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Kapitel 1

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Montag, der 01. August

Konnte er nie dieses Nörgeln sein lassen?

„Gertrud!” Jetzt rief er schon wieder nach ihr. Irgendwo von draußen aus dem Garten kam die Stimme.

„Gertrud!”

Sie seufzte. „Ja, was ist denn? Ich muss zur Arbeit!” Leicht genervt ging sie durch das kleine Wohnzimmer und blieb an der offenen Terrassentür stehen.

Nach ein paar Minuten kam ihr Mann um die Hausecke und klopfte sich auf der Terrasse die schmutzige Hose ab. Endlos lange machte er das, anschließend zog er sich die Gartenhandschuhe aus, an denen noch kleine Ackerklumpen klebten.

„Wo willst du hin?”, fragte er atemlos.

„Arbeiten, hab ich doch gesagt. Ich gehe jeden Morgen arbeiten, falls du dich erinnerst.”, antwortete sie ungeduldig.

Ihr Mann kratzte sich verlegen an der Stirn. „Ja, aber doch nicht so spät. Es ist neun Uhr. Ich dachte, du hättest heute frei.”

„Nein, hab ich nicht. Frau Bahran braucht mich heute später. Wie gesagt, hab ich dir alles schon erzählt.”

Er lächelte gequält. Er merkte sehr wohl, wie sein Gedächtnis immer mehr nachließ.

„Es ist Suppe im Kühlschrank. Für heute Mittag. Also, ich muss jetzt wirklich los. Bis nachher.”

Gertrud Häberlein schloss die Terrassentür und öffnete sie sofort wieder.

„Hast du einen Schlüssel? Nicht, dass ich dich jetzt aussperre.”

Er lächelte immer noch und griff in die Tasche seiner ärmellosen Weste.

Ja, er hatte einen Schlüssel.

Was er sie noch fragen wollte, hatte er vergessen.

Sie blickte in den Spiegel im Flur und überprüfte kurz ihr Aussehen, dann ging sie los. Heute würde sie den Bus nehmen. Normalerweise ging sie immer zu Fuß. Aber heute hatte sie zwei Kilo sperrige Porree Stangen bei sich, die sie gestern für ihre Chefin auf dem Markt erstanden hatte. Eigentlich erledigte sie gerne Botengänge, dann durfte sie immer eine halbe Stunde eher gehen und konnte so auch noch für sich und ihren Mann etwas kaufen, meist für das gemeinsame Abendessen.

Um 9.15 Uhr stieg sie in die Linie 19 und ließ sich neben anderen Hausfrauen und Verkäuferinnen, die zur Arbeit fuhren, nieder.

Das Frau Bahran sie manchmal etwas später bestellte, war nicht ungewöhnlich. Im Allgemeinen empfing sie dann einen ihrer Gäste, jemand, der nicht gesehen werden wollte. Vielleicht jemand Prominentes. Ihr konnte es nur recht sein, sie bekam trotzdem die volle Stundenzahl abgerechnet. Immer von acht Uhr morgens bis ein oder zwei Uhr nachmittags. Je nachdem.

Gäste, so nannte ihre Chefin die Leute, die zu ihr kamen und diese sprachen sie immer mit „Madame Bahran” an. Gertrud Häberlein fand das ein bisschen affig. Aber was ging sie das an. Madame zahlte gut, und jetzt, da ihr Mann bereits in Rente war, konnten sie jeden Cent gebrauchen.

An der Haltestelle Birkenweg stieg sie aus. Jetzt war es nur noch einen Katzensprung bis zum Tannenweg. Vor der Hausnummer vierzig kramte sie in ihrer großen Handtasche nach dem Schlüssel, öffnete wie immer die knarrende Gartentür und ging über den Steinweg zum Haus. Die üppigen Blumen links und rechts des schmalen Weges waren jetzt in der flirrenden Hitze des Hochsommers so schwer, dass sie sich mit ihrer ganzen Pracht zur Seite bogen und man kaum noch die Steinplatten unter den Füßen erkennen konnte.

Frau Bahran war geradezu vernarrt in dieses unordentliche Blumenmeer. Gertrud Häberlein schüttelte den Kopf und schob bei jedem Schritt mit ihren Beinen die teilweise schon abgeknickte Blumen zur Seite.

Sie hatte es lieber ordentlicher.

Um punkt neun Uhr dreißig schloss sie die Haustür auf. Eine schwere alte Eichentür, deren Schloss immer ein wenig klemmte.

Historisch, nannte ihre Chefin die Tür. Sie hatte sie irgendwo teuer erstanden und extra einbauen lassen. Frau Häberlein hatte das nicht verstehen können. Zumal sich vorher dort eine sehr moderne, neue Haustür befunden hatte. Dass man die durch eine alte ersetzten wollte, leuchtete ihr nicht ein.

Der Flur mit den weißen Bodenfließen wirkte hell und freundlich und durch die halboffene Wohnzimmertür strömte zusätzliches Sonnenlicht herein.

Sie stellte wie immer ihre Handtasche unter dem Garderobenglastisch ab und trug die Leinentasche mit dem Porree Gemüse in die Küche. Wie jeden Morgen stapelte sich auf mehreren Arbeitsplatten das dreckige Geschirr des letzten Tages. Frau Bahran schaffte es nie, die Sachen in die Spülmaschine zu räumen. Wenigstens das hätte sie doch machen können, dachte Frau Häberlein jeden Morgen, wenigstens das.

Und so sortierte sie auch heute Tassen, Teller und jede Menge Gläser in die Spülmaschine, immer bedacht, möglichst wenig Lärm zu machen.

Deswegen hatte sie auch einen eigenen Schlüssel. Frau Bahran wollte nicht gestört werden, wenn sie Gäste hatte. Auf gar keinen Fall. Meistens hielt sie sich mit ihren Kunden in einem extra dafür vorgesehenen Raum im ersten Stock auf.

Kunden, so nannte Frau Häberlein diese Leute.

Heute Morgen schien allerdings niemand von diesen Leuten da zu sein. Alles war ruhig.

Vielleicht schlief sie noch.

Nichts Ungewöhnliches.

Frau Häberlein stellte die Spülmaschine an und wischte die Flächen der Einbauküche mit einem nassen Lappen ab. Frau Bahran mochte nicht, wenn man beim Hereinkommen in die Küche Fingerspuren an den Schränken erkennen konnte. Schon gar nicht am Kühlschrank.

Und Frau Bahran ging sehr oft an den Kühlschrank. Das vermutete Frau Häberlein jedenfalls, weil fast täglich die Sachen, die sich gestern noch im Kühlschrank befanden, weg waren und wieder neue Sahne- und Joghurtbecher dort standen. Auch Salami und fettige Käsesorten, Packungen mit Kartoffelsalat und diverse Fertiggerichte wurden ständig aufgefüllt.

Jeder hat wohl seine Schwächen, dachte Frau Häberlein. Und das war die Schwäche von Frau Bahran, was man ja auch an ihrem wohlgenährten Körper erkennen konnte.

Nachdem sie mit der Küche fertig war, und das dauerte meistens vierzig Minuten, ging sie zurück in den Flur und nahm sich den Kellerschlüssel, der an einem Haken an der Wand hing. Beim Blick, den sie durch die halboffene Wohnzimmertür warf, konnte sie einige rote Flecken auf dem Fußboden ausmachen. Frau Häberlein zuckte mit den Schultern. Da würde sie sich später drum kümmern.

Sie hatte immer ihren festgelegten Rhythmus. Sonst konnte man schnell etwas vergessen.

Und jetzt war zuerst das Obergeschoss dran.

Sie ging die Kellertreppe hinunter und griff sich ihre Putzutensilien, die dort unten neben einem Waschbecken standen.

Ein Eimer, ein Wischer mit mehreren, ordentlich zum Trocknen aufgehängten, passenden Bezügen, ein Fensterleder und einen Schwamm für den groben Schmutz, obwohl es den in diesem Haus eigentlich gar nicht gab.

Dazu noch einen Glasreiniger für Fenster und die vielen Spiegel, Scheuermilch und einen Allzweckreiniger. Fertig!

Sie packte alles in ein dafür vorgesehenes Körbchen und schleppte die Sachen mit samt Wischer und Eimer nach oben.

In der Küche ließ sie Wasser in den Eimer und auf dem Weg in den ersten Stock wischte sie schon einmal über das Treppengeländer.

Oben stand die Schlafzimmertür von Frau Bahran offen. Sie war also schon aufgestanden. Das Bett war ordentlich gemacht.

Seltsam.

Normalerweise kümmerte sich Frau Häberlein auch da drum. Sah nach, ob die Bettwäsche gewechselt werden musste, legte ansonsten die Bettdecke ordentlich zusammen und knickte das aufgeschlagene Kopfkissen, so dass es aussah wie in einem Luxushotel.

Wo war sie heute Morgen nur? Frau Häberlein sah auf ihre Uhr. Bereits kurz vor elf.

Die Tür zu dem so genannten Beratungszimmer war geschlossen. Aber dort schien niemand zu sein. Ansonsten konnte man bisweilen gemurmelte Stimmen aus dem Innern des Zimmers hören, manchmal sogar leises Schluchzen. Das kam auch vor.

Sollte sie hinein gehen und nachschauen? Sie legte ihre Hand auf die Türklinke und drückte sie herunter. Dann überlegte sie es sich anders. Lieber nicht.

Aber wo steckte sie nur? Oder war sie gar nicht zu Hause? Wenn sie heute einen Termin gehabt hätte, dann hätte sie doch etwas gesagt. Aber sie war ihr schließlich keine Rechenschaft schuldig.

Trotzdem, es wäre nicht zu viel verlangt, ihr Bescheid zu geben, dachte Frau Häberlein. Aber was sollte man machen? Sie putzte einfach in ihrem gewohnt ruhigen aber stetigen Tempo weiter. Zuerst das Bad, dann überall Staubwischen, dann die Teppiche saugen und das Fenster im Schlafzimmer war auch mal wieder dran.

Wo war sie bloß?

Viertel nach Zwölf! Jetzt musste sie sich aber beeilen. Schließlich hatte sie heute weniger Zeit, aber die Räume mussten trotzdem alle gemacht werden. Zum Bügeln würde sie wohl nicht mehr kommen. Aber im Wohnzimmer musste sie unbedingt nach den roten Flecken sehen, die ihr eben aufgefallen waren. Wahrscheinlich wieder von diesem klebrigen und dickflüssigen Kirschsaft, den ihre Chefin oft abends trank. Frau Häberlein hasste dieses Zeug. Und wenn das erst einmal eingetrocknet war, nicht nur am Boden, sondern auch in den ständig neuen Gläsern, die sich Frau Bahran aus der Vitrine nahm, hatte man seine liebe Mühe mit dem Zeug.

Schon im Flur spannte sie ein feuchtes Tuch auf den Wischer, fuhr sich mit der Hand über ihre schweißnasse Stirn, und ging anschließend ins Wohnzimmer.

Gegen Mittag wurde die Hitze unerträglich. Auch hier im Haus.

In dem großen Raum wischte sie zuerst über die unzähligen Kirschsaftflecken. Diesmal gingen sie überraschender Weise ganz leicht ab.

So, Frau Häberlein wischte sich ihre nassen Hände an ihrer alten Hose ab und überlegte. Wenn Madame noch nicht da ist, kann ich heute ja mal in Ruhe die Polster absaugen, nahm sie sich vor, kniff die Augen aufgrund den flutenden Sonnenlichts, das durch die großen Scheiben schien, leicht zusammen und sah sich um.

Sie lag neben dem wuchtigen Glastisch. Direkt hinter dem großen Sofa, das die Sicht versperrte.

Und hier war alles voll von roten Flecken.

Überall.

Sie waren überall.

Frau Häberlein presste in einem stummen Schrei völlig verkrampft die Hände an ihren Mund.

Überall dieses Rot.

Unten auf dem Boden.

An den Wänden.

Am Fenster.

Auf dem Sofa.

Sie sah hoch.

Auch an der Decke!

Der Kopf der toten Madame Bahran war umspült von Blut, so als hätte jemand ein fliesend rotes Seidentuch drapiert. Ihr Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Sekundenlang, minutenlang starrte die Haushälterin regungslos auf ihre Chefin, sie kniff die Augen zusammen, riss sie wieder auf, und doch verschwand es nicht, das Grauen, dieser lähmende Schock.

Das hier war kein Film, nicht einer dieser Krimis, die sie immer sah. Keine Szene, die sich gleich auflöste. Hier lag Madame Bahran, fürchterlich zugerichtet, ja geradezu entstellt. Es war, als hörte man selber auf zu existieren, während man auf die Leiche starrte, als stände das eigene Herz still und die ganze Welt.

Später wird sich Frau Häberlein nicht mehr erinnern können, wie sie aus dieser Hölle nach draußen gekommen war.

Die thailändische Haushaltshilfe der Nachbarn sah sie gegen halb ein Uhr mittags, wie sie, die Hände erhoben, über die Terrasse lief.

Sie war gerade dabei, das Badezimmer ihrer Arbeitgeber zu putzen und hatte die große Badematte zum Lüften aus dem Fenster gehangen. Die Frau Häberlein ist aber heute spät dran, dachte sie noch, normalerweise bringt sie den Müll schon kurz nach acht raus. Sie winkte ihr und lächelte ihr freundlich zu in ihrer scheuen Art.

Aber Frau Häberlein lächelte nicht zurück, das war seltsam, nein, sie fuchtelte und ruderte geradezu panisch mit den Armen um sich.

Mülltüten hatte sie auch nicht dabei. Die Thailänderin beugte sich verwirrt aus dem Fenster, während Frau Häberlein im selben Augenblick der Dame des Hauses in die Arme lief.

Plötzlich hörte sie wie die Haushälterin von Frau Bahran anfing zu schreien und nicht mehr aufhörte. Also lief sie eilig die Treppe herunter und zusammen mit ihrer Chefin gelang es ihr irgendwann, die völlig verängstigte Frau zu beruhigen.

Was diese dann allerdings unter Tränen und am ganzen Leib zitternd berichtete, war so ungeheuerlich, dass beiden das Blut in den Adern gefror.

Der Fall Bahran

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