Читать книгу Tödliche Gier in Bansin - Elke Pupke - Страница 8

Sonnabend, 06. Juni

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Susanne Fux sitzt auf ihrem kleinen Balkon im Ahlbecker Seniorenpflegeheim und blickt versonnen auf die Ostsee. Das Wasser ist heute sehr blau, freundliche kleine Wellen bewegen die Oberfläche. Sie träumt davon, durch den weichen warmen Sand in das Meer zu laufen, zu schwimmen, sich auf dem Rücken liegend vom Salzwasser tragen zu lassen, schwerelos, nichts als Sonne und See – sie zuckt zusammen, als die Pflegerin ihr behutsam eine Decke über die Schultern legt.

Es ist tatsächlich noch etwas kühl. Auch die Ostsee wird noch zu kalt sein, sie würde nicht hineingehen, selbst wenn sie es könnte.

»Danke, Simone.« Sie lächelt die freundliche junge Frau an und will etwas sagen, als es an der Tür klopft. »Ach, da ist sie ja schon. Hast du uns Kuchen mitgebracht? Das ist lieb.«

Jule nickt und bleibt schüchtern an der Tür stehen. Die Pflegerin nimmt ihr das Paket aus der Hand.

»Nimm dir einen Stuhl und setz dich raus zu deiner Oma. Es ist heute so schön auf dem Balkon. Ich bringe euch Teller und Kaffee. Möchtest du auch etwas trinken? Einen Saft vielleicht?«

Jule schüttelt stumm den Kopf. Nicht noch mehr Zucker, der Kuchen ist schon schlimm genug. Sie wird ein Glas Wasser dazu trinken. Dass Oma sie aber auch immer so in Versuchung führt, wie soll sie da ihre Diät durchhalten. Aber die alte Frau liebt dieses süße Zeug nun mal und sie hat ja sonst nicht mehr viel Freude im Leben.

»Komm her, meine Kleine. Schön, dass du da bist. Ich hab dich gar nicht kommen sehen.«

Sie blickt zur Bushaltestelle hinüber.

»Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

»Ach so. Ja, das ist doch schön. Es fährt sich gut auf der Promenade, nicht? Führt der Radweg jetzt eigentlich durch bis nach Bansin?«

»Ja.« Jule setzt sich ihrer Oma gegenüber an den kleinen Tisch und blickt sie liebevoll an. »Weißt du, woran ich mich erinnert habe? Wie du mich im Krankenhaus in Heringsdorf besucht hast, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Da bist du auch immer mit dem Fahrrad gekommen und hast mir Kuchen mitgebracht.«

»Ja, du warst schon ein kleiner Süßschnabel. Dass du dich daran noch erinnern kannst! Du warst doch noch so klein, gingst noch nicht mal zur Schule.« ›Und deine Eltern hatten mal wieder keine Zeit für dich‹, fügt sie in Gedanken hinzu.

Simone stellt ein Tablett auf den Tisch. Sie hat den Kuchen auf zwei Tellern verteilt und für Susanne eine Tasse Kaffee dabei.

Während die beiden essen, sprechen sie über das Wetter und die vielen Gäste, die schon wieder auf der Insel sind. Traurig beobachtet Jule, wie schwer es ihrer Großmutter fällt, die Tasse zum Mund zu führen. Sie ist so schwach geworden in den letzten Monaten, als sie niemand besuchen durfte. Ob sie Schmerzen hat? Sie klagt eigentlich nie, aber Jule weiß, dass der Krebs immer weiterfortschreitet und nicht mehr heilbar ist. Sie hat große Angst, ihre einzige Vertraute bald zu verlieren.

»Ich hab dir was mitgebracht«, fällt ihr plötzlich ein. Sie bückt sich zu ihrer Umhängetasche und zieht ein Buch mit einer kitschig-bunten Gebirgslandschaft auf dem Einband heraus. »Einen Heimatroman. Die magst du doch, oder?«

»Ja.« Susanne freut sich ehrlich. »Früher habe ich oft Arztromane gelesen, da reicht mir jetzt die Praxis. Aber so etwas lese ich gern, dabei kann man herrlich abschalten. Danke, mein Schatz.«

Jule nickt zufrieden. Sie denkt ständig darüber nach, wie sie ihrer Oma den letzten Lebensabschnitt erleichtern kann. Nur ihr verdankt sie eine schöne Kindheit, sie war die Einzige, die ihr Liebe und Geborgenheit gegeben hat. Außerdem hat sie das Gefühl, die Kälte ihres Vaters ausgleichen zu müssen.

»In deine Aalkartoffeln könnte ich mich reinlegen. Die schmecken genauso, wie meine Mutter sie früher gekocht hat«, schwärmt Andreas Keller. Er schiebt den leeren Teller weg und lehnt sich zufrieden stöhnend zurück. »Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen Schnaps, zur Verdauung.«

»Kriegst du.« Berta sieht die anderen Stammtischgäste an. »Was ist mit euch? Ich gebe eine Runde aus.«

Sophie geht an den Tisch und nimmt die Bestellung auf. Berta selbst, Andreas Keller und Ruben Fux trinken Kräuterlikör, Paul Plötz und Bruno Kerr, ein weiterer Stammgast, ordern Korn. Arno schüttelt den Kopf, als Sophie ihn fragend anblickt. Er mag keinen Schnaps, trinkt lieber ein Glas Weißwein.

»Meinst du, sie sagt was zu Ruben, wegen seiner Tochter?« Anne sitzt auf einem Barhocker, kann sich aber mit den Beinen auf dem Boden abstützen. Sie beugt sich über den Tresen und spricht leise zu ihrer Freundin. Auch Sophie blickt nicht zu ihrer Tante, sondern konzentriert sich auf die Getränke, die sie einschenkt. Sie schüttelt den Kopf. »Glaub ich nicht. Nicht, wenn alle dabei sind.«

»Ist auch besser so.« Anne ist erleichtert, ihr tut das Mädchen leid.

Sophie sieht nachdenklich zum Stammtisch hinüber. »Ich wüsste trotzdem gern, wie Ruben reagiert. Irgendwie kann ich mir den gar nicht als Vater vorstellen. Wie ist er denn so? Ich meine, wie spricht er mit seiner Tochter? Meckert er viel oder ist er eher locker? Hilft er ihr bei den Hausaufgaben, unternimmt er mal was mit ihr?«

Anne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir wohnen ja praktisch nebeneinander, ich sehe sie ständig, doch wenn ich mir das so überlege, eigentlich nie zusammen. Die Kleine huscht verschüchtert über den Hof und Ruben – na, du kennst ihn ja. Immer laut, immer lustig, stänkert auch mal, aber ich glaube nicht, dass er das Mädchen schlecht behandelt. Jedenfalls nicht absichtlich. Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich großzügig ist und ihr viel Freiraum lässt, vielleicht auch mal einen Schein zusteckt.«

»Dann bräuchte sie ja nicht zu klauen.«

»Stimmt auch wieder.«

Sophie stellt noch zwei Gläser Bier auf das Tablett und trägt es zum Stammtisch. Anne sieht ihr zu, wie sie die Getränke verteilt und mustert dabei Ruben Fux.

Der Fünfzigjährige ist immer noch attraktiv, obwohl man ihm sein bewegtes Leben ansieht. Er ist groß und kräftig, das volle blonde Haar wird allmählich grau und die Gesichtszüge sind nicht mehr so markant wie früher, sondern von reichlich Alkohol aufgeschwemmt. Er gibt sich selbstbewusst, jovial, großzügig, dominiert noch immer jede Gesellschaft. Aber der Blick aus den auffallend blauen Augen ist nicht mehr ganz so strahlend, das verhindern dicke Tränensäcke.

Er zwinkert Sophie zu, als sie ihm das Bier hinstellt. Das Flirten liegt ihm einfach im Blut, er kann es nicht lassen und freut sich über den verärgerten Blick von Arno. Aber der sagt natürlich nichts, zum einen, weil es sinnlos wäre, Sophie mag Ruben nicht einmal und zum anderen sagt er ohnehin nie viel. Außerdem redet Andreas gerade. Ausführlich erzählt er von seinen zweijährigen Zwillingstöchtern, die sich in einer eigenen Sprache unterhalten, die niemand außer ihnen versteht.

»Interessant«, bemerkt Sophie, während sie die leeren Gläser vom Tablett räumt.

»Ja, findest du?« Anne verdreht die Augen.

»Ach, nun lass ihn doch. Die Kinder sind nun mal sein ganzer Lebensinhalt. Ich finde das sympathisch.«

»Ich finde es langweilig. Was hat der eigentlich früher gemacht, als er noch keine Kinder hatte?«

»Er war Schiffbauingenieur auf der Peenewerft.«

»Ach so? Und das hat er wegen der Kinder aufgegeben? Oder wegen seiner Frau, damit die sich um die alten Leute kümmern kann? Ist ja blöd. Er hat doch bestimmt viel mehr verdient.«

»Ja sicher, aber er war schon lange arbeitslos. Da hat sich das so ergeben.«

Anne schüttelt zweifelnd den Kopf.

Sophie mag Andreas Keller, sie bewundert ihn sogar ein bisschen. Wie liebevoll der mit seinen vier Kindern umgeht! Außer den Zweijährigen hat er noch eine vier- und eine zwölfjährige Tochter.

Den Haushalt hat er anscheinend auch im Griff, Simone ist zu beneiden. Aber als Altenpflegerin hat sie auch genug zu tun. Und das Geld ist immer knapp, trotz ihrer vielen Überstunden.

Das weiß auch Berta, die jetzt verhindert, dass Andreas Keller eine Runde ausgibt. Sie weiß, dass er notgedrungen sparsam ist, aber wenn er etwas getrunken hat, wird er leichtsinnig und er verträgt nun mal nichts. Ärgerlich sieht sie Ruben Fux an, der seinen Tischnachbarn provoziert.

»Was stänkerst du hier wieder rum?«, fährt sie ihn an. »Wenn du noch was trinken willst, bestell es dir selbst. Andreas hat genug, das siehst du doch. Und er muss früh aufstehen und sich um die Kinder kümmern.«

»Ja, mir reicht es auch.« Paul Plötz wird es zu ungemütlich. Außerdem muss auch er früh raus.

Arno nickt. Er blickt kurz zu Sophie, überlegt, ob er auf sie warten könnte, beschließt dann aber, in seiner eigenen Wohnung zu übernachten.

»Ich bestell uns ein Taxi«, schlägt er seinem Kollegen vor.

»Ich kann doch selbst - «

»Nein, kannst du nicht«, unterbricht Berta ihren Freund energisch.

Sophie atmet auf, als Ruben sich gleich nach den Fischern verabschiedet. Auch Andreas bezahlt und lächelt Berta schuldbewusst an. »Danke.« Er ist etwas beschämt, dass auf seiner Rechnung nur zwei Bier stehen, aber auch erleichtert. Beinahe hätte er sich wieder von Ruben Fux provozieren lassen. Die alte Wirtin zuckt mit den Schultern. »Wofür? Ist doch alles in Ordnung. Das Essen haben Paul und ich ausgegeben und weiter hast du nichts bestellt. Eine Runde Schnaps kam von Fux, der kann es sich leisten.« »Zumindest tut er so«, denkt sie.

Nicht einmal sie weiß genau, wovon der Mann gerade lebt. Gefühlt hat er seine Finger überall drin. Offiziell betreibt er eine Tourismusagentur. Er vermittelt gegen Provision Orts- und Inselführungen, die meist Sophies Freundin Anne durchführt.

Außerdem vermietet er Ferienwohnungen, die er von polnischen Frauen putzen lässt. Berta wüsste gern, ob er die Polinnen fest eingestellt hat, dann hatte er in den vergangenen Wochen, als keine Gäste kommen durften, mit Sicherheit hohe Verluste. Aber wahrscheinlich arbeiten die meisten schwarz oder als Subunternehmerinnen. Für krumme Geschäfte hatte Ruben schon immer ein Händchen.

In den Neunzigerjahren hat er mit Spielautomaten viel Geld verdient. Seitdem gibt es auch das Gerücht, dass Raucher nicht nur polnische Zigaretten von ihm kaufen. Ab und zu wird er bei illegalen Geschäften erwischt, dann zahlt er eine Strafe und macht weiter.

»Der Fuchs ist schlau, er stellt sich dumm, bei manchen ist es andersrum« lautet sein Lieblingsspruch, in dem er mit seinem Namen kokettiert. Berta ist allerdings der Meinung, dass er eher kleinkriminell als sonderlich klug ist. Und von Dummstellen kann schon gar keine Rede sein. Er prahlt nur zu gern mit seinen angeblichen Geschäftserfolgen.

Als könne er ihre Gedanken lesen, geht auch Bruno Kerr auf Bertas Bemerkung ein. »Der war schon immer ein Blender«, erinnert er sich. »Hat sich auf sein gutes Aussehen verlassen, das hat ihm sehr geholfen. Und er ist manipulativ. Die Mädels hat er immer nur ausgenutzt.« Er lacht. »Seinetwegen haben sich auf dem Schulhof Dramen abgespielt.«

Bruno war früher Lehrer an der Bansiner Schule und erinnert sich noch gut an diese Zeit. Das hilft Berta oft, wenn sie einen seiner ehemaligen Schüler einschätzen will. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass sich der Charakter eines Menschen im Laufe seines Lebens gar nicht so sehr verändert. Die Älteren können ihre schlechten Eigenschaften nur besser verbergen. Manchmal. Und ganz selten, wenn Berta sie erst einmal genauer beobachtet – »auf dem Kieker hat«, wie Plötz es bezeichnet.

»Ich mag sie eigentlich beide«, gibt sie jetzt zu, »sie sind nur grundverschieden. Fux ist der Typ, der reinkommt und sagt: ›So, da bin ich‹ und Andreas ›Na, da seid ihr ja‹.«

»Genau«, bestätigt Bruno Bertas Beobachtung. »Und das ganz ohne Worte.«

Inzwischen ist die Gaststätte geschlossen, die Tische sind aufgeräumt und die Gläser gespült. Anne sitzt bei Berta und Bruno am Stammtisch. Sophie macht mit dem Kellner die Abrechnung, dann kommen die beiden auch dazu.

Thomas Haas arbeitet erst seit ein paar Tagen im Kehr wieder. Der 55-Jährige stammt aus Bansin, er hat hier auch seine Ausbildung zum Kellner absolviert, war aber in den letzten 20 Jahren überall auf der Welt unterwegs und nur selten zu Hause. Anne kennt ihn aus der Schulzeit, in der achten Klasse war sie schwer verliebt in den stillen, schüchternen Jungen. Sie fühlte sich gekränkt, weil er ihr geradezu ängstlich aus dem Weg ging. Vermutlich hat es ihm Angst gemacht, dass sie mindestens einen Kopf größer war als er und auch breitere Schultern hatte. Er stand schon immer auf die kleinen, zierlichen, hilfsbedürftigen Frauen.

Es war ein glücklicher Zufall, dass sie ihn im Januar auf der Straße erkannt und natürlich auch gleich angesprochen hat. Er hatte seine Eltern eigentlich nur über Weihnachten besuchen wollen, dann aber gemerkt, dass sie allein nur noch schwer zurechtkamen und beschlossen, zu bleiben.

»Ich bin es ihnen schuldig, weißt du?«, hatte er Anne anvertraut. »Sie waren die besten Eltern, die man sich wünschen kann, haben alles für mich gemacht. Wer weiß, wie lange ich sie noch habe, um ein bisschen wiedergutzumachen.«

Anne fand das etwas pathetisch, schließlich sind Eltern dazu da, alles für ihre Kinder zu tun, im Allgemeinen, ohne Schuldgefühle zu erzeugen. Aber sie nickte, sie mochte Thomas immer noch und freute sich, dass er wieder da war. »Du bist doch Kellner«, fiel ihr ein. »Hast du schon einen Job?«

Sophie, die mit ihren jungen Kellnerinnen in den letzten Jahren nur Pech hatte, war erfreut über Annes Vermittlung. Der gut ausgebildete, ruhige, gepflegte Mann würde das Niveau ihres Restaurants erheblich steigern.

Durch den Lockdown im Frühjahr hat sich alles verzögert, er hat seine Probezeit am 1. Juni begonnen und Sophie ist fest entschlossen, ihn danach einzustellen und beim Gehalt nicht kleinlich zu sein, bevor er noch etwas Besseres findet. Kellner werden hier überall gesucht. Wie gut, dass Anne ihn sich gleich gekrallt hat.

»Hast du nicht auf der AIDA gearbeitet?«, fragt Berta. »Da hast du ja gerade rechtzeitig aufgehört.«

»Ja, stimmt. Aber ich wollte sowieso absteigen. Ich hatte eine Stelle in der Schweiz, in einem guten Hotel ganz oben in den Bergen. Dicht an der italienischen Grenze.«

»Was?« Berta ist entsetzt. »So weit weg?«

Thomas lacht. »Na, mit dem Schiff war ich noch deutlich weiter weg.«

»Ja, klar, aber auf dem Wasser. Das ist doch etwas ganz anderes. Wie kann sich ein Bansiner Junge in den Bergen wohlfühlen? Du hättest bestimmt furchtbares Heimweh bekommen.«

Er zuckt vage mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, hatte ich an Bansin nicht so gute Erinnerungen. Ich konnte gar nicht weit genug weg sein. Aber meine Eltern brauchen mich eben.« Er presst die Lippen zusammen und blickt finster in sein Bierglas. Dann sieht er seine Tischnachbarn an und lächelt. »Und – na ja, wie ich sehe, gibt es in Bansin auch sehr nette Menschen«, nimmt er seinen vorherigen Worten die Schärfe.

Berta fängt einen warnenden Blick von Bruno auf und verkneift sich die Fragen, die ihr auf der Zunge liegen. Da war doch was! Damals … Berta wird gründlich in ihren Erinnerungen kramen müssen. Paul Plötz kann ihr da sicher helfen. Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Sie muss ihn nur auf die richtige Spur bringen.

Tödliche Gier in Bansin

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