:30. Das konnte sie jeden Tag schaffen. Außer morgen, den Malteserfalken mochte sie nicht so sehr. Aber damit war doch schon für Unterhaltung gesorgt.

Lokalteil… Knatsch im Rathaus – wie immer. Das hatte sie schon mitgekriegt, der Bürgermeister, Dr. Richter, war im Stadtrat nicht unumstritten und wurde immer wieder angefeindet. Doro fand seine Politik eigentlich ganz gelungen, aber es wurde von verschiedenen Seiten dauernd gestänkert.

Im Moment ging es um die Frage, ob der Südring im Süden geschlossen werden sollte. Doro schnaubte beim Lesen: eher unwahrscheinlich! Im Süden, das war das Nobelviertel Leiching. Die waren auf eine Schnellstraße zwischen ihren Villen bestimmt sehr scharf! Und was würde das überhaupt bringen?

Sie angelte nach dem Stadtplan. Leisenberg war zwar eine Kleinstadt, aber so gut kannte sie sich hier auch noch nicht aus. Wo kam man denn hin, wenn man dieses etwa einen Kilometer lange Teilstück schloss?

Eigentlich nirgendwohin. Die Abzweigung nach Rothenwald lag da. Was war Rothenwald? Jedenfalls sah es eher klein aus, von Wald umringt. Lauter Blutbuchen, wahrscheinlich, wegen des Namens. Musste man da schneller hinkommen? Oder wohnten da die Promis?

Quatsch, die saßen ja wohl in Leiching. Oder in Waldstetten; soweit sie mitbekommen hatte, war das auch ziemlich schick.

Doof, so was. In Doro regte sich proletarischer Stolz. Da wohnte sie wirklich tausendmal lieber in Selling, wo die Leute normal waren, wo es alles um die Ecke gab und wo der Stadtring schon vorbei führte.

Sie blätterte um.

Ach ja, die Leiche auf den Bahngleisen. Mittlerweile identifiziert als ein Dominik Lechner, 43. Und ein Respekt einflößender Blutalkoholgehalt - na, dann war das Ganze ja wohl kein Wunder: Am Bahndamm entlang getorkelt, abgerutscht, auf die Gleise gefallen, vom Zug erfasst, aus die Maus.

Der Rest der Zeitung war eher uninteressant. Sie faltete sie zusammen, warf sie ins Altpapier und begann, ihre Schultasche auszuräumen. Dabei fand sie die HOT! von heute Morgen und ärgerte sich kurz über diese Verschwendung.

Na, nachschauen konnte sie ja: Was stand dort über die Bahndammleiche?

Ungefähr das gleiche, nur reißerischer formuliert. Übles Käseblatt. Sollte sie nicht mehr kaufen, nahm sie sich vor.

Tod auf den Gleisen

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