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Montag, 15.10.2012

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Ein schönes Wochenende hatte sie gehabt, zog sie auf dem Weg vom Parkplatz ins Lehrerzimmer Bilanz. All die schönen Filme, die Ausstellung über Fotorealismus, bei der sie sich einen tollen Druck für übers Bettsofa gekauft hatte, viele Arbeitsblätter, ein Korrekturplan und eine sorgfältige Sichtung der letzten Kisten. Wenn am Donnerstag die Schrankwand kam, musste sie sie bloß noch einräumen und alles war perfekt! Naja, und den Keller gescheit einrichten. Aber da taten es wirklich die Metallregale aus dem Baumarkt.

Als sie das Lehrerzimmer betrat, kam ihr als erstes Trattner entgehen, musterte sie verächtlich und ging grußlos vorbei. Was hatte sie diesem Arsch eigentlich getan? Sie konnte ihn ja auch nicht leiden, aber sie war doch wenigstens höflich. Oder?

Sie entdeckte Katja im Gedränge vor dem Vertretungsplan.

„Grüß dich. Sag mal, der Trattner ist echt unhöflich zu mir. Findest du, dass ich meine Abneigung zu deutlich gemacht habe?“

Katja grinste. „Morgen. Nee, der ist bloß sauer, weil er heute gleich zwei Vertretungen reingewürgt gekriegt hat und ich schon wieder nicht mit ihm weggehen will. Der hätte jetzt auch den Eisler mies angeschaut. Wenn er sich trauen würde, der Schleimer, heißt das. Also denk dir nichts.“

„Der tut aber immer so, als sei ich irgendwas Ekliges.“

„Bist du ja auch.“

Doro war sprachlos und Katja kicherte. „Schau, erstens will er nichts von dir, deswegen muss er an dich auch keine Manieren verschwenden - “

„Hat er doch eh nicht“, warf Doro ein.

„-und zweitens trägst du keine Bergstiefel. Wetten, im Winter hast du auch kein zweifarbiges Gesicht vom Skifahren mit Sturmhaube?“

„Bin ich bescheuert?“, empörte Doro sich. „Ich mach mich doch hier nicht zum Affen!“

„Er schon, wart´s ab, wenn die Zugspitze aufmacht. Wenn´s dich im Übrigen tröstet: Er kann Maja, Hilde und Luise genauso wenig leiden wie dich. Er ist nämlich auch ein Frauenfeind. Und Frauen mit Macht, wie Hilde und Luise, sind ganz arg für ihn, da traut er sich nämlich wieder nichts. Zu Maja ist er mindestens so mies wie zu dir.“

„Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich ein Borstenvieh dran wetzt“, erklang es hinter Doro, und sie fuhr herum.

„Hallo, Maja!“

„Ihr redet doch über Luis den Prächtigen?“

„Na, prächtig…?“ Doro zog ein bedenkliches Gesicht.

„Denkt er aber. Na, egal. Der Typ ist einfach unwichtig. Aber zurzeit haben hier doch alle einen Schlag.“

„Ach?“, machte Katja. Maja hob die Hand und zählte an den Fingern ab: „Mendel: Verfolgungswahn und Opfer übelster Ausbeutung. Richling: Eine vernichtete Existenz. Klar, selber schuld. Steinleitner: Wie aus den Fünfzigern übrig geblieben. Das wird doch immer schlimmer! Trattner: unser Bergfex. Uhl: Keiner versteht sie, keiner hat sie lieb.“

„Ist ja auch schwierig“, warf Katja ein.

„Zugegeben. Ederer: Wird immer ekelhafter. Habt ihr gesehen, jetzt versucht er die arme Bittl anzumachen! Lichwitz: Unsere Biobäuerin. Hat sie schon wieder ihren Bauchladen aufgemacht? Na, und so weiter.“

„Das ist doch das Übliche“, wandte Katja ein. „Die spinnen doch alle seit Jahren!“

„Zurzeit nerven sie mich aber besonders“, gab Maja zu. „Vielleicht, weil es kaum nette Neue gibt.“

„Na!“, machte Katja. „Ja, gut, Doro ist okay.“

„Oh, vielen Dank. Du verwöhnst mich“, spottete Doro. „Und jetzt werde ich mich mal in den Unterricht verdrücken, bevor mich die Schmeicheleien noch ganz um den Verstand bringen.“

Andere waren auch okay, überlegte sie auf dem Weg in ihren Geographie-Kurs. Carlos Pütz zum Beispiel. Auch die Fachbetreuer waren eigentlich in Ordnung. Na gut, die gehörten nicht zu den Neuen.

Silvia Merker war neu. Sport und Mathe – aber über die wusste sie eigentlich nichts, sie hatte sie nur bei der Begrüßung gesehen.

Und Markus Winterhoff. Sie wusste nicht einmal, was der überhaupt gab – Chemie und noch was?

Egal. Sie kannte ein paar gute Leute, mehr brauchte sie ja nicht.

Die weiteren Freistunden an diesem Tag waren wenig spannend, keine Dramen spielten sich mehr im Lehrerzimmer ab. Abgesehen von leisem Weinen von Christine Mendel natürlich, aber das war ja nun auch nichts Ungewöhnliches mehr.

Erst auf dem Parkplatz platzte sie in einen Streit zwischen Anke Freisleder und der Uhl. Anscheinend hatte die Freisleder, schusselig wie immer, ihren Kram (eine Staffelei, mehrere großformatige und sehr nachlässig zugebundene Mappen, zwei Paletten, ihre Schultasche, ihre Handtasche, einen Jutebeutel und ein undefinierbares handgewebtes Etwas in verschiedenen Lilatönen) mitten auf den Parkplatz gestellt, um erst einmal in Ruhe ihr Auto aufzuschließen und den vermüllten Kofferraum so weit aufzuräumen, dass die Staffelei hineinpasste.

Die Uhl hatte es offenbar eilig und konnte nicht vorbei, ein Wort gab das andere, und als Doro in Hörweite kam, war man bereits recht persönlich geworden: Bezeichnungen wie „Verspulter Späthippie“ und „elende Spießerin“ flogen hin und her.

Doro erlaubte sich, vorzuschlagen, den Kram einfach etwas beiseite zu räumen, aber das kam gar nicht gut an: „Mischen Sie sich nicht ein! Und wehe, Sie fassen meine Sachen an!“, blaffte die Freisleder, und die Uhl zeterte: „Sie können ja ganz ruhig sein!“ Doro zuckte die Achseln. „Bitte, dann eben nicht!“

Sie konnte allerdings an dem Kunsthaufen auch nicht vorbei, also setzte sie sich ins Auto, betätigte die Zündung und drehte bei offener Fahrertür die Anlage bis zum Anschlag auf. Poison, das passte eigentlich ganz gut. Und es schallte wahrscheinlich durch ganz Leisenberg. Uhl und Freisleder starrten sie wütend an und räumten in schöner Eintracht den Kram beiseite. Doro drehte die Musik leise, kommentierte: „Na, geht doch!“ und fuhr freundlich winkend davon, insgeheim erleichtert, dass der Wagen sie nicht blamiert hatte, in dem er gleich hier den Geist aufgab.

Waren die beiden Zimtzicken jetzt froh oder hassten sie bis an ihr Ende? Schwer zu sagen. Und egal.

Die Freisleder war aber schon eine Marke mit ihrer grauen Wallemähne und diesen Klamotten, die immer wie selbst gewebt und selbst gefärbt aussahen. Und die Mandalas um den Hals! Den Bildern im Kunsttrakt zufolge brachte sie den Schülern auch vor allem Esoterisches nahe. Warum auch nicht – von den anderen Kollegen tat das ja wohl keiner.

Sie besorgte ein paar Kleinigkeiten und eine Zeitung und fuhr nach Hause.

Morgen hatte sie den Deutschkurs – Zusammenfassung der Handlung in „Maria Stuart“, Frage nach der Wirkung Marias auf die Männer, Wiederholung der Theorie von der schönen Seele, Analyseübung eines Szenenausschnitts…

Neunte Deutsch: Lektürestart – Der Herr der Fliegen. Das war hier so üblich, auch wenn sie den Roman nicht mochte. Zwölfte Geschichte – wo hatte sie das Ex hingelegt? Die würden morgen hoffentlich so richtig absahnen!

Und am Nachmittag die Exkursion zur MVG in München.

Und dann nur noch zwei Tage, bis die Schrankwand kam, herrlich!

Sie tippte, sortierte, heftete ab und packte alles Nötige in ihre Tasche, trug die heute erbeuteten Noten ein und sortierte die Wäsche, auf die sie am Sonntag keine Lust gehabt hatte. Die schaffte sie noch locker vor dem Kino!

Sie trug den Korb in den Keller, schrieb sich auf die gähnend leere Liste, füllte die Maschine, gab zwei Tabs dazu, knallte die Tür zu und warf klappernd zwei Euro ein. So, erledigt. Um zehn nach vier war die Maschine durch.

Und bis dahin…

Zeitung lesen!

Die Zeitung war langweilig. Außer den ewigen Querelen im Rathaus gab es gar nichts. Die Bahndammleiche kam überhaupt nicht mehr vor, in Leiching gab es einen dubiosen Erpressungsfall – der Artikel war so kryptisch formuliert, dass man nicht wirklich schlau daraus wurde – und in Zolling (wo war das denn? Das musste sie sich bei Gelegenheit mal anschauen) protestierten die Bürger gegen einen neuen Kindergarten.

Blödes Pack, dachte sich Doro und warf die ohnehin recht dünne Zeitung ins Altpapier.

Etwas unbeschäftigt strich sie durch die Wohnung, bis es endlich Zeit war, die Wäsche nach oben zu holen, dann hängte sie alles auf, bügelte kurz darüber, wo es nötig war und war dann wieder ratlos.

Na gut, ein kleiner Spaziergang? Sport war schließlich auch notwendig! Heute mal… ja gut, Zolling! Sie schaute im Stadtplan nach und fuhr los.

Zolling war recht hübsch. Schmale, zum Teil noch gepflasterte Straßen, alte Bäume, stellenweise fast schon historische Reihenhäuser, dann wieder Einzelvillen, nicht protzig, sondern rührend altmodisch… eine nette Gegend!

Als Historikerin konnte sie ja die einzelnen Häuser durchaus einigermaßen sicher datieren, und bei manchen besonders bieder wirkenden Walmdachvillen suchte sie unwillkürlich an der Front nach der Halterung für den Fahnenmast. Für die Hakenkreuzflagge. Gut, aber hätte man die Häuser nach 45 abreißen sollen, wenn sie schon den Bombenkrieg überlebt hatten? Die Fünfziger Jahre hatten ja ohnehin ganz naiv so weiter gebaut – man denke nur an die kleinen Siedlungshäuschen – ob Kriegersiedlung oder Vertriebenenheime, das sah alles ungefähr gleich aus. Von den eher asymmetrischen Gartentoren bei der neueren Variante mal abgesehen.

Und hier konnte man sich die Dreißiger, Vierziger, Fünfziger und Sechziger so richtig vorstellen. Wenn man sich die Autos wegdachte. Und die Frau da drüben, die konzentriert auf ihr Smartphone starrte: böser Anachronismus - und wenn die nicht besser aufpasste, stolperte sie gleich über das historisch unebene Straßenpflaster! Na, wenigstens würde sie weich fallen – die Frau war so breit wie hoch, mindestens. Und in der freien Hand eine brennende Kippe. Direkt schade, dass sie keine dritte Hand mehr hatte, für ein hochprozentiges Fläschchen… Oh – das war die Trautenwolf!

Sie kam näher und blinzelte Doro an. „Ich kenn Sie doch, oder?“

„Dorothea Fiedler“, stellte Doro sich artig vor und schämte sich für ihre gehässigen Gedanken. „Ich bin eine neue Kollegin.“

„Ah, schön. Und Sie wohnen auch hier?“

„Äh – nein, in Selling. Ich gehe hier nur spazieren. Um Leisenberg besser kennen zu lernen.“

„Schade. Hier wohnen einige Kollegen. Ganz praktisch, wenn man sich mal was ausleihen möchte - Frau Bittl, Frau Uhl, Herr Trattner, Herr Ederer, Herr Meidlinger. Aber Selling ist ja auch ganz nett…“ Sie lächelte so breit, dass ihre Augen fast in den Speckfältchen verschwanden.

Doro lächelte etwas falsch zurück. Die Auswahl sprach leider nicht gerade für die Gegend. „Wissen Sie, wo es hier zum Fluss geht?“, fragte sie also, um abzulenken. Gut, dass sie die Existenz dieses Flusses – Bächleins? – dem Stadtplan entnommen hatte! „Aber ja! Ich wohne doch schon dreißig Jahre hier! Da vorne durch den Zolihoweg und dann halb links die Steintreppe hinunter. Und dann sehen Sie schon. Viel Vergnügen noch!“

Doro bedankte sich höflich und folgte den Anweisungen. Eigentlich war die Trautenwolf ganz nett. Sie hatte nur einen unsäglichen Geschmack bei Nachbarn. Doro wäre weggezogen, wenn solches Volk in ihrer Nähe gewohnt hätte!

Auch Quatsch. Sie wusste ja gar nicht, ob nicht noch viel schlimmeres Volk in Selling wohnte. Die Mendel zum Beispiel! Die Lichwitz. Nein, die musste ja wohl irgendwo einen Bienenstock und einen Olivenbaum haben. In Selling eher schwierig.

Oder den Krempel aus dem Italienurlaub mitbringen. Oder ein Ferienhaus haben. Oder… Auf jeden Fall sollte sie besser nachdenken, tadelte Doro sich selbst. Die Freisleder wollte sie auch nicht unbedingt nebenan haben. Seitdem man die Telefonnummern nicht mehr so leicht einer Gegend zuordnen konnte, waren die Adressen gar nicht so einfach herauszufinden. Und eine Adressenliste wurde nicht mehr herausgegeben, weil die E-Mail-Adressen ja im Intranet standen. Wer damit nicht zufrieden war, der machte sich bestimmt verdächtig!

Die arme Bittl, überlegte sie, während sie die Stufen zum Fluss hinunterstieg, der Ederer war doch ohnehin so lästig, und dann wohnte er auch noch in der Nähe? Da fiel ja alles wie „Ich muss leider in die genau entgegen gesetzte Richtung“ komplett weg! Andererseits konnte die Bittl dem widerlichen Schleimer bestimmt ordentlich rausgeben, die war ziemlich tough.

Die Treppe war recht lang, und unten angekommen fand Doro die Szenerie eher enttäuschend – ein schmales Rinnsal zwischen einigen mäßig malerischen Felsen, Bäume mit immerhin dekorativ verfärbtem Laub, eine verrottete Bank, die offenbar zu oft vom Hochwasser betroffen war.

Naja. Die Isar gab ja eigentlich flussmäßig auch nicht so viel her, musste sie als Münchnerin zugestehen. Die schaffte nicht mal ein anständiges Hochwasser, was den ausgedehnten Isarauen zu verdanken war. Sie musste mal fragen, wie das hier zur Zeit der Schneeschmelze ablief! Spaziergänger waren keine zu sehen. Etwas düster, das Ganze.

Doro schlenderte den Fluss entlang nach Westen, bis ein geeigneter Felsen am Wegesrand auftauchte, auf den sie sich setzen konnte. Spitz von unten. Aber doch ein ganz netter Blick. Düster-romantisch. So was wie Jane Eyre könnte man hier drehen, überlegte sie, wenn man auf die ausgedehnte Heidelandschaft verzichten konnte.

Doch sehr spitz und obendrein kalt von unten! Sie stand wieder auf, rieb sich den klammen Hintern und machte sich wieder an den Aufstieg. Beim nächsten Mal konnte sie ja am Mönchensee spazieren gehen, dort war es wirklich schön.

Aber jetzt hatte sie von Zolling schon mal eine Vorstellung.

Die Trautenwolf war aber doch arm dran… die wog bei schätzungsweise 1,60 m bestimmt hundertfünfzig Kilo. Doro dachte kurz selbstzufrieden daran, dass sie bei 1,75 m nur sechzig Kilo auf die Waage brachte.

Sollte man der Trautenwolf eine Diät empfehlen? Oder war das unverschämt?

Auf dem Weg nach Hause sinnierte sie über die Frage und kam zu dem Ergebnis, dass ein Tipp leider wirklich unverschämt wäre. Sie würde sich ja auch für ungebetene Ratschläge herzlich bedanken – siehe Lichwitz.

Was sollte sie heute Abend essen? Die Frage passte so gut zu ihren Gedanken über Diäten (für die Trautenwolf), dass sie an der Ecke Düsseldorfer und Rheinlandstraße richtig zusammenschrak, als jemand sie grüßte. Sie führte mit Vera Zeitz, ihrer Geographie-Fachbetreuerin, ein kurzes Gespräch über die Qualität der Supermärkte in der Gegend, über fair trade und Discounter (die Doro nicht leiden konnte) und verabschiedete sich dann mit den besten Wünschen für einen schönen Feierabend.

Jetzt reichte es aber mit den Kollegen! Nichts wie nach Hause und ab aufs Sofa! Und sie würde einfach diesen Salat essen, den sie heute Mittag gekauft hatte. Morgen hatte sie ja einen langen Tag, also war jetzt Entspannung angesagt! Sie schaute auf die Uhr – oops, Viertel nach sechs? Sie wollte doch ins Kino, The Big Sleep anschauen.

Nein, da drückte sie sich jetzt nicht. Außerdem brauchte man ja auch mal ein bisschen Spannung im Leben, und woher sollte die schon kommen, wenn nicht aus klassischen Kriminalfilmen? Im echten Leben passierte so etwas ja doch nicht. Den Salat konnte sie hinterher immer noch essen.

Tod auf den Gleisen

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