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Kapitel 8

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Sie fuhren im Schritttempo durch die schmale Kirchhofstraße, wo die Häuser dicht an den Bürgersteig angrenzten. Jürgen Schnur saß am Steuer, Esther auf dem Beifahrersitz. Seit sie in Saarbrücken losgefahren waren, hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Sie war in den Bericht über das Projektil vertieft, das sie auf dem Limberg gefunden hatten. Schnurs Aufmerksamkeit galt der Suche nach seinem Elternhaus. Es war Schnurs Entscheidung, ein provisorisches Büro in Wallerfangen einzurichten, um vor Ort ermitteln zu können. Einen Computer hatte ihm die Verwaltung der Landespolizeidirektion zur Verfügung gestellt, damit er mit der Dienststelle vernetzt werden konnte, um alle Informationen sofort weiterzuleiten. Dafür wollte er Esther dabei haben, weil seine eigenen Computerkenntnisse über das Bedienen des Textverarbeitungsprogramms nicht hinausgingen.

»Hier ist es«, sprach er mit Erleichterung in seiner Stimme.

»Hast du schon befürchtet, dein Elternhaus nicht mehr zu finden?«

»Ehrlich gesagt, ja! Ich bin schon mal daran vorbeigefahren.«

Kaum hatte er den Wagen abgestellt, trat eine ältere Dame vor die Haustür und schaute den beiden entgegen. Schnur ließ sich von ihr umarmen. Die Frau schwärmte: »Schön, dass du wieder heimkommst, mein Junge.«

»Es ist nur für die Ermittlungen«, wollte Schnur seine Mutter aufklären, aber die Alte war so glückselig, dass sie seine Worte gar nicht hörte.

Ein alter, hagerer Mann trat hinter die beiden. Sein Gesicht wirkte grimmig, seine Bewegungen hölzern. Als er sprach, klang seine Stimme gebieterisch: »Henriette, hörst du nicht, was der Junge sagt?«

Er gab seinem Sohn die Hand zum Gruß.

Endlich fiel die Aufmerksamkeit auf die junge Frau. Der Blick der Mutter wurde schlagartig unfreundlich.

»Wo ist deine Frau?« Mit dieser Frage machte sie ihren Standpunkt klar.

Schnur lachte und antwortete: »Sie ist in Völklingen und geht ihrer Arbeit nach. Das ist Esther Weis, meine Mitarbeiterin. Sie wird hier bei uns bleiben, bis der Fall aufgeklärt ist.«

»Ich beherberge doch keine fremden Frauen!«

»Mutter! Das ist meine Arbeitskollegin. Sie bearbeitet mit mir zusammen den Fall.«

Schnurs Vater gelang es, die Mutter zu überzeugen: »Stell dich nicht so an! Die Frau ist nur zum Arbeiten hier.«

Mürrisch lenkte die alte Dame ein. Wie eine verstockte Prozession traten sie hintereinander in das enge Haus.

Esther fühlte sich nicht willkommen. Die Begrüßung hatte ihr gereicht. Es war ihr ohnehin unangenehm, zusammen mit ihrem Chef in dessen Privatbereich abkommandiert zu werden.

Das Haus war alt, die Einrichtung ebenso. Eine Couchgarnitur stopfte das Wohnzimmer voll, wirkte abgenutzt, wenn auch sehr gepflegt. Die Schränke waren viel zu groß und zu hoch, die Fenster zu klein. Die Sicht fiel direkt auf einen bewaldeten Berg; kein Licht drang von draußen herein. Zum Glück hielten sie sich nicht lange dort auf, sondern stiegen unverzüglich eine schmale, steile Holztreppe nach oben.

Schnur ging voran, öffnete eine Tür auf der rechten Seite und betrat ein Zimmer, das nur mit einem alten, kleinen Schreibtisch und zwei Stühlen bestückt war.

»Das war früher mein Kinderzimmer«, erklärte er seiner Kollegin. »Hier werden wir unser Büro einrichten.«

Die Sicht aus dem Fenster war die gleiche wie im Wohnzimmer – nur Berg und Wald.

Esther bemühte sich, gleichmütig zu wirken, aber Schnur hatte ihre Verfassung schon erkannt.

»Du sollst dich hier nicht heimisch fühlen, sondern die Arbeit am Computer übernehmen und mir bei den Befragungen vor Ort helfen.«

»Ich sage ja gar nichts.«

Schnurs Eltern verzogen sich, als die beiden begannen, den Computer und das Arbeitsmaterial einzurichten. Esther übernahm die Aufgabe, alle Geräte anzuschließen, was ihr problemlos gelang. Schnur sortierte die Akten und Papiere, die er inzwischen über den Fall hatte zusammentragen lassen. Dabei stellte er fest, dass das Material sehr dürftig war.

»Seit unsere Akten in das Informationssystem übertragen werden, kommen wir nur noch mit Mühe und Not an sie heran«, murrte er.

»Du kennst dich mit der modernen Technologie einfach nicht aus. Das ist alles.« Mit dieser Bemerkung hielt sie Schnur den Bericht über das Projektil entgegen und fügte an: »Hier ist der ballistische Bericht. Darin steht, dass das Projektil, das Erik auf dem Limberg gefunden hat, vom Kaliber 6,5 x 57 stammt.«

»Das ist aber nicht alles, was das steht?«

»Nein. Unter Steiners Waffen ist eine Repetierbüchse Sauer 90 Stutzen mit Kaliber 6,5 x 57.«

»Und weiter?«

»Entgegen Steiners Aussage wurde genau mit dieser Sauer 90 erst vor kurzem geschossen.«

»Also kommt Steiner für den Schuss auf dem Berg in Frage.«

»Wir müssen noch den Abgleich abwarten. Den Bericht will uns Theo Barthels per E-Mail zuschicken. Am besten ist es, ich schließe erst einmal den Computer an und fahre ihn hoch.«

Es dauerte nicht lange, da hatte sie den Kabelsalat entwirrt, jeden Stecker an seinen Platz und den Computer zum Laufen gebracht. Sie aktivierte die Netzverbindung mit der Dienststelle in Saarbrücken und schaute sich alle neuen Informationen an.

»Hier ist der noch ausstehende Bericht der Ballistik.«

»Druck ihn mir bitte aus«, rief Schnur aus dem Nebenzimmer, wo er gerade damit beschäftigt war, sein Schlaflager einzurichten.

Sein Blick fiel auf den Spiegel.

Den hätte er sich besser erspart, dachte er, als er seine hohe, breite Stirn sah. Sein krauses Haar wurde an den Schläfen grau. Schon in jungen Jahren waren seine Haare licht geworden. Inzwischen waren seine Geheimrats­ecken so groß, dass er befürchtete, seine Stirn würde bis zum Hinterkopf freigelegt. Die Glatze kam unweigerlich auf ihn zu. Nur warum quälte er sich damit? Steiner hatte schon seit Jahren eine Vollglatze und strotzte vor Selbstsicherheit. Dafür wurde Schnurs Bartwuchs stärker. Umso ärgerlicher, weil dadurch das Rot deutlicher leuchtete. Er rieb sich über das stoppelige Kinn, ließ sich auf dem Stuhl vor der Kommode nieder, ohne sein Spiegelbild aus den Augen zu lassen.

»Der alte Barbarossa, der Kaiser Friederich.

Im unterirdischen Schlosse hält er verzaubert sich.

Sein Bart ist nicht von Flachse, er ist von Feuersglut.

Ist durch den Tisch gewachsen, worauf sein Kinn ausruht.«, hörte er plötzlich Esthers Stimme hinter sich.

Er drehte sich um und reagierte gereizt: »Spionierst du mir nach?«

»Nein! Ich sollte dir den Bericht der Ballistik bringen. Hier ist er.«

Nach kurzem Zögern fragte Esther endlich, was sie schon länger beschäftigte. »Was ist mit dir los? Seit du zum Chef befördert worden bist, benimmst du dich wie ein unnahbarer Klotz.«

Sofort legte Schnur seine Feindseligkeit ab.

»Entschuldige. Ich bin einfach nur mit dem falschen Fuß aufgestanden.«

»Hat das vielleicht mit deiner Begegnung mit Steiner zu tun? Du lässt kein gutes Haar an ihm.«

»Er hat überhaupt kein Haar«, konterte Schnur.

Aber Esther Weis zerschmetterte diesen Triumph sofort, indem sie antwortete: »Das steht ihm aber verdammt gut. Es gibt Männer, die sehen mit Glatze besser aus als Männer mit Haaren. Kojak, zum Beispiel.«

»Kojak ist seit 1994 tot. Wie kommst du gerade auf ihn?«

»Du kennst dich ja gut mit Kojak aus.« Esther staunte.

»Meine Frau war vermutlich sein größter Fan«, sprach Schnur mit verstellter Stimme. »Jahrelang bin ich mit Hut auf dem Kopf und Lolly im Mund herumgelaufen, damit sie mich überhaupt wahrnimmt.«

Sie zweifelte: »Ob das was genützt hat?«

Verdutzt schaute Schnur seiner Kollegin nach, wie sie im Arbeitszimmer verschwand. Er zögerte nicht lange, sondern folgte ihr mit den Worten: »Du wirst hier keinen Schritt ohne mich machen.«

»Wovor hast du Angst?«

»Warum wurden früher die Töchter von ihren Müttern in den Häusern eingesperrt, wenn es hieß, Casanova kommt in die Stadt?«, reagierte Schnur mit einer Gegenfrage.

»Du hast Angst, Harald Steiner könnte mich verführen.« Esther lachte.

»Ich habe Augen im Kopf.«

»Du bist seit über zwanzig Jahren glücklich verheiratet. Warum interessiert dich das Liebesleben eines Mannes, dessen Leben weniger beneidenswert verlaufen ist?«, fragte sie staunend.

»Mich interessiert nicht das Liebesleben von Steiner, sondern deins.«

»Wie bitte?«

»Ich arbeite seit sieben Jahren mit dir zusammen und habe oft deinen Liebeskummer miterlebt«, gab Schnur nun in einem sanfteren Ton zurück. »Es ist mir nicht egal, wenn du leidest.«

Esther Weis schluckte.

»Ich weiß, dass du dich mit Andreas Hübner, Erik Tenes und Bernhard Diez dreimal hintereinander ins Unglück gestürzt hast.«

»Erik hat mich nicht ins Unglück stürzen können, weil er von Anfang an kein Interesse an mir zeigte. Er läuft hinter Anke her, seit er auf unserer Dienststelle ist«, unterbrach Esther.

»Lenk nicht vom Thema ab«, maßregelte Schnur in einem Tonfall, der Esther aufhorchen ließ. Sie spürte, dass ihr diese Unterhaltung zu nahe ging. Aber Schnur ließ sich nicht mehr aufhalten: »Daran erkenne ich, dass du mit deiner Wahl der Partner kein glückliches Händchen hast. Ich will vermeiden, dass Steiner der nächste auf deiner Liste der Enttäuschungen wird.«

Obwohl für Schnur das Thema damit beendet war, fing es für seine Kollegin erst an. Sie schaute ihren Vorgesetzen an, erkannte in seiner Miene weder Geringschätzung noch Ironie. Seine Anteilnahme an ihren Gefühlen wirkte echt.

Schnur erwiderte den Blick. »Habe ich mir zu viel herausgenommen?

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne das nicht, dass sich jemand dafür interessiert, wie es mir geht. In meinem Leben hat sich bisher keiner Gedanken darum gemacht. Meine Mutter interessiert sich mehr für den Inhalt ihrer Schnapsflasche, mein Vater hat uns verlassen, als ich noch sehr klein war.«

Jetzt erst merkte Schnur, wie wenig er über seine Mitarbeiterin wusste. Es war wohl ein Fehler gewesen, sich von den Kollegen abzuschotten und nur die berufliche Seite zu zeigen. In Esther Weis hatte er immer die blonde, schöne Frau gesehen, die unüberlegt neue Beziehungen zu Männern anfing. Heute konnte er das erste Mal einen Blick hinter diese Fassade werfen und sah eine einsame, traurige Frau, die mit ihrem Leben keineswegs so einverstanden war, wie es nach außen schien.

»Ich will deinem Glück nicht im Wege stehen«, bemerkte er mit brüchiger Stimme. »Nur befürchte ich, dass Steiner deine Erwartungen nicht erfüllt.«

»Ich werde aufpassen.«

»Das hört sich vernünftig an.«

Mit diesen Worten beendete er das Thema und widmete sich dem Bericht, den er immer noch in den Händen hielt.

Schnur las in erstauntem Tonfall vor: »Da steht, dass kein hundertprozentiger Abgleich zu Steiners Waffe durchgeführt werden konnte, weil das Projektil deformiert ist.«

»Heißt das, die Ballistik ist mit ihrem Latein am Ende?«

»Weiterhin steht da, dass die Kugel mit einem fünfzehn Jahre alten Projektil aus der Waffe von Eduard Zimmer verglichen wurde.«

»Wer ist Eduard Zimmer?«

»Harald Steiners Vorgänger. Er nahm sich mit seiner eigenen Waffe das Leben«, antwortete Schnur, ohne seinen Blick von dem Bericht abzuwenden.

»Warum wurde dieser Vergleich angestellt?«, fragte Esther.

»Weil diese Waffe in unseren Akten immer noch als verschwunden gilt«, antwortete Jürgen Schnur. »Ich als ehemaliger Aktenhengst habe mich sofort daran erinnert. Die Nähe des neuen Tatortes zu dem Ort des Verschwindens der Waffe von damals hat mich auf die Idee zu diesem Vergleich gebracht.«

»Das finde ich gut.« Esther grinste. »Da sieht man mal wieder, dass du selbst nicht an Steiners Schuld glaubst.«

»Nicht so hastig, liebe Esther«, bremste Jürgen Schnur Esthers Eifer. »Es gibt zwar eine markante Kratzspur auf beiden Geschossen, weshalb nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kugel aus Zimmers Waffe stammt.«

»Also ist Steiner aus dem Rennen?«

»Nicht ganz. Es gibt weitere Riefen. Aber das Projektil war so verformt, dass es nicht exakt mit dem Projektil, das in der Ballistik abgefeuert wurde, verglichen werden konnte. Eine mikroskopische Untersuchung kann nur Ähnlichkeiten feststellen. Das zählt nicht als Beweis.«

»Enttäuscht?«

»Nur entsetzt! Zimmers Waffe ist vor fünfzehn Jahren spurlos verschwunden. Sollte sie jetzt wieder auftauchen, wirft das eine Menge neuer Fragen auf.«

»Die Tatsache, dass Bernd Schumacher im Besitz dieser Waffe war, zwingt uns die Frage auf, wie er daran gekommen ist«, überlegte Esther laut.

»Das Verschwinden von Zimmers Waffe war damals schon eine undurchsichtige Angelegenheit.«

»Das Verschwinden einer Waffe ist immer undurchsichtig«, bemerkte Esther. Aber Schnur ließ sich nicht ablenken, sondern sprach weiter: »Es handelt sich um eine Blaser R 93 Royal, mit einer handgefertigten Gravur. Zudem war der Schaft aus geschnitztem Nussbaumholz mit einer besonderen Maserung, was den Wert der Waffe erheblich steigert. Der Preis betrug damals schon vierzigtausend Mark.«

»Wer gibt so viel Geld für einen Repetierer aus?«

»Idealisten«, antwortete Schnur. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat Kullmann damals den Fall Eduard Zimmer bearbeitet. Ich komme nicht umhin, mit ihm darüber zu sprechen.« Schon griff er nach dem Telefon. Während er Kullmanns Nummer wählte, fügte er an: »Bis der Aktenführer die Akte herausgesucht hat, hat Kullmann mir alles erzählt.«

»Heißt das, wir fahren zurück nach Saarbrücken?«

Bevor Schnur seiner Mitarbeiterin antworteten konnte, sprach er in den Hörer.

»Nein, Kullmann kommt hierher« sagte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

»Warum nimmt er den weiten Weg auf sich?« Sie klang enttäuscht.

»Er lässt es sich nicht nehmen, nach all den Jahren den Limberg wieder zu sehen«, antwortete Schnur. »Aber mach dir keine Sorgen, wir fahren noch oft genug nach Saarbrücken. Forseti will über alles informiert werden. Er besteht darauf, dass ich persönlich antrete. Seinen Unmut über meine Einsatzzentrale vor Ort lässt er mich jetzt schon spüren.«

Kullmann auf der Jagd

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