Читать книгу Tödliche Gier in Bansin - Elke Pupke - Страница 9

Dienstag, 09. Juni

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Die deutsch-polnische Grenze ist wieder geöffnet und somit ist die Strandpromenade vom Hafen in Swinemünde bis an die Steilküste hinter Bansin ungehindert passierbar. Zwölf Kilometer kann man hier zwischen Dünen, gepflegten alten Villen und vielen Kiefern wandern. Oder mit dem Rad fahren. Immer parallel zum Strand. Die hinter Dünen und Bäumen verborgene Ostsee ist hier mitunter nur hörbar. Lediglich auf dem letzten Kilometer, auf der Bansiner Promenade, zwischen der Grenze zu Heringsdorf und dem Seesteg ist der Blick auf das Meer immer frei.

»Das ist die Besonderheit der Bansiner Strandpromenade«, erklärt Anne ihren Gästen bei der Ortsführung. »Hier können Sie immer auf die Ostsee sehen. Deshalb sind auch im Musikpavillon Fenster. Nicht nur, damit die Musiker ihre Noten besser lesen können. Der Gast kann über sie hinweg auf das Meer blicken.«

Erst am westlichen Ende der Promenade wird diese Sicht verhindert. Hier sieht der Gast nur eine Bretterwand, hinter der sich die Fischerhütten verbergen.

Die Eingänge der aneinander gebauten Buden befinden sich an der Rückseite, hinter den Dünen. Ein paar Boote sind zu sehen. Große Kutter mit Ruderhaus und breit gewölbtem Boden. Sie haben einen geringen Tiefgang. Die Fischer können damit weit hinaus auf die Ostsee fahren, bis nach Skandinavien, sie können aber auch durch das flache Küstenwasser auf den Strand gezogen werden. Es sind die letzten Strandfischer, die es hier auf Usedom gibt. Sie haben keinen Hafen, die Boote liegen an Land, in den Dünen. Es riecht nach Rauch, Fisch und Meer. Schmale Trampelpfade führen hindurch zum Strand, unten am Ufer sind die kleinen Boote befestigt.

Paul Plötz steht mit einigen Leuten neben dem Räucherofen. Es sind Einheimische, sie wollen frischen Fisch kaufen, warten darauf, dass der Räucherfisch aus dem Ofen genommen wird oder wollen einfach nur ein bisschen reden. Um den Fischverkauf kümmert sich Arno, für Letzteres ist Paul zuständig.

Ein Urlauberpärchen tritt hinzu, junge Leute, dem Dialekt nach aus Bayern oder jedenfalls aus dem Süden, neugierig, fasziniert und ein wenig herablassend. Für sie scheint das alles hier aus der Zeit gefallen zu sein, urig, aber primitiv. Vermutlich hat es hier schon vor hundert Jahren genauso ausgesehen. Die Fischer könnten ihnen erzählen, dass hier vor hundert Jahren weitaus mehr los war, aber das tun sie nicht. Was geht das fremde Leute an, die sich doch nur über sie lustig machen?

Ein alter Anker ist zwischen dem rauen Gras zu sehen, Netze und Steurer, lange Stangen mit roten Fähnchen, mit denen die Fischer die Lage ihrer Netze und Angeln anzeigen.

»Ich habe die Dinger schon auf dem Wasser gesehen«, fällt dem jungen Mann auf. »Warum sind an manchen Stangen schwarze Fähnchen? Hat das was zu bedeuten?«

Berta könnte es erklären, es sind die Aalschnüre, die damit gekennzeichnet werden. Aber das hier ist Pauls Bühne.

»Ja, das ist so« – mit diesem Satz fangen seine Geschichten immer an – »wo die schwarzen Fahnen zu sehen sind, war eine Seebestattung. Da haben wir eine Urne versenkt.«

Die junge Frau reißt erschrocken die Augen auf, der Mann zweifelt. »Was denn, so dicht am Ufer? Muss man dazu nicht weiter raus aufs Meer fahren? Da gibt es doch sicher Vorschriften?«

»Natürlich!«, bestätigt der Fischer. »Wir sind schließlich in Deutschland, da gibt es für alles Vorschriften. Nur interessiert uns das nicht. Wenn ein Bansiner stirbt, wird der direkt hier an der Küste beigesetzt. In Bansin, wie sich das gehört.«

Der Mann schüttelt zwar den Kopf, aber er glaubt es schließlich.

Berta tritt zu Arno, der neben der Hütte Fisch säubert. Sie grinsen sich an und sie sieht eine Weile zu, wie er schnell und geschickt Aale aufschneidet und die Eingeweide entfernt, einen großen Plötz schuppt und ihm den Kopf abschneidet. Viele Kunden, besonders die Frauen, zahlen gern ein bisschen mehr, wenn sie ihren Fisch küchenfertig bekommen. Die Abfälle wirft Arno in die Dünen, wo sich die Möwen lärmend darum streiten.

Als die Urlauber gegangen sind, kommt Paul dazu. »Alter Spinner«, neckt Berta ihn gutmütig.

»Na ja, man muss doch auch mal ein bisschen Spaß haben. Aber da kommt ein noch größerer Spinner.«

Ruben Fux wirft einen anerkennenden Blick in die Fischkisten und einen verächtlichen auf Arno.

»Da habt ihr ja mal Glück gehabt. Aber was kommt am Ende dabei raus? Was nehmt ihr für den Aal?«

»19 € das Kilo, abgezogen 27 €.«

»Na klar, da bleiben dann ja auch nur 7 kg übrig von 10«, schmälert er die Arbeit des Fischers.

»Richtig verdienen tut man doch erst am Fisch, wenn man ihn an die Urlauber verkauft. Portionsweise. Ich nehm euch gern alles ab, was ihr übrighabt.«

Er weist mit dem Kopf zu seinem Stand an der Promenade. »Guckt euch das an. Die stehen Schlange seit ich um zehn aufgemacht hab. Die Frauen kommen kaum nach mit dem Brötchenbelegen.«

»Ja, mit Butterfisch und Matjes, was bei dir alles unter ›fangfrisch‹ läuft.«

»Na und? Die Leute wollen doch beschissen werden.« Verärgert will er weggehen, dann fällt ihm etwas ein und er dreht sich noch einmal um.

»Wie war denn das Silvester im Kehr wieder? Hast du den Gästen nicht erzählt, der Aal, den sie essen, wäre morgens noch im Meer geschwommen? Und die Ostsee war bis zum Horizont zugefroren? Wer ist denn eigentlich der größere Lügner von uns?«

»Das ist auf jeden Fall Paul«, mischt sich Berta ein. »Aber er macht das zum Spaß und du nur zu deinem Vorteil.«

»Ja, nimm du mal deinen Freund in Schutz.«

Das klingt aber schon wieder ganz friedlich. Jetzt bleibt er auch stehen und bietet Plötz sogar eine Zigarette an. Eine Weile rauchen sie schweigend und sehen dabei auf das Meer hinaus. Fux kneift die Augen zusammen. »Da ist eine Robbe, siehst du. Die beobachtet das Netz. Wenn sich der Steurer bewegt, weiß sie genau, da ist ein Fisch reingegangen. Dann taucht sie hin und holt ihn sich.«

Paul Plötz sieht nichts. »Du spinnst«, hofft er. »Es sind noch gar keine Robben da. Die kommen erst im Herbst.«

»Nein, kannst glauben, da ist wirklich eine. Wir werden die hier auch nicht mehr los, das steht fest. Und schließlich haben die auch ein Recht auf ihr Leben. Ich finde die sogar ganz niedlich, die Viecher. Ich mag sie.«

Er wirft die Kippe in den Sand und tritt sie aus. »Das bringt nichts mehr, Paul, nicht, wie ihr das macht. Wir müssen uns was Neues einfallen lassen. Ich hab eine Idee. Wenn das klappt, haben wir alle was davon. Aber da müssen wir mal in Ruhe drüber reden. Jetzt muss ich los. Haut rein!«

Eine Stunde später sind die beiden Fischer und Berta allein. Arno hat fast alles verkauft, er macht noch den letzten Aal sauber.

»Den könnt ihr für die Gaststätte haben«, sagt er. »Soll ich ihn abziehen?« »Ja, gerne. Danke, Arno.« Berta nickt dankbar und folgt Paul in die Bude.

Der hat seit Rubens Abgang kaum noch gesprochen. Schlechte Laune ist in letzter Zeit sein Normalzustand, aber heute wird es selbst Berta zu viel.

»Nun lass dich doch von Fux nicht so runterziehen«, schimpft sie. »Du kennst ihn doch. Er will dich bloß ärgern.«

»Ach, er hat ja recht. Das sind nicht nur die Robben, die Mistviecher, die uns das Leben schwer machen. Das geht hier alles den Bach runter, guck dich doch mal um.«

»Ich sehe einen guten Fang, den ihr gemacht habt und eine Menge Leute, die den Fisch haben wollen. Was soll die Spökenkiekerei?«

»Das ist ja das Verrückte. Die Gäste wollen frischen Fisch haben und es gibt genug. Wir dürfen den bloß nicht fangen. Den Fischen geht es besser als den Fischern.«

Er blickt zur Tür. »Ach, guck an, ein seltener Gast. Schickt Renate dich her? Sie wartet wohl auf den Fisch?«

Anne nickt. »Ja, sie hat heute Mittag alles verkauft und will wissen, ob ihr noch dicken Aal habt, zum Sauerkochen.«

»Ach Gott, das tut mir leid. Sie hätte doch anrufen können.« Berta weiß, dass die Köchin jetzt eigentlich Pause hat, sie hat Teilschicht und muss heute Abend noch einmal wiederkommen.

»Dein Smartphone liegt auf dem Stammtisch. Ich soll den Fisch gleich mitbringen.«

»Nun nimm uns mal nicht die Ruhe. Setz dich erst mal hin. Ierst de Piep in Brand und denn dat Pierd ut’n Groben.«

»Erst die Pfeife in Brand und dann das Pferd aus dem Graben«, übersetzt Berta für Anne, die den Fischer verständnislos angesehen hat.

»Ja, gut, aber Renate wartet.« Zögernd lässt sie sich auf einem Stapel Fischkisten nieder.

»Ich bring den Aal hoch«, ruft Arno durch die Tür. »Ich fahr dann auch gleich nach Hause, oder ist noch was?«

»Nee, mach mal. Bis morgen«, antwortet Paul seinem Kollegen. »Und du?«, wendet er sich an Anne. »Bleib sitzen, wenn du schon mal da bist. Willst ein Bier? Oder lieber einen Korn?«

Berta lacht. »Paul, das ist wie früher. Da könnte manche Bansinerin ein Lied drüber singen. Wie oft hat eine Frau ihren Mann zum Strand geschickt: ›Hol uns mal ein paar Heringe zum Mittag!‹ Und er kam drei Stunden später ohne Hering aber blau wie ein Stint wieder.«

Anne sieht sich um. Der alte Fischer hat aus zwei aneinander gebauten Buden durch Entfernen der Zwischenwand eine gemacht und jetzt genügend Platz für einige Stapel Plastikkisten, einen Berg Netze, einen großen alten Sessel, der neben dem jetzt kalten, eisernen Ofen steht und in dem er sitzt. Bertas Platz ist ein alter Küchenstuhl, der zweite, den Arno benutzt, wenn er Netze flickt, steht unter dem Fenster. Auf einem wackligen Holztisch, der an die Wand gelehnt ist, stehen ein Wasserkocher, ein paar Gläser und Tassen und eine Kaffeedose. Ein Kasten Bier wurde unter den Tisch geschoben, die Schnapsflaschen sind zwischen den Netzen versteckt.

»Wie lange steht die Baracke hier eigentlich schon?«, lenkt Anne ab. »Ganz früher standen hier doch lauter einzelne Buden, nicht?«

»Eine Langbude ist das«, präzisiert Paul. »Ja, die Alten hatten ihre Buden am ganzen Strand entlang stehen, bis nach Heringsdorf. Immer mit Abstand dazwischen. Da gab es Bansin noch gar nicht, jedenfalls das Seebad. Die Fischer kamen aus Dorf-Bansin, Sallenthin und Sellin. So um 1900 haben sie dann die ganzen Hotels und Pensionen gebaut. Die Fischer wohnten immer noch in den Dörfern. Morgens, wenn es hell wurde, im Sommer gegen drei oder vier, gingen sie zum Strand. Unterwegs haben sie sich getroffen und sind dann laut palavernd und mit ihren Holzpantoffeln über das Kopfsteinpflaster klappernd durch den Ort gezogen. Die Gäste – ein vornehmes Volk war das hier in Bansin, lauter Adlige und hohe Militärs, die haben gesoffen wie die Löcher – sind erst zwei Stunden vorher aus der Bar gekommen. Da gab es massenhaft Beschwerden.«

Er lacht. »Was sollten sie machen? Sie konnten die Fischer ja nicht abschaffen oder sonst wohin verbannen, die hatten die älteren Rechte. Aber Gäste brauchten sie auch. Bürgermeister Schmadtke war es dann, der in den Dreißigerjahren eine Lösung fand: Die Fischer sollten durch den Wald gehen – heißt ja heute noch Fischerweg, auch wenn es jetzt eine Straße ist – und da, wo der Weg am Strand endet, wurde die Langbude gebaut.

Jeder Fischer bekam als Entschädigung für seine alte Hütte eine zwei Meter breite neue Bude und den Streifen davor bis zum Wasser pachtfrei auf Lebenszeit. Oder für immer, ich weiß nicht so genau, was in dem Vertrag drinsteht. Theoretisch müsste der noch auf dem Gemeindeamt liegen, aber praktisch werden sie ihn wohl entsorgt haben; spätestens als Bansin mit Heringsdorf und Ahlbeck vereint wurde. Warum sollten die sich auch mit was belasten, was den Fischern nützt?«

»Dir gehören also diese zwei Buden – müssten demnach vier Meter sein.« Anne schätzt die Breite ein. »Und vier Meter breite Dünen und der Strand auch? Ist ja ein Ding.«

»Ja, so ist das. Aber was hab ich davon? Die meisten wissen das gar nicht mehr, interessiert ja auch keinen. Früher war das anders. Ich kann mich noch erinnern, als ich ein Kind war und mein Vater hatte die Bude, haben die sich um jeden Meter gestritten. Die brauchten den Platz ja auch. In den Dünen haben sie die Baumwollnetze zum Trocknen gespannt, da lagen auch alle Boote. Und dann haben sie im Sand die Angeln besteckt: der Fischer saß dabei in einer Grube, links und rechts lagen die Schnüre. Manchmal hat einer dem anderen in die Grube geschissen oder sie haben heimlich die Pfähle versetzt, die waren sich auch alle nicht grün.«

Berta nickt. »Ja, das stimmt. Noch schlimmer wurde es, als nach 1945 die Fischer von Wollin dazukamen, weil ihre Insel polnisch wurde. Denen haben die Einheimischen schon gar nichts gegönnt. Die ersten zwei Jahre haben sie gar nicht miteinander gesprochen.«

»Mussten sie ihnen denn Buden abgeben?«, fragt Anne.

»Nein, die haben neue gekriegt. Die standen da drüben, hinter der alten Ablieferungsbude. Einige haben sie abgerissen, als das »Haus des Gastes« dorthin gebaut wurde«, erklärt Paul.

»Die Fischer hatten schon immer den größten Spaß, wenn sie anderen einen Streich spielen konnten. Aber wenn es drauf ankam, haben sie zusammengehalten«, nimmt Berta das Thema wieder auf. Sie weiß, womit sie ihren alten Freund aufheitern kann.

»Mussten sie ja«, stimmt Paul zu. »Die Arbeit war früher viel schwerer. Und wenn ein Sturm aufkam, mussten sie alle zusammen schauen, dass sie die Boote nach oben und in Sicherheit bringen. Nicht mit einem Traktor, so wie heute. Damals wurden sie per Hand, mit reiner Muskelkraft, hochgekurbelt.«

Berta nickt. »Das war sogar zu DDR-Zeiten noch so. Da mussten die Boote abends auch immer in die Dünen gezogen werden, damit über Nacht keiner Republikflucht begehen konnte.«

»Stimmt«, ergänzt Paul. »Und sie wurden mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das ging zwar auf, wenn man nur dagegen gepisst hat. Aber es war eben Vorschrift, wenn es fehlte, hieß es ›Strafe zahlen‹.«

»So«. Berta steht auf und reckt sich. »Ich geh dann mal Kaffee trinken. Anne, was ist mit dir? Paul, du kannst auch mitkommen. Arno sitzt bestimmt noch bei Sophie.«

»Ja, mag sein, aber ich muss nach Hause. Meine Frau nervt mich schon seit Tagen, ich soll ihr was im Garten helfen.« Er verdreht die Augen. »Irgendwas Schweres, was sie allein nicht schafft. Sie soll sich nicht so anstrengen, ist auch nicht mehr die Jüngste. Aber ihr Garten ist eben ihr Ein und Alles. Vor allem darf sie sich nicht aufregen, das ist nicht gut bei ihrem Diabetes. Ich werd es heute mal hinter mich bringen, damit ich meine Ruhe hab.«

Tödliche Gier in Bansin

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