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2. WOHLSTAND UND DER MANGEL AN DANKBARKEIT

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Lukas: Dass man sich zu einem schweren und unabänderlichen Schicksal tapfer tragend und würdig einstellen kann, und dass dies eine beachtliche Sinnkomponente darstellt, ist für unsere Zeitgenossen überraschend genug. Dass man sich zu einem leichten und angenehmen Schicksal es würdigend einstellen kann, ja, dass es angemessen ist, sich an Erfreulichem zu erfreuen, klingt schon fast wie eine Farce. „Na logisch“, schreit der Verstand, und dennoch scheint es einer erheblichen Intelligenzakrobatik zu bedürfen, eine solche Würdigung zu vollziehen. Korrespondenten aus allen Erdteilen präsentieren uns Bilder des Grauens aus Hunger- und Kriegsländern, von Flucht, Vertreibung, Unterdrückung und Aussichtslosigkeit am laufenden Band, aber der „logische“ Abgleich mit unseren hiesigen selbst in Pandemiezeiten noch paradiesischen Bedingungen fällt aus. Im Gegenteil: Die Zahlen der seelisch angeknacksten und Therapie benötigenden Personen in unserem Kulturkreis steigen. Die Zufriedenheit sinkt.

Batthyány: … und das wirft zugleich die Frage auf: Woran mag das liegen und wie ist das möglich? Wie kann mitten im Wohlstand – und für viele Menschen auch mitten im Überfluss – und in so starkem Kontrast zu anderen, nämlich viel entbehrungsreicheren Zeiten und Landstrichen, Undankbarkeit so epidemisch werden?

Lukas: Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich einfach zu alt und zu sehr Kriegskind, um das zu verstehen. Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt, ist, dass positive Lebensbedingungen als solche überhaupt erst erkannt werden müssen. Ich habe unzählige Patienten gehabt, die (zu Recht) unglücklich waren – aber gewiss auch eine nicht zählbare Schar an Patienten, die nicht wussten, dass sie glücklich waren bzw. glücklich hätten sein können. Sie waren nicht imstande, ihre Lebensumstände als milde und schonend zu taxieren. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen in ihrer Vergangenheit erspart geblieben war. Sie hatten keinen Schimmer, wie prächtig ihre Zukunftsoptionen aussahen. Sie waren für all das Gute rund um ihre Person mit völliger Ignoranz geschlagen. Dann kamen sie daher und meckerten über Banalitäten …

Für sie habe ich einen drastischen Therapieplan entworfen6. Ich ging daran, ihnen ein schlimmes Schicksal im Konjunktiv auszufantasieren. Eine junge, von Nichtigkeiten genervte Mutter wurde angeleitet sich vorzustellen, sie sei mit ihrem kleinen Sohn gerade auf der Fahrt zu einer Klinik, wo der Bub einer Herzoperation unterzogen werden müsse. Wie würde sich ihre Lage anfühlen? Ein junger quengeliger Mann wurde aufgefordert zu imaginieren, dass er soeben einen Einberufungsbefehl in ein Kampfgebiet erhalten habe. Er müsse sich als Soldat von seinen Lieben verabschieden. Einen wohlhabenden und entsprechend mürrischen Arzt ließ ich die Vision durchleiden, ihm sei vor Jahren ein gravierender Kunstfehler unterlaufen, der ihn jetzt erschreckend einhole. Es war faszinierend zu erleben, wie froh die Patienten plötzlich aufatmeten, dass diese Fantasien im Konjunktiv nicht die Realität widerspiegelten. Und wie gefasst und gelassen sie daraufhin ihre Realität annahmen.

Ist diese Methode brutal? Ich möchte die Frage verneinen. Manchmal müssen Menschen bis in ihr Innerstes aufgerüttelt werden, um ihre Grundeinstellungen neu zu überdenken. Manchmal sind es auch Erschütterungen, die das Leben selbst ihnen verpasst, auf Grund derer sie ihre Haltung radikal revidieren. Im Prinzip muss es niemandem gut gehen. Nirgends in der ganzen belebten Natur ist verankert, dass Pflanzen, Tiere oder Menschen unbehelligt ihr Dasein fristen können. Dahinwelken und Schmerzempfinden sind allgegenwärtig. Der Tod lauert überall. Was uns davon wie lange erspart bleibt, ist pures Göttergeschenk. Das zu wissen, ist das größte Geschenk!

In einer Industriegesellschaft wie der Unsrigen müssen wir höllisch aufpassen, Glück nicht mit dem Besitz von Konsumgütern zu verwechseln. Freilich will die Industrie die Waren, die sie erzeugt, verkaufen und muss zu diesem Zweck das Bedürfnis nach ihren Waren ständig anheizen. Zufriedene Menschen geben aus ihrer Sicht zu wenig Geld aus. Allerdings gäbe es dazu eine Sinn-Alternative, nämlich die Verwirklichung von „generalisierten Einstellungswerten“. Mit ihnen ist ja nicht nur eine „das Positive würdigende“ Einstellung gemeint, sondern auch eine samariterhafte Einstellung. Austeilen kann nur derjenige, der Besitztümer hat. Helfen kann nur derjenige, der Hilfsmittel hat. Letztlich bedeutet das Gutgehen nicht bloß Anlass zur Freude, sondern auch Anlass, sich um das Schlechtgehende zu kümmern.

Zufriedene Menschen geben zu wenig Geld aus? Sie brauchen es „zu ihrem Glück“ nicht für überflüssige, dem Begehren einsuggerierte Waren auszugeben, daher könnten sie es für ihre Mitmenschen ausgeben, speziell für diejenigen, die weniger Grund zur Zufriedenheit haben. Frankl war weise, als er davon sprach, dass den „Einstellungswerten“ die Superiorität zukommt. Sie evozieren menschliche Höchstleistungen. Ergänzen möchte ich, dass auch die „generalisierten Einstellungswerte“ zu menschlichen Höchstleistungen einladen. In einer Welt, in der die jeweiligen Glückspilze den jeweiligen Unglücksraben liebevoll ihre Hände entgegenstrecken würden, ließe sich für alle gut leben.

Logotherapie und Existenzanalyse heute

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