Читать книгу Der Fall Bahran - Elke Maria Pape - Страница 9
Kapitel 6
ОглавлениеFreitag, der 05. August
Das braune Notizbuch hatte Frau Bahran unter einem Haufen spitzenbesetzter Unterwäsche versteckt, wo es die Spurensicherung beim Durchsuchen des Hauses gefunden hatte.
Es enthielt Namen und Telefonnummern ihrer Kunden. In einem anliegenden Terminkalender fand man diese Namen wieder. Einige nur ein einziges Mal, andere tauchten im Wechsel der Wochen immer wieder auf, einige wenige sogar mehrmals die Woche, was Zacharias und seinen Kollegen doch sehr erstaunte.
Dass es Menschen gab, die anscheinend so viel Wert auf die Meinung einer Geistheilerin legten, dass das Ganze fast auf eine Art Abhängigkeit schließen ließ. Aber sie wollten nicht voreilig urteilen. Zacharias hatte sich entschlossen, die erste Kundin schon heute, Freitag, auf das Revier zu bestellen, auch wenn Karla noch nicht da war. Er musste zugeben, dass er ansonsten großen Wert auf das Urteil Karlas legte und dass er äußerst gespannt darauf war, was sie zu der ganzen Geschichte sagen würde.
Hoffentlich verlief die Zusammenarbeit mit Steffen einigermaßen reibungslos, hoffte er. Sein Kollege neigte zu unwirschem Verhalten, wenn seine Kompetenzen beschnitten wurden.
Er erkannte die Frau, die zögernden Schrittes ins Büro trat, sofort wieder. Zweiundvierzig Jahre alt, laut seinen Unterlagen. Montagmorgen am Tatort war sie nicht mehr Herr ihrer Lage gewesen, hatte getobt, geschrien und geweint, bis ein Pfarrer sich um sie gekümmert hatte. Jetzt wirkte sie erschöpft und schüchtern. Ihre Haut war trotz der anhaltenden Hitze blass, als hätte sie sich wochenlang nur im Haus aufgehalten. Zacharias nickte ihr zu. „Frau Vollmer, Mareike Vollmer?”
Sie nickte und verschränkte ihre Arme vor ihrem Körper.
„Bitte nehmen Sie doch Platz. Mein Name ist Zacharias Weinfeld.” Er rückte einen Stuhl an seinen Schreibtisch und sah zu Steffen.
Der verstand. „Ich lasse Sie dann mit meinem Kollegen allein.”, sagte Steffen zu der Frau. „Wenn ich hier am Computer arbeite, stört das nur.”
Die Frau warf ihm einen dankbaren Blick zu und Steffen Döber nahm sich ein paar Akten und verließ das Zimmer.
„Ja, Frau Vollmer, jetzt sind wir ungestört. Sie haben das mit Frau Bahran ja leider direkt vor Ort mitbekommen. Hatten Sie einen Termin bei ihr an diesem Tag?”
„Ja.” Ihre Stimme war nicht so schrill wie am Montag. „Um halb zwei hätte ich eine Sitzung bei ihr gehabt. Ich war etwas spät dran.”
„Eine Sitzung?”
„So nannte Madame Bahran das. Woher wissen Sie überhaupt meine Adresse?“ Zum ersten Mal blickte sie Zacharias ins Gesicht. Ihre Augen waren hellblau und schimmerten durchsichtig, so als würde sie jeden Moment wieder anfangen zu weinen. Ihr blondes, dünnes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft. Es sah aus, als hätte sie dabei keine besondere Mühe aufgebracht und ihre Haare einfach nur auf die Schnelle mit einem Haargummi gebändigt.
Überhaupt wirkte sie gestresst, man konnte fast sagen, gehetzt.
„Frau Vollmer, wir haben ein Notizbuch gefunden. In Frau Bahrans privaten Räumen.”
Sie erschrak aufs heftigste. „Was für ein Notizbuch?”
„Bitte beruhigen Sie sich. Es handelt sich nur um einen Terminkalender und die Namen und Telefonnummern ihrer Kunden, oder soll ich sagen Patienten?”
Sie schien die Frage zu überhören. „Sonst stand nichts drin?”
„Nein!”
Ihre Erleichterung war förmlich spürbar. Sie atmete schnaubend aus und lehnte sich mit dem Rücken an die Stuhllehne. Jetzt konnte das eigentliche Gespräch beginnen, dachte Zacharias.
„Wir müssen Sie trotzdem fragen, warum Sie zu Frau Bahran gegangen sind. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich werde das in keiner Art und Weise bewerten. Wir wollen uns nur ein Bild machen, wie Frau Bahran gearbeitet hat und wie genau ihre Lebenshilfe aussah, die sie den Menschen entgegen brachte. Wie gesagt, die Kundenkartei gibt darüber keine Auskunft.”
Sie schien Vertrauen gefasst zu haben. Ihre blassen Wangen röteten sich etwas. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Wie kommen Sie denn ausgerechnet auf mich? Weil ich am Tatort war? Das war doch Zufall. Ich meine, ich kann ja schließlich nichts dafür, dass….”
„Nein, wir befragen alle Kunden von Frau Bahran. Alle, die in ihrem Notizbuch stehen, Frau Vollmer.” Das stimmte nicht ganz. Sie hatten sich darauf geeinigt, zuerst einmal alle die Leute vorzuladen, die am häufigsten zu Frau Bahran gegangen waren.
Während sie ihren Stuhl etwas nach hinten rückte, rutschte der Saum ihres leichten Sommerkleids nach oben und Zacharias sah die bandagierten Knie der Frau.
„Es ist einfach so.”, fing sie an zu erzählen. „Wenn man zwei kleine Kinder hat, dann der Job. Wir haben neu gebaut. Da kann es manchmal einfach zu viel werden.” Sie strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Da bin ich ganz Ihrer Meinung.”, sagte Zacharias. Er hatte noch keine Kinder, kannte aber das gestresste Klagen aus seinem Bekanntenkreis nur zu gut. Er zeigte auf ihre Knie. „Tut’s sehr weh?”
„Ach das, nein. Mein Mann fragt sich, wie das passieren konnte.”
„Das mit Frau Bahran?”
„Nein, dass ich hingefallen bin. Und mir die Knie aufgeschlagen habe.” Sie senkte traurig ihren Kopf. „Dass ich mich so gehen lassen konnte, das kann er nicht verstehen.”
Zacharias tat die Frau leid. „Das war doch eine Ausnahmesituation, Frau Vollmer. Da kommt so etwas häufiger vor.”
„Wirklich?”
„Ja, ganz bestimmt!”, antwortete er mitfühlend. „Sagen Sie das Ihrem Mann.”, fügte er schnell hinzu.
Sie nickte nachdenklich. Und Zacharias ahnte, dass sie wahrscheinlich nichts zu ihrem Mann sagen würde.
„Ich nehme an, Frau Bahran war so etwas wie eine Freundin für Sie. Kann man das so sagen?”
„Ja, eine Freundin, das war sie wirklich.”
„Wie haben Sie sie kennen gelernt?”
„In einem Schuhgeschäft.”
Zacharias Weinfeld hob interessiert die Augenbrauen. War Frau Bahran so auf Kundenfang gegangen?
Als hätte sie seine Gedanken erahnt sagte sie: „Das war Zufall. Sie wollte gerade Schuhe kaufen und ich auch. Sie merkte, wie unkonzentriert und gestresst ich war. Meine beiden Kinder waren dabei. So kamen wir ins Gespräch.”
„Sie haben zwei kleine Kinder, nicht wahr?”
Sie nickte und zum ersten Mal erschien der Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel. „Vier und sieben Jahre alt.”
„Und dann?”
„Ja, wissen Sie, manchmal ist es ja so, dass man einem Fremden oft etwas erzählt, was man mit Freunden nicht bespricht. Und Frau Bahran, sie hat einfach gespürt, wie angespannt ich war. Ich musste den Tag auch noch zur Arbeit, ich arbeite in einem Drogeriemarkt, und die Kinder haben wieder einmal rum gequengelt, aber ich musste unbedingt für den Kleinen Schuhe kaufen, und ich wollte mir endlich auch mal wieder ein Paar gönnen, obwohl gar kein Geld dafür da ist. So kam eins zum anderen. Ich war in Zeitdruck. Eigentlich hatte ich gar keine Lust, mich mit ihr zu unterhalten, aber irgendwie strahlte sie so eine Ruhe aus. Wissen Sie, es tat einfach gut, mit ihr zu sprechen.”
Nickend reichte Zacharias der Frau ein Glas Wasser. „Ich verstehe. Und dann hat sie Ihnen einen Termin vorgeschlagen?”
„Nicht direkt. Sie hat mir eine Karte gegeben. Eine Visitenkarte mit ihrer Nummer. Ich könnte mich ja mal melden, hat sie ganz lieb gesagt.”
„Haben Sie sofort zugesagt?”
„Nein, ich habe ihr gesagt, dass ich mir so etwas nicht leisten kann. Schließlich hört man allgemein, wie teuer so etwas ist. Und mein Mann wäre damit sicher nicht einverstanden gewesen.”
„Wie hat sie reagiert? Enttäuscht?”
„Nein, gar nicht. Das hatte ich auch befürchtet. Aber sie hatte viel Verständnis. Sie deutete an, dass ich nicht viel bezahlen müsste. Sie wollte mir nur unbedingt helfen, ja, das sagte sie. Unbedingt helfen. Richtig dringend klang das. Können Sie sich das vorstellen?”
„Und Sie haben sich gleich verstanden gefühlt?”
„Ja, das muss ich zugeben. Obwohl ich keine bin, die schnell auf etwas herein fällt.”, betonte sie deutlich.
„Wann war das?”
„Im November. Aber ich habe dann drei Monate gebraucht, bis ich mich bei ihr gemeldet habe.”
„Gab es einen besonderen Anlass?”
„Nein, das nicht. Außer vielleicht, dass ich wieder diese starken Gelenkschmerzen hatte. Und ich musste ja zuerst mit meinem Mann darüber sprechen.”
„Und wie hat er reagiert?”
Sie zögerte. „Zuerst skeptisch. Unsere Probleme gehen andere nichts an, sagte er. Obwohl wir ja eigentlich keine Probleme haben. Es ist nur dieser wahnsinnige Stress. Ich habe mich durchgesetzt und gesagt, da gehe ich mal hin. Einfach mal sehen, wie das ist. Da hat er schließlich zugestimmt. Als er dann hörte, wie wenig ich bezahlte, hat er sich nicht weiter darum gekümmert.”
„Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, Frau Vollmer.” Zacharias blätterte mehrere Seiten in dem braunen Notizbuch hin und her, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Ich sehe hier, dass Sie ziemlich oft da waren, drei bis viermal im Monat, manchmal sogar zweimal die Woche.”
„Ist es das? Ist dass das Buch, von dem sie sprachen?”
„Ja!”
„Es stimmt, ich war oft da, und...” Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schniefte. „Es hat mit sehr geholfen, sie hat mir sehr geholfen, Herr Weinfeld.”
Er nickte mitfühlend. „Das glaube ich Ihnen.”
„Und in dem Buch steht wirklich sonst nichts drin? Über das, was die Menschen, die zu ihr gegangen sind, geredet haben, meine ich?”
„Nein, ganz sicher nicht.”
„Bin ich denn eine Verdächtige? Sie können sich nicht vorstellen, was die Frau für mich war. Ich könnte ihr nie, niemals…!” Ihr Blick war ängstlich.
„Nein, Frau Vollmer. Sie sind keine Verdächtige, um Gottes Willen. Es geht uns erst mal darum, uns ein Bild zu machen. Wie gesagt, wir laden alle Personen vor, deren Namen in diesem Buch stehen.” Zacharias hob das verschlissene Notizbuch in die Höhe. „Sie sind nur zufällig eine von ihnen.”
„Aber ich bin die Erste, stimmst? Mich haben Sie als Erste kommen lassen?”
Zacharias schüttelte den Kopf. „Das ist nur ein Zufall, Frau Vollmer, glauben Sie mir.“, beruhigte er sie. „Die anderen hatten Termine, aber alle werden zu uns kommen in den nächsten Tagen.”
Sie schien erleichtert und machte Anstalten auf zu stehen.
„Frau Vollmer, eines muss ich Sie noch fragen. Dann war’s das erst mal für heute.”
„Ja?”, fragte sie unsicher. Wahrscheinlich konnte sie es nicht mehr abwarten, hier raus zu kommen. Er konnte es verstehen, bei der Luft, die hier vorherrschte. Allerdings war es draußen nicht besser. Die Vierziggradmarke war heute geknackt worden und laut Wetterbericht war keine Ende der Hitzeperiode in Sicht.
„Wie viel haben Sie Frau Bahran bezahlt, sagen wir mal, für eine Stunde? Oder wie lange waren Sie jedes Mal bei ihr?”
Frau Vollmer sah auf ihre Uhr. „Hören Sie, ich muss meine Kinder abholen. Sie sind bei einer Nachbarin.”
„Wir sind gleich fertig. Also?” Zacharias blieb hartnäckig.
„Ja, eine Stunde war ich immer da. Konnte auch schon mal länger dauern. Aber meistens eine Stunde, das ich richtig.”
„Was ist in dieser Stunde passiert?”
„Wie meinen Sie das?”
„Was hat Frau Bahran getan?”
„Meistens hat sie mir ihre Hände aufgelegt. Man spürte dann so ein komisches Kribbeln und eine unglaubliche Wärme. Direkt unheimlich war das manchmal.”
„Hatten Sie denn immer starke Schmerzen?”
„Ab und zu. Aber meine Hausärztin konnte sich keinen Reim drauf machen. Wahrscheinlich psychosomatisch, sagte sie. Aber das sagen die Ärzte ja immer, wenn sie nicht weiter wissen.”
„Aber vielleicht hatte sie Recht. Schließlich haben Ihnen ja die Sitzungen bei Frau Bahran geholfen. Hat sie ihre Hände auf die schmerzenden Gelenke gelegt, oder wie muss ich mir das vorstellen?”, fragte er neugierig.
„Ja, genau. Und sie hat nichts gesagt dabei. Und man selber musste auch ganz still sein, darauf hat sie Wert gelegt.” Frau Vollmers Augen begannen zu leuchten, so real waren plötzlich ihre Gedanken an diese Momente. „So, dass man ganz nah bei sich selbst ist. Ja, das hat sie immer gesagt. Ganz nah bei sich selbst.” Fast andächtig legte sie ihre Hände in den Schoss und schwieg anschließend eine Weile, so als wollte sie ihren Erlebnissen in den Sitzungen noch eine Weile nachfühlen.
Zacharias unterbrach die Stille.
„Und wie viel haben Sie bezahlt?”
Jetzt glänzte Schweiß auf ihrer Stirn und sie rutschte unruhig hin und her.
„Ehrliche Antwort, bitte, Frau Vollmer.”, ermutigte er sie.
„Zwanzig.”
„Zwanzig Euro, pro Stunde?”
Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Frau Vollmer?”
„Zwanzig Euro.” Sie zögerte. „Im Monat!”, sagte sie schließlich.
„Nur zwanzig Euro für mehrere Termine im Monat?”, fragte Zacharias ungläubig.
„Ja, ich habe ja gesagt, Frau Bahran hatte versprochen, mir nicht viel abzunehmen. Daran hat sie sich in den ganzen Monaten gehalten. Sie hat nie mehr verlangt. Sie war zufrieden mit dem, was ich ihr gegeben habe. Und nur deshalb war mein Mann einverstanden. Zwanzig Euro hatte ich übrig. Dafür habe ich öfter auf den Friseurbesuch verzichtet.”
„Und Sie sagen mir die Wahrheit?” Zacharias Blick war streng.
Aber sie sah ihm direkt in die Augen und er glaubte ihr. „Ja, ich sage die Wahrheit.”
„Also gut. Dann können Sie jetzt gehen, Frau Vollmer.”
Sie war bereits aufgestanden und gab ihm eilig die Hand.
„Aber Sie müssen damit rechnen, dass wir Sie erneut befragen.” Zacharias drückte ihre schmale Hand und sah sie eindringlich an.
„Montag kommt noch eine Kollegin, die sich auch ein Bild machen muss. Es kann also sein, dass wir auch bei Ihnen zu Hause vorbei kommen.” Er wusste, wie sehr Karla es schätzte, Zeugen in ihrer direkten häuslichen Umgebung zu befragen.
„Ja, natürlich.”, nickte sie. „Hören Sie, ich muss jetzt wirklich los, meine Kinder, sie warten nicht gerne.”
Die Tür schlug zu und sie war weg. Zacharias dachte über sie nach. Frau Vollmer hatte ihr erstes Kind erst mit fünfunddreißig bekommen.
Seine Frau Diana wünschte sich auch Kinder. Irgendwann. Sagte sie immer. Irgendwann. Auch sie war bereits dreiunddreißig. Würde sie auch eine dieser späten Mütter werden, die alles, was ihnen wichtig war im Leben, vorher erledigt hatten? Job, Karriere, Haus, oder in seinem Falle eine Penthouse- Eigentumswohnung?
Würden auch sie dann überrollt werden vom Stress und dem Hinterherhecheln der alltäglichen Dinge, immer bemüht, alles richtig zu machen, und immer wissend, nicht alles schaffen zu können?
Ist es irgendwann zu spät für ein Kind, überlegte er.
Wenn man sich schon zu sehr daran gewöhnt hatte.
An das wohlverdiente viele Geld.
Die Reisen.
Die Ruhe.
Leben und Lieben, wie man wollte.
Würde es dann zu spät sein für ein Kind?
Er merkte, dass dieser Gedanke ihn traurig machte.