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Kapitel 8
ОглавлениеMontag, der 08. August
Karla stand im Gang des Zuges und drückte ihre Nase an die Scheibe, als der Zug quietschend und schnaubend in den Hauptbahnhof einfuhr. Mit einem Zischen kam er zum Stehen, so als wäre auch er froh, bei dieser Hitze endlich sein Ziel erreicht zu haben, ähnlich wie die Passagiere, die er bis hier hin befördert hatte.
Da, da war er. Zacharias Weinfeld. Ihr Kollege für die nächsten Wochen. Abschnitt C, wie vereinbart. Karlas Abteil war an der Abschnittstafel vorbei geglitten. Sie hatte noch gewunken, aber er hatte sie nicht gesehen. Also würde sie, wenn sie ausgestiegen war, ein Stück auf dem Bahnsteig zurückgehen müssen. Karla schnappte sich ihren Koffer und ging zum nächsten Ausstieg. Sie reihte sich in die Schlange der Leute ein, deren rote, in Schweiß gebadete Gesichter nur noch eins zu sagen schienen: Bloß raus hier!
Als sie endlich auf dem Bahnsteig stand schlug sie sich durch den Strom der ihr entgegen kommenden Menschenmassen zurück zum Abschnitt C, wo sie Zacharias von weitem sehen konnte. Die Luft war unglaublich stickig, fast unerträglich.
Er stand immer noch unter dem Schild, drehte ihr den Rücken zu und reckte seinen Kopf in Richtung der hinteren Abteile, wo er sie wahrscheinlich vermutete. Als sie endlich bei ihm angekommen war, musterte sie ihn ein paar Sekunden, wie er so da stand, die Haare nach hinten gekämmt, in seiner typischen Körperhaltung und zu ihrer Überraschung mal nicht mit Hemd und Krawatte bekleidet, sondern tatsächlich, sie konnte es kaum glauben, in einem T-Shirt. Lässig geschnitten zwar, aber dann doch mit einem ordentlichen Polokragen. Sie musste grinsen und tippte ihm auf die Schulter. Irgendwie hatte sie ihn vermisst. Das merkte sie in diesem Augenblick. Nun würden sie mal wieder zusammen arbeiten und sie freute sich ehrlich darauf.
Er drehte sich herum und sein Gesicht strahlte. Er sah gut aus. Die Ehe schien ihm zu bekommen, dachte Karla.
„Mensch, Karla!” Für eine Sekunde sah es so aus, als wollte er sie umarmen, aber dann reichte er ihr herzlich die Hand und drückte die andere Hand auf ihre Schulter. „Ich freue mich, dass du da bist. Wie war die Fahrt?” Er nahm ihr den Koffer ab und Karla stöhnte. „Zu lang, zu heiß, zu voll. Such dir was aus.”
Er lächelte.
„Und wie geht’s dir? Was macht der Fall?”, fragte sie, während sich beide in den Menschenfluß einreihten und zur Treppe strebten.
„Einige ihrer Kunden haben wir schon angehört.”
„Sind es viele?”
„So um die fünfzig.”
„Oh!” Sie sah ihn erstaunt an.
„Wir müssen sie alle befragen. Aber wir konzentrieren uns erst mal auf die, die am häufigsten bei ihr waren.”
„Eher ältere Leute?”
„Nein, auch, natürlich. Aber die Kunden von Frau Patricia Bahran kommen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten.” Zacharias sah sich um, und versuchte, nicht zu laut zu sprechen. Schließlich war der Mord hier in der Stadt immer noch ein großes Gesprächsthema. „Junge, Alte, Arme und Reiche. Alle waren da.”
„Wie hieß sie denn mit richtigem Namen?”
Zacharias sah Karla fragend an: „Wie meinst du das?”
„Na, ich meine, Patricia Bahran. Das ist doch ein Künstlername. Übrigens wie geschaffen für eine Geistheilerin, wenn du mich fragst.” Sie blickte in das verwirrte Gesicht des Kollegen. „Etwa nicht? Sie hieß wirklich so?”
Er nickte. „Ja, das war ihr richtiger Name. Ohne Zweifel.”
„Aha, na dann. Aber du musst zugeben, dass der Name wirklich wie aus einem kitschigen Arztroman klingt!”
War es in den unterirdischen Gängen, die zu den Gleisen führten, noch halbwegs erträglich gewesen, so schlug ihnen jetzt die Hitze mit aller Wucht entgegen, als sie den Bahnhof durch den Haupteingang verließen. Dazu wehte ein heißer Wind, als hätte jemand einen überdimensionalen Fön angestellt. Karla wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das ist ja fürchterlich!”, stöhnte sie. „Ich hoffe, dein Auto hat Klimaanlage.”
Er räusperte sich. „Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen. Ich bin nicht mit dem Auto hier. Weißt du, so weit ist es nicht bis zum Kommissariat.” Karla blickte ihn entsetzt an. „Wir sind schneller, wenn wir die Straßenbahn nehmen, ehrlich.”, fügte er hinzu.
Sie rollte mit den Augen. „Wenn es unbedingt sein muss.” Karla hasste öffentliche Verkehrsmittel, aber sie sah auch ein, dass man mit dem Auto in der Stadt wahrscheinlich länger für eine kurze Strecke brauchte, und so auch unter Umständen länger in der Hitze festsaß.
Sie gingen die paar Meter bis zur nächsten Straßenbahn Station.
„Ich habe mir extra noch eine neue Kamera gekauft. Wollte ein paar Bilder von den Touristensehenswürdigkeiten machen, falls es die Zeit erlaubt.”
„Gute Idee. Du kannst mir die Kamera mal zeigen. Für gute Fotos bin ich auch immer zu haben.”
„Die ist nichts besonders.” Sie lachte. „War ein Sonderangebot in einem Discounter.”
Zacharias zog zwei Tickets am Automaten und als nach fünf Minuten die nächste Bahn kam, stiegen sie ein. Die Straßenbahn war voll besetzt mit vor sich hin schwitzenden Menschen in Sonnentops und kurzen Hosen. Nachdem er Karlas schweren Koffer vor sich her geschoben hatte, stellte sich Zacharias in den Mittelgang, während sich Karla noch nach einem Sitzplatz umsah. Vergebens.
„Verdammt voll hier.”, bemerkte sie, als sie sich zu ihm gesellte. „Und verdammt heiß.”
„Ja, aber es dauert nicht lange. Ungefähr zwanzig Minuten. Oder willst du zuerst zu deinen Verwandten?”
„Nein, nein. Ich brenne darauf, mir die Unterlagen zu dem Fall anzusehen. Außerdem ist dort zu dieser Uhrzeit keiner da. Heute Abend werde ich mir ein Taxi nehmen und so lange stelle ich den Koffer im Präsidium ab.”
„Klar, kannst du machen.”
Sie waren schon einige Zeit gefahren und die Straßenbahn hatte an mehreren Stationen gehalten. Etliche Menschen waren ausgestiegen, aber mindestens genauso viele wieder eingestiegen.
„Hör mal, wenn wir gleich da sind, werde ich dir als erstes den Kollegen Steffen Döber vorstellen.”
„Mmm!”, machte Karla. Und Zacharias redete weiter. „Er ist ein bisschen eigen, musst du wissen, aber wenn ihr etwas länger zusammen arbeitet, werdet ihr euch bestimmt gut verstehen, da bin ich mir sicher.”
„Ja.”, antwortete sie nur und schaute nach vorne. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt und sie hörte nicht mehr genau hin, als Zacharias munter weiter plauderte.
„Es ist ihm immer wichtig, dass er das Gefühl hat, einbezogen zu werden, darauf legt er Wert.”
Zacharias schaute nach draußen. Die Bahn hatte jetzt ein höheres Tempo erreicht. „Es dauert nicht mehr lange.”, sagte er zu Karla. „Ich glaube, es sind noch vier Stationen.”
„Ja.”, antwortete sie gedehnt. Als er zu ihr sah, bemerkte er, dass sie mit ihren Gedanken ganz wo anders zu sein schien. Ihr Blick war starr und sie blickte angestrengt in den vorderen Gang.
„Karla?”
„Das Mädchen!”, sagte sie und nickte in Richtung der vorderen Sitzplätze in der Bahn.
Verwirrt folgte er ihren Blicken und versuchte zu verstehen, was sie meinte. Etwas stimmte hier nicht.
„Was für ein Mädchen?”
„Die Kleine da vorne, in der dritten Reihe.”
Er sah den Rücken eines schmalen Kindes, mit langen schwarzen Haaren. Neben dem Sitzplatz standen zwei Jugendliche, die sich zu dem Mädchen herunterbeugten und mit ihr sprachen. Neben dem Kind saß eine ältere Frau, die den Kopf nach links gedreht hatte und angestrengt aus dem Fenster blickte.
„Kennst du sie?”, fragte er Karla, obwohl er sich das nicht vorstellen konnte.
„Da ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung!”
„Was meinst du denn?”
„Ich meine die Jugendlichen. Es ist etwas in ihren Blicken und Gesten.”
„Die scheinen sie zu kennen.”
Karla schüttelte heftig mit dem Kopf.
„Was soll da sein, Karla? Ich meine, das sind zwei Jugendliche, die mit einem Mädchen sprechen. Ich weiß nicht, was daran ungewöhnlich sein soll?”
Aber sie hatte einfach ihren Koffer stehen lassen und hatte sich bereits durch den Gang nach vorne gekämpft. Einen Schritt vor den Jugendlichen blieb sie stehen.
Ihr feines Gespür hatte sie auch diesmal nicht getäuscht.
„Oh.”, dröhnte der eine, eindeutig der Wortführer der beiden, ein brutal aussehender, pickliger Typ. „Hat dich Mutti heute wieder schick gemacht?” Er zerrte an dem roten Band im Haar des Mädchens, das ängstlich nach unten blickte. Sein Kumpel stand grinsend daneben. Er hielt sich noch zurück. Aber gleich würde sicher auch sein Einsatz kommen. „Schau doch nur, unser kleines Püppchen.”, ereiferte sich erneut der andere. „Sind wir noch ein bisschen schüchtern? Das werden wir gleich mal ändern!” Er grapschte an den Kopf des Mädchens und zerrte rücksichtslos an ihren Haaren. Jetzt lachte auch der andere aus vollem Halse.
Karla trat einen Schritt vor. „Wie lange muss du noch fahren?”, fragte sie das Mädchen, das sich daraufhin mit einem Blick zu ihr herumdrehte, der zwischen ungläubigem Hoffen und nackter Angst lag. Karla schätzte, dass sie neun bis zehn Jahre alt war.
„Was mischt du dich ein, blöde Kuh?”, schrie der Typ bevor das Mädchen antworten konnte.
Karla versuchte ruhig zu bleiben. „Ich spreche mit dem Mädchen. Sag, wann kommt deine Haltestelle?”, fragte sie erneut und beugte sich beschützend über ihren Rücken.
Leise und mit piepsiger Stimme antwortete sie. „Nur noch zwei Haltestellen!”
„Ach, dann bist du bald da.”
„Ich habe gesagt, dass du die Schnauze halten sollst.” Die Miene des Jugendlichen war vor Wut verzerrt. Er hatte für sein junges Alter ein unglaublich verlebtes Gesicht. Und er roch ekelhaft nach Alkohol.
„Ich rede mit dem Mädchen.”, wiederholte Karla.
Jetzt sagte der andere auch etwas. „Na, die traut sich was!”
„Halt dein Maul. Mit der werde ich schon fertig. Ich frag dich noch mal, was du dich einmischt, sieh zu, dass du verschwindest, sonst gibst eins auf die Fresse.”, schnauzte er und versuchte Karla mit seinem Körper rücksichtslos zur Seite zu schieben.
Zacharias verfolgte die Szene. Zeit einzugreifen, beschloss er und hoffte inständig dass niemand in der Zwischenzeit mit Karlas Koffer aussteigen würde.
Eilig versuchte er ein paar gaffende Leute zur Seite zu schieben, was ihm nicht sofort gelang. Vorne sah er mit Schrecken, dass der eine Karla heftig gegen die Schulter schubste, und er meinte, etwas aufblitzen zu sehen.
„Zur Seite!”, schrie er jetzt brüllend die Menschen vor sich an und diese machten endlich Platz. Weiter vorne zog der Jugendliche ein Messer.
Die Menschen in der Straßenbahn schrien auf, lediglich die Frau, die neben dem Mädchen saß, schaute immer noch ungerührt aus dem Fenster.
Dem anderen Jugendlichen wurde die Sache wohl ein wenig zu heiß und er trat ein paar Schritte zurück. Vielleicht wollte er aber auch nur einen besseren Blick auf das Geschehen haben, denn in seinem Gesicht lag immer noch ein spöttisches Grinsen. Der Fahrer der Straßenbahn verringerte nur etwas die Geschwindigkeit, machte ansonsten nicht den geringsten Versuch, irgendetwas zu unternehmen.
Die Bahn legte sich in eine Kurve und rumpelte über die alten Schienen.
Zu seinem Entsetzten sah Zacharias Karla mit dem Jugendlichen kämpfen.
In dem Moment, als er sich endlich bis zu ihr durchgeschlagen hatte schlug der Bursche mit einem krachenden Geräusch der Länge nach auf den Boden. Sein Kumpel wurde blass. Die Straßenbahn hielt und er nutzte die Gelegenheit und machte sich feige durch die vorne geöffnete Tür aus dem Staub, ohne auch nur noch einen Blick zurück auf seinen miesen Freund zu werfen.
„Mensch, Karla!”, japste Zacharias. Der Junge lag vor ihm im Gang in einer Art Schockstarre. Erst jetzt sah er, dass Karla einen Fuß auf dem Brustkorb des Jugendlichen platziert hatte und ihn so am Boden hielt, ganz wie ein Großwildjäger, der einen Löwen erlegt hatte. Ihre spitzen Absätze schienen sich regelrecht in den Oberkörper des Jugendlichen zu bohren. Jetzt, da die Gefahr fürs erste vorbei zu sein schien, trauten sich die anderen Fahrgäste einen Blick auf den am Boden Liegenden zu werfen. Äußerlich völlig ruhig und sogar ein wenig lächelnd streichelte Karla über das schwarze, glänzende Haar des Mädchens. „Alles unter Kontrolle, nicht wahr Kleine?” Das Mädchen schaute zu ihr hinauf, wie zu einer Heldin und nickte heftig.
„Der Typ hatte ein Messer dabei!”
„Ja, hab ich gesehen. Wo ist das jetzt?”, antwortete Zacharias und konnte kaum glauben, was hier geschah.
„Unter irgend einem der Sitze. Ich hab es ihm aus der Hand geschlagen.”
Er lächelte erleichtert. „Ihr scheint mächtig in Form zu sein, auf dem Lande.”
Der Jugendliche stöhnte auf, und versuchte, sich schimpfend aufzurichten. Karla drückte ihn erneut mit ihrem Fuß runter und zog einen Fotoapparat aus ihrer Handtasche. Während Zacharias ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase hielt, drückte Karla auf den Auslöser.
Die Straßenbahn hielt erneut. Die Frau neben dem Mädchen stand auf und quetschte sich wortlos mit gesengtem Blick an ihnen vorbei in Richtung Ausgang.
Karla konnte nicht anders. „Vielen Dank für ihre Hilfe!”, schrie sie ihr laut hinterher.
Die anderen Fahrgäste schauten beschämt zu Boden.
Zacharias wies den Fahrer an, noch einen Moment zu warten, was dieser genervt befolgte. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihn zu ermahnen, dachte Zacharias, wahrscheinlich erlebte er solche Situationen öfter, und warum das eigene Leben für andere riskieren.
„Lass ihn aufstehen, Karla.”, sagte er zu seiner Kollegin. Der Kerl rappelte sich nach oben. Wahrscheinlich noch keine sechzehn Jahre alt, schätzte Zacharias. Jetzt stöhnte er, weil ihm alle Knochen wehtaten. Geschah ihm nur recht.
„Verdammt, wahrscheinlich habe ich mir was gebrochen.”, jammerte er weinerlich.
„Pass auf, du Idiot!”, sagte Karla zu ihm und fixierte ihn mit einem undurchschaubaren Blick. Sie strich ihm mit spitzen Fingern über die Schulter, so als wollte sie, wie in einem Westernfilm, ein paar Staubkrümel von seinen Sachen fegen. Der Typ versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Die Sache musste für ihn ungeheuer demütigend sein.
Nieder gerafft durch einen simplen Abwehrgriff der Polizei. Noch dazu von einer Frau.
„Ich habe ein Foto von dir gemacht. Sollten wir dich in den nächsten Tagen noch einmal irgendwo antreffen, nehmen wir dich mit und stecken dich für vierundzwanzig Stunden in die JVA. Da gibt’s ganz nette Jungs. Wirst sehen, die Zeit vergeht dort wie im Flug.”
„Verstanden?” fragte Zacharias.
Der Kerl nickte mit leicht zitterndem Blick und wagte kein Wort mehr zu sagen.
Zacharias packte ihn am Kragen und schob ihn zur Tür. „Und jetzt raus hier. Wenn du deinen feigen Kumpel suchst, der ist schon an der letzten Haltestelle abgehauen.” Der Jugendliche stolperte nach draußen und sah zu, dass er schnellstens um die nächste Häuserecke aus ihrem Blickfeld verschwand. Die Türen schlossen sich. Und jetzt klatschten tatsächlich die Fahrgäste erleichtert Beifall.
„Wir sind von der Polizei, alles in Ordnung!” Zacharias sprach laut und deutlich und hielt noch einmal, für alle Fahrgäste sichtbar, seinen Ausweis in die Höhe. In der dritten Reihe stand eine junge Frau auf. Sie trug trotz der enormen Hitze einen dieser Schlapphüte, die in den Siebzigern modern waren und unverständlicherweise in der heutigen Mode wieder auftauchten. Scheu reichte sie dem Kommissar das Messer, das sie unter ihrem Sitz gefunden hatte, ein ziemlich gefährlich aussehendes Teil, das Karla zum Verhängnis hätte werden können, dachte Zacharias voller Sorge.
Er steckte das Messer ein und ging zu Karla, die neben dem Mädchen Platz genommen hatte. Sie hatte einen Arm um die noch immer vor Angst zitternden Schultern des Kindes gelegt.
„Alles in Ordnung?”, fragte Zacharias.
„Ja, das hier ist Nadine.”, antwortete Karla. Zacharias nickte dem Mädchen aufmunternd zu. „Nett, dich kennen zu lernen, Nadine.” Die Kleine lächelte schüchtern zurück.
„Nadine hat mir erzählt, dass sie an der nächsten Haltestelle von ihrer Mutter abgeholt wird. So lange bleiben wir bei dir, versprochen. Und hab keine Angst. Dieser Typ wird dich nie wieder ansprechen, das weiß ich genau.”
Als er den Fotoapparat sah, den Karla immer noch in ihrer Hand hielt beugte sich Zacharias zu den beiden. „Ist das deine neue Kamera, von der du mir erzählt hast? Die preiswerte aus dem Discounter?”, fragte er amüsiert.
Karla nickte. „Ja!”
„Entschuldige die Frage.”, drückte er sich umständlich aus. „Aber wolltest du damit nicht Sehenswürdigkeiten fotografieren?”
Sie lachte und das Mädchen sah bewundernd zu ihr rauf. „Klar, den Dom hab ich auch schon drauf.”
„Mann, ihr habt euch aber Zeit gelassen!” Das war der erste Satz, den Steffen Döber aussprach, als sie das Polizeipräsidium endlich erreicht hatten.
Zacharias stellte den schweren Koffer ab. „Die Frau Albrecht musste sich erst noch um ein paar Ganoven kümmern?”
„Was?”, fragte Steffen irritiert und zog die Stirn kraus.
Zacharias winkte ab, als Karla hinter ihm den Raum betrat. „Erzähl ich dir später. Das hier ist Karla Albrecht, unsere Kollegin für die nächsten Wochen, Karla, darf ich dir Steffen Döber vorstellen?”
Er stand in der Mitte, als sich beide zögerlich die Hand reichten. Mit erstauntem Blick bemerkte Zacharias, dass Steffen sich rasiert hatte, was er sonst nie tat. Er war immer der Meinung, dass sein Dreitagebart männlich aussah, eine Tatsache, die Zacharias ihm immer auszureden versuchte. Meistens ohne Erfolg. Er selbst konnte sich nicht vorstellen, morgens unrasiert das Haus zu verlassen.
„Freut mich, Sie kennen zu lernen.”, sagte Karla und setzte ein verschwitztes Lächeln auf. Steffen nickte nur, während seine Augen wagten, einen Blick auf Karlas großen Busen in einem, zugegeben, sehr engem T-Shirt, zu werfen.
„So!”, versuchte Zacharias das Schweigen zu unterbrechen. „Pass auf, Karla, wir haben dir hier einen Schreibtisch freigemacht, der entsprechende Kollege ist krank. Du kannst dich da ausbreiten.” Er ging zu dem Schreibtisch und nahm ein paar Akten an sich, die jemand eilig auf den Tisch geworfen hatte.
„Hören die schon zu dem Fall?”, fragte Karla. Als Zacharias dicht neben ihr stand und den Computer einschaltete, nickte sie fast unmerklich in Richtung Steffen, der am anderen Ende des Raumes an seinem Schreibtisch saß und sich schon wieder in die Mappen, die sich dort stapelten, vertieft hatte. Jedenfalls tat er so.
„Bist du dir sicher, dass es ihm nichts ausmacht, wenn ich diesen Schreibtisch benutzten würde. Ich meine ich kann auch woanders…!", flüsterte sie.
„Nein, nein, das hier ist dein Schreibtisch. Das habe ich so beschlossen und Punkt. Aber die Akten, die hier lagen gehören nicht zu dem Fall. Keine Ahnung, wer die dort hingelegt hat.”
„Habt ihr denn noch andere Mordfälle zu bearbeiten?”
„Im Moment Gott sei Dank nicht. Anscheinend ist es den Mördern auch zu heiß und sie bleiben lieber zu Hause.”, antwortete er und lächelte. „Aber das kann sich ja bekanntlich sehr schnell ändern.”
„Habt ihr schon Leute vernommen?”
„Ein paar. Eine Frau, die ziemlich oft bei Frau Bahran war, ist schon hier gewesen. Ich hole dir gleich das Protokoll. Außerdem haben wir bereits über zwanzig angerufen, die nur ein einziges Mal oder nur wenige Male bei ihr waren. Das hat aber bis jetzt nichts gebracht. Mit den anderen wollte ich warten, bis du da bist.”
Sie grinste. „Oh, das ehrt mich aber sehr. Und ihr seid fest davon überzeugt, dass es einer ihrer Kunden war, der sie umgebracht hat?”
Zögerlich erwiderte er. „Na, ja. Kann man im Moment noch nicht wirklich sagen. Aber sie hatte sonst keine Kontakte und keine Verwandte. Außer ihrer Schwester. Die ist Freitag angereist. Wir haben schon mit ihr gesprochen. Viel Kontakt hatten die beiden nicht. Waren wohl zu unterschiedlich. Behauptet die Schwester jedenfalls. Trotzdem war sie ehrlich betroffen vom Tod ihrer Schwester. Sie selbst ist verheiratet, hat drei Kinder, führt ein völlig anderes Leben wie Frau Bahran und ich glaube, so richtig konnte sie mit der Berufung ihrer Schwester, als Geistheilerin, nichts anfangen.”
Nachdenklich rieb sich Karla das Kinn. „Also, ich wäre auch skeptisch, wenn einer aus meinem näheren Umfeld so etwas anbieten würde. Außerdem gibt’s verdammt viele schwarze Schafe auf dem so genannten Isotherikmarkt. Vielleicht war es ja auch ganz anders, und der Mörder ist jemand völlig Fremdes. Oder ein Nachbar. Ein früherer Bekannter. Keine Ahnung. Oder ein Raubmord? Ein überraschter Einbrecher.”
Zacharias schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Nein, auf keinen Fall. Wir sind mit der Haushälterin noch mal alles durchgegangen. Es fehlt nichts. Aber du hast Recht, es muss nicht zwingend einer ihrer Kunden gewesen sein. Wir müssen einfach in alle Richtungen ermitteln. Zuerst wollen wir uns auf alle die konzentrieren, die Frau Bahran sehr häufig besucht haben. Das sind ungefähr zehn. Wenn du willst, können wir einige auch zu Hause besuchen.”
Sie nickte. „Im privaten Umfeld geben die Menschen immer mehr von sich preis.”
„Es gibt auch noch eine ganz wichtige Spur, die belegt, dass der Mord kein Raubmord war, sondern wahrscheinlich ein persönliches Motiv zugrunde liegt.”
Zacharias reichte Karla eines der vergrößerten Tatortfotos und eine zusätzliche Lupe. Angestrengt sah sich Karla das Bild eine Weile an. „Was steht hier? Das Wort Nein?“
Er nickte.
„Was hat das zu bedeuten?”
Zacharias zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber es muss jemand geschrieben haben, der in einer sehr persönlichen Verbindung zum Opfer stand.”
„Ja.”, gab Karla ihm Recht. „Es klingt fast wie ein Hilferuf. So als wollte jemand unbedingt etwas abwehren. Aber was nur?” Sie sah sich das Bild erneut an. „Ist das Blut? Die rote Farbe?” Sie schlug erschüttert eine Hand vor der Mund. „Hat das der Mörder mit Blut geschrieben?”
„Ja, es ist das Blut seines Opfers.”
„Gruselig! Übrigens, wäre es möglich, dass ich mir die Leiche ansehen könnte?”
„Ja, natürlich. Am besten morgen früh. Lass uns jetzt einfach an die Arbeit gehen. Für heute Nachmittag habe ich übrigens noch einmal die Haushälterin herbestellt. Gertrud Häberlein. Eine treue Seele, die seit Jahren für Frau Bahran gearbeitet hat.”
„Hast du nicht erzählt, dass sie die Leiche gefunden hat?”
„Richtig, und ich glaube, den Schock hat sie immer noch nicht überwunden.”
Karla betrachtete die restlichen Bilder vom Tatort. „Kein Wunder, bei dem vielen Blut!”, bemerkte sie. „Also los, worauf warten wir noch? Fangen wir an.”