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Kapitel 3

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Die Zeit, die Steiner mit seinem Hund allein in dem kargen Raum saß, nutzte er, um nachzudenken. Der Einsatz vor fünfzehn Jahren hatte sein Leben entscheidend verändert. Lange hatte er sich eingeredet, dass er so besser dran war. Aber wenn er ehrlich blieb, hatte er sein Ziel verfehlt. Der Gang in das neue Gebäude der Kriminalpolizeiinspektion hatte ihm verdeutlicht, dass es ein notgedrungener Schritt gewesen war und keine freiwillige Entscheidung. Er arbeitete Tag und Nacht allein im Wald, erstellte Abschusspläne für das Wild, das in einem Jahr geschossen werden durfte, organisierte den Holzeinschlag für den Herbst, damit der Baum­bestand des Waldes im Gleichgewicht blieb. Nichts davon entsprach seiner ursprünglichen Berufung, Menschen in Notsituationen zu helfen. Seine einzigen menschlichen Kontakte galten dem Kampf gegen die Wilderer, die seine Arbeit in Frage stellten, den Komplikationen mit den Leuten aus dem Dorf, deren Ziel es war, ihn um seinen Arbeitsplatz zu bringen, und einem Jungen mit Down-Syndrom. Die meisten Gespräche beschränkten sich auf die Monologe mit seinem Hund Moritz.

Er schaute hinab auf den Münsterländer. Sogar der Hund war ein Erinnerungsstück an den gescheiterten Einsatz. Damit hatte er so etwas wie eine Wiedergutmachung bezweckt, wobei er sich immer noch nicht sicher war für wen: für den Hund oder sich selbst?

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Mit diesen Worten stürmte Schnur in das Vernehmungszimmer.

Moritz setzte sich wachsam auf und behielt Schnur genau im Auge.

»Nicht schlimm.« Steiner lächelte schwach. »Ich habe die Zeit genutzt, um nachzudenken.«

»Was kam dabei heraus?«

»Dass die Vergangenheit mich wieder eingeholt hat.«

»Stimmt. Du befindest dich in einer äußerst unglücklichen Situation«, gab Schnur zu bedenken. »Bernd Schumacher hat dir vor fünfzehn Jahren schon einmal geschadet.«

»Und deshalb begebe ich mich auf das Niveau eines Verbrechers?«

Jürgen Schnur ging nicht auf die Bemerkung ein. »Wie wir inzwischen vom Gefängnis Lerchesflur erfahren haben, sprach er über die ganzen Jahre hinweg immer nur von Bezahlen. Was meinte er damit?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Du warst doch regelmäßig auf dem Lerchesflur.«

Steiner bewegte sich unruhig hin und her. »Aber nicht bei Bernd Schumacher.«

»Das wissen wir auch. Die Angestellte der Gefängnisverwaltung war sehr gesprächig. Einen guten Geschmack hast du«, reagierte Schnur süffisant.

Steiner fühlte sich unbehaglich. Er wusste, dass sein Privatleben nicht mehr existierte, wenn er der einzige Verdächtige in diesem Fall bleiben würde. Er bekam jetzt schon einen Vorgeschmack auf die Scham, die dann auf ihn zukam.

»Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass du dort etwas über ihn in Erfahrung gebracht hast – ob gewollt oder ungewollt.«

Steiner rieb sich über die Glatze, sagte aber nichts.

»Du weißt doch selbst aus deinen Erfahrungen als Polizeibeamter, wie so etwas für einen Verdächtigen aussieht«, hakte Schnur nach.

»Ja! Das ist das Ärgerliche. Ich wusste nichts von Bernd Schumachers Plänen. Damals bin ich nach Wallerfangen gegangen, weil ich dachte, dort bin ich weit weg und komme nie mehr mit diesem Fall in Berührung.«

»Die Absicht ist aber sehr undurchsichtig.«

»Warum?« Steiner horchte auf.

Eine Weile schwiegen sich beide an, bis Schnur endlich die Bombe platzen ließ: »Bernd Schumacher ist in Wallerfangen geboren und aufgewachsen.«

Steiner starrte Schnur fassungslos an.

»Warum kehrt er ausgerechnet in das Dorf zurück, wo der Mann arbeitet, der ihn vor Jahren ins Gefängnis gebracht hat?«

»Heimattreue?«, rätselte Steiner ironisch.

Jürgen Schnur schaute Steiner eindringlich an, bis dieser sich auf seinem Platz wand wie ein Aal. »Wallerfangen ist nicht gerade der Nabel der Welt. Du lebst und arbeitest in diesem Dorf, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen. Wie geht das?«

»Ich kam als Fremder und bin die ganzen fünfzehn Jahre ein Fremder geblieben«, gestand Steiner.

»Und wie bist du an den Job gekommen, auf den auch Einheimische scharf waren?

»Otto Siebert hat mir die Arbeitsstelle vermittelt.«

»Natürlich! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Alle Eltern, deren Kinder einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind, rennen mir heute noch die Türen ein, um sich bei mir zu bedanken«, kam es ironisch von Schnur zurück.

»Otto Sieberts Kind hat die Entführung überlebt.«

»Aber wie?«

»Was soll das heißen?«

»Das Kind ist psychisch krank.«

»Aber es lebt«, konterte Steiner. »Heute machen viele Menschen Psychotherapien. Sogar solche, die nicht entführt wurden.«

»Trotzdem staune ich über die Hilfsbereitschaft von Otto Siebert.«

»Er war damals Staatssekretär im Innenministerium und für die Polizeiangelegenheiten zuständig. Also war er über den Einsatz und meinen Rücktritt bestens informiert.«

»Willst du mir jetzt den Geschäftsverteilungsplan des Innenministeriums aus dem Jahr 1991 erklären?«

»Nein!«

»Dann rede endlich Klartext!« Schnur wurde ungehalten. »Zufällig weiß ich, wem der Limberg gehört – nämlich der Familie Villeroy. Damals, bevor ich Wallerfangen verlassen hatte, hieß deren Verwalter Ernst Barbian. Ob er heute noch in seinem Amt ist, weiß ich nicht …«

»Er ist«, unterbrach Steiner. »Er traf letztendlich die Entscheidung, wer den Posten des Revierförsters auf dem Limberg bekommt.«

»Welche Rolle spielte Otto Siebert dabei?«

»Ihm gehört das Nachbarrevier Hessmühle.«

»Weiß ich.«

»Otto Siebert hatte ständig Ärger mit Eduard Zimmer. Mein Vorgänger hatte das Wild der Hessmühle auf den Limberg treiben lassen, um es dort zu schießen. Otto Siebert wollte nach Zimmers Tod einen Jäger auf dem Posten haben, der mit waidgerechten Methoden arbeitet. Deshalb gab er bei Ernst Barbian einen guten Leumund für mich ab.«

»Und Ernst Barbian macht, was Otto Siebert verlangt?« Schnur schaute ungläubig drein. »Gibt es etwas, womit sich Barbian erpressbar gemacht hat?«

»Keine Ahnung«, wehrte Steiner ab. »Wenn ja, will ich nichts damit zu tun haben. Ich habe schon Ärger genug. In diesem Nest gibt es viele bornierte Unheilstifter, die nichts Besseres zu tun haben, als mich in Miss­kredit zu bringen.«

»Ich stamme auch aus Wallerfangen – falls du es vergessen hast. Sei mit deiner Wortwahl vorsichtiger«, riet Schnur.

»Wie ich oben auf dem Berg mitbekommen habe, kennst du Rolf West, den ewigen Choleriker«, überging Steiner die Warnung.

Schnur nickte.

»Er hatte sich gute Chancen ausgerechnet, diese Stelle zu bekommen, weil er mit dem Verwalter verwandt ist.«

»Leider hat ihm die Verwandtschaft nichts genützt – deine Beziehungen waren besser.« Schnur feixte.

»Dass ich plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht bin, traf ihn wie ein Schlag. Er blieb arbeitslos – was er heute noch ist.«

»Willst du damit den Verdacht auf Subito-Rolf lenken?«

»Den halte ich mit seinem hitzigen Gemüt durchaus für eine solche Tat fähig« antwortete Steiner. »Als Polizist habe ich meinen Eid auf die saarländische Verfassung abgelegt. Daran halte ich mich heute noch.«

»Auch das soll ich dir jetzt glauben? Meine Güte, seit ich diesen Fall bearbeite, muss ich ganz urplötzlich zu einem glaubensstarken Menschen mutieren.«

»Hör auf, so mit mir zu reden«, wurde Steiner plötzlich laut. »Du kennst mich schon seit wir beide bei der Polizei angefangen haben und weißt genau, dass du mir vertrauen kannst.«

»Wirklich?« Schnurs Miene blieb ausdruckslos.

»Was soll das jetzt?« Steiner reagierte gereizt.

»Warum ließ sich Odysseus mit verbundenen Augen und Ohren an den Mast fesseln, als er an den Sirenen vorbeifuhr?«

Ohne zu überlegen antwortete Steiner: »Weil er sich selbst nicht traute.«

»Gut erkannt«, nickte Schnur.

Steiner merkte zu spät, was seine Antwort für ihn bedeutete.

Moritz spürte die Anspannung und begann leise zu knurren.

»Moritz! Aus!«, befahl Steiner. Der Hund gehorchte sofort.

»Was soll das, den Hund Moritz zu nennen?«, reagierte Schnur auf den kleinen Zwischenfall. »Für einen Menschen, der seine Vergangenheit weit hinter sich lassen will, tust du merkwürdige Dinge.«

Steiners Gesichtszüge wurden hart, als er grollte: »Was wird das hier? Willst du mit deiner Beförderung gleichzeitig einen Weltrekord im Aufklären von Fällen aufstellen?« Er schnappte kurz nach Luft und fügte in einem Tonfall an, als würde er einen Sensationsbericht abgeben: »Schon nach einer Stunde Fall gelöst, Jürgen Schnurs Karriereleiter nicht mehr zu stoppen!«

»Hieß nicht das entführte Kind Moritz?« Mit dieser Frage überging er Steiners affektierte Kundgebung.

»Ja.« Steiners Tonfall wurde wieder normal. »Aber nicht nur das Kind, wie du wohl weißt.«

Schnur lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte seine Arme vor seinem Bauch und wartete.

»Da war außerdem der Hund namens Moritz«, sprach Steiner weiter.

»Richtig! Durch das unverhoffte Auftauchen dieses Hundes wurde dein Einsatz in den Sand gesetzt«, stimmte Schnur zu. »Und was willst du damit bezwecken, deinen Hund Moritz zu nennen. Ist das eine Art der Selbst­bezichtigung, weil du damals den Tod einer unschuldigen Frau verschuldet hast?«

Die Luft war zum Zerreißen gespannt.

Es dauerte lange, bis Steiner endlich antwortete: »Mein Moritz ist der Hund von damals.«

Nun war es an Schnur zu staunen. Er stand auf, ging um den Tisch herum und schaute sich das Tier näher an.

»Dann muss er schon fünfzehn Jahre alt sein?«

»Rechnen kannst du.«

Beide blickten auf den braun-weißen Hund, der abwechselnd von Schnur zu Steiner schaute.

»Was hätte ich damals tun sollen? Auch noch das arme Tier ins Tierheim bringen? Das habe ich einfach nicht übers Herz gebracht. Es war schon genug passiert.«

»Du hast den Fall nicht vergessen können«, erkannte Schnur. »Im Gegenteil, du siehst ihn vor dir, als wäre alles erst gestern passiert.«

Steiner sagte nichts dazu.

»Und dann willst du mir weismachen, dass ausgerechnet du Bernd Schumacher, dem Entführer, keinerlei Beachtung mehr geschenkt hast. Er war der Auslöser für alles.«

»Sieh es, wie du willst. Ich habe den Hund mitgenommen und als Jagdhund ausgebildet. So konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

»Aber der Hund erinnert dich doch täglich daran.«

»Nein. Der Hund ist das Beste, was mir passieren konnte. Er hat mich nicht herunterzogen, sondern aufgebaut. Hast du ein Haustier?«

Schnur schüttelte den Kopf und meinte: »Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Das reicht.«

»Ich hatte auch einmal Frau und Kind. Beide habe ich nach dem Einsatz verloren. Was mir geblieben ist, ist der Hund.«

Schnur legte seine angriffslustige Haltung ab, weil er erkannte, dass er auf einen wunden Punkt bei Steiner gestoßen war. Keinem auf der Polizei­dienststelle war damals entgangen, wie dieser Einsatz Steiners Leben verändert hatte. Es gab niemanden, den es kalt gelassen hätte.

»Okay«, lenkte Schnur nach einer kurzen Bedenkzeit ein. »Du hältst dich zur Verfügung.«

Steiner nickte, erhob sich von seinem Platz und steuerte auf den Ausgang zu. Moritz folgte ihm aufgeregt hechelnd, ein Zeichen dafür, dass er froh war, endlich dort raus zu kommen.

Kullmann auf der Jagd

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