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Kapitel 7

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Der neue Morgen begann mit einem Geräusch, das Steiner vertraut vorkam. Seine Müdigkeit hinderte ihn daran, sofort zu reagieren. Schon leckte ihm Moritz über das Gesicht, was besser wirkte als jede kalte Dusche.

Erst jetzt erkannte Steiner die ungewöhnliche Situation. Jemand machte sich vor seinem Haus zu schaffen, ohne dass der Hund anschlug.

Er zog sich an und trat hinaus. Moritz verschwand blitzschnell aus Steiners Blickfeld. Hastig folgte Steiner ihm. Im hinteren Teil des Geländes erblickte er Micky, wie er gerade ein großes Loch mit angehäufter Erde zuschüttete. Steiner ahnte, dass dort der Rehkadaver vergraben worden war.

»Wie schaffst du es, so früh hier oben zu sein?«

Micky lachte seinen Freund an: »Ich muss dir doch helfen. Schließlich bin ich dein Adjutant.«

Das zufriedene Lächeln im Gesicht des Jungen versetzte Steiner einen Stich. Er wusste, dass Micky es gut meinte. Gleichzeitig erkannte er, dass er Micky niemals begreiflich machen konnte, dass ihm das Verscharren der Tiere mehr schadete als nützte. Doch wie sollte er Micky von seiner guten Absicht abhalten, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen?

»Nach dieser anstrengenden Arbeit hast du bestimmt Hunger?« Etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein.

Micky nickte.

Steiner wusste, dass Micky sich zu nachtschlafender Zeit aus dem Eltern­haus schlich, weshalb er grundsätzlich mit leerem Magen bei Steiner auftauchte. So war ein gemeinsames Frühstück mit Micky für Steiner inzwischen zur Gewohnheit geworden – und noch mehr. Er genoss Mickys Gesellschaft.

Während sie am reich gedeckten Tisch saßen, überlegte Steiner, wie viele Kadaver Micky inzwischen schon vergraben hatte. Immer waren es Opfer mutwilliger Zerstörung. Anfangs hatte er dieser Tatsache keine Bedeutung beigemessen. Inzwischen sah er das anders. Zu viele Tiere wurden überfahren. Im Wald herrschte kein reger Autoverkehr; im Dorf lief das Wild nicht auf der Straße. Also waren es keine Zufallsopfer, die vor seiner Tür abgelegt wurden. Jetzt gesellten sich auch noch todbringende Schlingen dazu. Das Wild war in seinem vertrauten Wald nicht mehr sicher. Der Anblick des erhängten Tieres haftete noch in seinem Kopf. Viele Rehe und noch mehr Hasen ließen ihr Leben auf unwaidmännische Weise, wodurch Steiner sich nicht in der Lage sah, seinen Abschussplan für dieses Jahr einzuhalten.

Der Gedanke ließ ihn frösteln. Ließen die Dorfbewohner nichts aus, ihn um den Posten des Revierjägers vom Limberg zu bringen?

Moritz begann zu bellen. Schritte näherten sich dem Haus.

Hastig stand Steiner auf und eilte zur Tür. Bevor sein Besuch klingeln konnte, hatte er sie aufgerissen.

Vor ihm stand Esther Weis, die Kriminalkommissarin.

»Na, wenn das mal keine positive Überraschung ist?«

»Ich muss Sie enttäuschen«, entgegnete die blonde Frau. »Wir haben den Beschluss von der Staatsanwaltschaft bekommen, Ihr Haus zu durchsuchen.«

Steiners Gesicht wirkte zunächst ratlos. Einige Sekunden verstrichen, bis er endlich reagierte. Schicksalsergeben raunte er ihr zu: »Eine genaue Untersuchung meines Körpers reicht Ihnen wohl nicht. Sie wollen mein ganzes Leben durchleuchten.«

Esther verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, bevor sie meinte: »Ich habe das nicht veranlasst. Das war Jürgen Schnur, mein Chef.«

»Tun Sie nur, was er sagt?«

»Solange es dienstlich ist, ja!«

»Das verstehe ich als Abweisung, ich bin enttäuscht.« Steiner grinste Esther von oben herab an.

Sie trippelte nervös. »Wer wird hier gefilzt, Sie oder ich?«

»Finden Sie es heraus!« Steiners Grinsen nahm mokante Züge an.

»Sie schaffen es doch tatsächlich, mich in Verlegenheit zu bringen«, gestand sie. »Dabei dachte ich, ich sei abgebrüht.«

»Das macht wohl das Alter aus.«

»Ich lebe auch nicht erst seit gestern.«

»Aber zwischen uns liegt ein großer Altersunterschied. Ich könnte Ihr Vater sein.«

Esther erwiderte seinen Blick nicht, sie schaute auf die eintreffenden Kollegen, die gleich mit ihrer Arbeit begannen – allen voran Jürgen Schnur.

»Jetzt können Sie so richtig meine Privatsphäre unter die Lupe nehmen.« Steiner feixte. »Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht.«

»Es reicht jetzt«, funkte Schnur dazwischen.

Sofort änderte Steiner seinen Tonfall, als er mit dem ehemaligen Kollegen sprach: »Du spielst dich hier auf wie ein Despot. Hast du vergessen, wer ich bin?«

»Ich glaube, dass du etwas vergessen hast«, konterte Schnur. »Heute leite ich hier die Ermittlungen im Fall Bernd Schumacher. Inzwischen bin ich zum Hauptkommissar mit Leitungsfunktion befördert worden und sehe zu, dass ich meiner Aufgabe gerecht werde.«

»Das hat aber ganz schön lange gedauert, bis du endlich mal Karriere gemacht hast«, stichelte Steiner. »Warum wohl?«

»Während du dich damals Tag und Nacht um die Arbeit gerissen hast, hatte ich eine Familie, die meine Aufmerksamkeit brauchte. Bis heute bereue ich meine Entscheidung nicht.«

Die Parade saß. Steiner schluckte.

In einem versöhnlicheren Tonfall fügte Schnur an: »Und dann trittst du ganz plötzlich vom Dienst zurück. Nicht etwa, um deine Familie zurückzugewinnen – nein, weil ein Einsatz ohne dein Verschulden schief gelaufen ist. Warum?«

»Warum was?« Steiner fühlte sich überrannt.

»Warum hast du damals das Handtuch geworfen? Dein Einsatz wurde hundert Mal bis ins Detail nachbereitet. Die Dienstaufsicht konnte keinen Fehler deinerseits feststellen. Es war ein dummer Zufall, dass der Hund dieser Frau einfach nicht hören wollte.«

Steiner schwieg.

»Bernd Schumacher hatte den tödlichen Schuss abgefeuert. Nicht du. Auch nicht einer deiner Männer auf deinen Befehl hin. Das wurde zweifelsfrei bewiesen«, sprach Schnur weiter.

»Schumachers Komplize wurde tödlich getroffen, als es auf meinen Befehl hin zum Schusswechsel kam«, hielt Steiner dagegen. »Durchsiebt von einer MP!«

»Das war Notwehr. Es wurden überall Projektile von Schumachers Waffe gefunden.«

»Und der dritte Mann, der die Entführung organisiert hat, ist spurlos verschwunden. Bis heute gibt es keinen Hinweis auf ihn«, zählte Steiner weiter die Liste seiner Fehler auf.

»Schumacher hat ihn niemals verraten. Wie sollten wir den Mann ausfindig machen, von dem wir nichts wussten – weder Namen, noch Aufenthaltsort?«

»Wer sagt uns, dass dieser dritte Mann nicht weiter Kindesentführungen plant und ausführt?«

»Das oblag nicht deinen Aufgaben«, hielt Schnur dagegen. »Den dritten Mann zu finden war die Aufgabe des Kommissariats für Entführung, Erpressung und Geiselnahme. Warum sich für andere den Kopf zerbrechen?«

Steiner verstummte.

»Niemand von uns hat deine Reaktion von damals verstanden. Du warst ein guter SEK-Beamter, der beste Einsatzleiter mit einer Karriere wie aus dem Bilderbuch. Und dann kapitulierst du nach einem Missgeschick, das jedem hätte passieren können.«

»Ich möchte nicht mehr darüber reden«, blockte Steiner ab. »Sag mir lieber, was diese Hausdurchsuchung soll. Bin ich immer noch verdächtig?«

»Wir haben das Ergebnis der Obduktion der Leiche …«

»Lass mich raten, was die Todesursache ist«, fiel ihm Steiner ins Wort. »Nierenversagen.«

»Was soll das? Du weißt doch, dass er geköpft wurde.«

»Eben! Was sollte die Obduktion für Überraschungen bringen?«

»Am erstaunlichsten ist die geringe Menge Blut am Tatort. Das Team der Spurensicherung hat einen halben Kubikmeter Erde darunter ausgehoben und untersucht. Nichts!«

»Dafür kommen die Satanisten infrage, nicht ich.«

»Bisher gehörte das Köpfen durch eine Holzspaltmaschine nicht zu den üblichen Praktiken einer Schwarzen Messe«, entgegnete Schnur schroff.

»Deshalb suchst du bei mir nach Blut?«

»Nicht nur das: Der Tote hatte außerdem Schmauchspuren an den Händen.«

»Es wurde ein Schuss abgefeuert, weshalb ich im Wald war, um die Nachsuche zu machen.«

»Es wurde aber keine Waffe bei dem Toten gefunden.«

»Vielleicht liegt sie dort, wo der Kopf gelandet ist«, schlug Steiner vor.

»Was glaubst du eigentlich, was wir hier machen?« Schnur wurde ungeduldig. »Ich bin nicht mehr der nette Kaffee kochende Kollege, der sich die Arbeiten aufs Auge drücken lässt, die sonst keiner machen will. Ich habe dazugelernt.«

»Freut mich für dich! Und was suchst du hier bei mir?«

»Die Waffe, die Bernd Schumacher bei sich trug.«

»Woran willst du sie erkennen?«

»Wir werden alles, was wir hier finden, nach Fingerabdrücken unter­suchen und prüfen, ob in letzter Zeit ein Schuss abgefeuert wurde.«

»Ich habe mit meiner eigenen Waffe einen Schuss abgefeuert – und zwar einen Fangschuss für den angeschossenen Bock. Den Revolver kann ich dir mitgeben.«

»Danke für dein Entgegenkommen«, bemerkte Schnur, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Außerdem müssen wir zu der Stelle, an der du den Bock gefunden hast. Wir brauchen die Patrone.«

»Das wird nicht einfach«, gab Steiner zum Besten. »Hier oben wird viel geschossen. Vermutlich findest du dort hunderte Patronen.«

»Du wirst mir zeigen, wo der Bock angeschossen worden ist. Dein Hund kann uns hinführen.«

»Wann gehen wir los?«

»Wenn wir das Haus durchsucht und alle Waffen sichergestellt haben.«

»Alle? Das kannst du nicht machen«, fuhr Steiner aufgebracht hoch. »Ich habe dir doch gesagt, welche Waffe ich für den Fangschuss im Einsatz hatte. Warum noch die anderen mitnehmen?«

»Du stellst Fragen!«, gab Schnur zurück. »Hast du in den Jahren, seit du hier als Waldschrat in der Einsamkeit lebst, vergessen, was Polizeiarbeit ist?«

»Ich brauche meine Waffen. Das ist mein Arbeitswerkzeug.« Steiner ging nicht auf Schnurs Anspielung ein.

»Du kannst sie dir heute Abend bei uns im Kriminallabor abholen. Theo Barthels wird dich anrufen, wenn er fertig ist.«

»Der gute alte Theo.« Steiners Stimme klang sofort besänftigt, als er den Namen hörte. »Der hatte Glück mit seiner Laufbahn. War es nicht Norbert Kullmann, der ihn an diesen Platz brachte?«

Jürgen Schnur nickte.

»Was macht Kullmann eigentlich? Ist er in Pension oder hat es ihn erwischt?«

»Er ist in Pension und glücklicher Ersatzopa.«

»Was ist ein Ersatzopa?«

»Er hat eine junge Kriminalbeamtin eingearbeitet, Anke Deister. Sie wurde alleinerziehende Mutter, Kullmann zur gleichen Zeit Rentner. Da ergab es sich wie von selbst, dass Kullmann und seine Frau sich um das Kind kümmerten, damit Anke weiter ihrer Arbeit bei uns nachgehen kann.«

»Norbert Kullmann ist verheiratet?« Steiner staunte. »Meine Güte! Wie viel sich doch verändert hat. Dem alten Kauz hätte ich so was nie zugetraut.«

»Er hat Martha aus Marthas Kneipe geheiratet. Das war eine gute Wahl, denn Kullmann sieht so gut aus wie nie zuvor.«

»Da sieht man wieder, dass es für die Liebe nie zu spät ist«, sinnierte Steiner und beobachtete, wie Esther Weis mit seiner Blaser R 93 in der Hand an ihm vorbeiging.

Ein Beamter trat auf Schnur zu und erklärte: »Wir haben eine Repetierbüchse Sauer 90 Stutzen mit Kaliber 6,5 x 57, eine Blaser R 93 Standard, Kaliber 9,3 x 62, eine Bockbüchsflinte, Kaliber 12/76 mit Einstecklauf 5,6 x 52R, eine Blaser BBF 95, einen Revolver .357 Magnum und eine Pistole mit Kaliber 7,65 gefunden. Wenn Herr Steiner in dem Haus keine geheimen Kammern oder unterirdische Gänge unterhält, dürfte das sein gesamtes Waffenarsenal sein.«

Die Polizisten verließen das Haus.

Kullmann auf der Jagd

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