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Kapitel 6

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Steiner stand auf den breiten Steinstufen vor dem Fabrikplatz und schaute sich nach allen Richtungen um. Rechts von ihm lag das Restaurant Funzl, ein grünes Eckhaus an der Hauptstraße, das vom Zerfall bedroht wurde. Gegenüber das Limited, das mit seinen mittelalterlichen Kellergewölben warb. Dicht vor ihm fiel sein Blick auf das Gasthaus Zum Felix mit seinem Biergarten, flankiert vom Botan-Grill, der genau auf den China-Thai-Imbiss blickte, das Eckhaus zu Steiners linker Seite. Genau auf Augenhöhe lauerte der Donze. Rechts war er an die Park-Apotheke angebaut. Nützlich, bei dem ungesunden Klima in der alten Kaschemme. Das änderte aber nichts daran, dass Steiner die Trinkbrüder nur bleich und kränklich kannte. Ein einfaches Karlsberg-Urpils-Schild lockte die Gäste an. In diesem Gasthof versammelte sich der Kern der Dorfbewohner, dort wurde über alles geredet, was sich im Dorf ereignete. Wenn Steiner etwas erfahren wollte, musste er zum Donze gehen, auch wenn ihm die düstere Atmosphäre widerstrebte.

Er setzte an, die Straße zu überqueren, als sich die schwarz gekleidete Frau näherte. Sie sah ihn nicht, wirkte verstört, taumelte. Besorgt eilte er auf sie zu und hinderte sie daran, auf die Straße zu stolpern, wo gerade einige Autos vorbei schossen. Überrascht schaute sie hoch. Als sie sein Gesicht sah, blaffte sie: »Gibt es in Wallerfangen nur alte Lustmolche?«

Steiner sah, dass mehrere Knöpfe ihrer Bluse fehlten und einige Haarsträhnen zottelig abstanden. Auch das Zittern, das sie zu unterdrücken versuchte, entging ihm nicht.

»Was ist passiert?«

»Willst dich wohl aufgeilen, oder was?«, kam es schnippisch zurück.

»Nein, ich mache mir Sorgen. Eine junge Frau sollte nachts nicht allein herumlaufen«, beschwichtigte er. »Und schon gar nicht im Wald – so wie Sie das anscheinend ganz gerne tun.«

»Halt dich aus meinem Leben raus, das wird dir doch nicht allzu schwer fallen!«

Die Sturheit brachte Steiner dazu, sie einfach gehen zu lassen. Er schaute ihr nach, wie sie auf unsicheren Beinen über die Straße und genau in die Kneipe stolperte, die er ebenfalls anstrebte.

Langsam folgte er ihr. Vor dem Eingang zögerte er. Eine Weile lauschte er durch die geschlossene Tür den lauten Gesprächen, die offensichtlich von Betrunkenen geführt wurden. Es wurde gestritten, gelacht, Bierhumpen knallten zusammen.

Entschlossen öffnete er die Schwingtür und trat ein. Schlagartig verstummten die Gäste. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. An der Theke saß Rolf West, der mit seiner wuchtigen Masse Platz für zwei beanspruchte und viel Rauch aus Mund und Nase schnaubte. Rechts am großen Stammtisch lümmelte sich Peter Magath in seinem Blaumann, der beängstigend über seinem Bauch spannte. Ihm war der Spitzname Rohr-Pitt verpasst worden. Neben ihm Arthur Winter, genannt Wintergoldhähnchen, dessen Gesicht wie immer gelb schimmerte und dessen spärlicher Haarkranz in einem erstaunlich steilen Winkel zu seinem platten Hinterkopf abstand. Oliver West, Rolf Wests Sohn durfte in der Runde nicht fehlen. Wie sein Vater rauchte er Kette, sein Aschenbecher quoll über.

Anne Richter trat gerade aus der Damentoilette auf den Stammtisch zu. Als sie Steiner sah, stoppte sie kurz, um dann aber ihren Weg fortzusetzen. Sie ließ sich neben Oliver West nieder, der seinen Arm um ihre Schultern legte.

Die Wirtin, eine kräftige Frau, stemmte beide Arme auf die Theke, starrte mit grimmigem Gesicht auf ihre Gäste und blaffte: »Habt ihr keine Manieren? Was soll das, mitten im Satz abzubrechen, wenn einer das Lokal betritt?«

»Ha ha«, kam es von Oliver West. »Steiner kann machen, was er will. Er hat bei den Frauen einen Stein im Brett. Das kann unser Wintergoldhähnchen bestätigen. Seine Frau hat ihn wegen Steiner sitzen lassen.«

Gute Einführung in die Kneipenrunde, dachte Steiner grimmig. Das Gelächter, das Oliver Wests Spruch begleitete, überhörte er. Er sah nur, dass die Gesichtsfarbe von Arthur Winter noch gelber wurde.

Er trat auf die Theke zu und bestellte sich ein Urpils vom Fass. Sofort verließ Rolf West seinen Barhocker, gesellte sich zu anderen Gästen am Ecktisch auf der linken Seite und brüllte: »Neben einem Mörder bleibe ich nicht sitzen.«

Steiner spürte, wie sein Blutdruck in die Höhe schoss.

Absolute Stille herrschte. Sogar der Wirtin hatte es die Sprache verschlagen.

»Du bist vorschnell mit deinen Behauptungen«, entgegnete Steiner, als er wieder Luft bekam. »Die Polizei ist durchaus in der Lage, einen Mörder zu überführen. Und da ich nichts mit der Tat zu tun habe, bin ich auf freiem Fuß.«

»Du bist einer von denen«, dröhnte Rolf West unbeirrt. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Nur deshalb bist du frei und wir müssen um unser Leben fürchten.«

Zustimmendes Gemurmel ging durch die Kneipe. Alle waren sich in diesem Punkt einig.

Steiner fühlte sich wie im Rampenlicht. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Die Informationen, die er sich erhofft hatte, würde er in dieser Gesellschaft nicht bekommen. Jeder Versuch, der Konfrontation aus dem Weg zu gehen, käme einem Schuldbekenntnis gleich. Also trat er die Flucht nach vorn an und fragte: »Warum ist Bernd Schumacher nach Wallerfangen gekommen?«

Die Wirtin rümpfte die Nase, zapfte Bier und sprach: »In der Not weiß jeder, wo er seine Mutter findet.«

»Wer ist das?«

»Die Frau von …«

»Halt deine blöde Klappe!«, kam es von dem Ecktisch. Das war die Stimme von Rolf West.

Steiner schaute zu dem hitzköpfigen Mann. Welchen Grund hatte er, dass der Name der Mutter nicht erwähnt wurde? Er ahnte es.

»Dann hat er dir auch gesagt, was er oben auf dem Limberg wollte«, sprach Steiner Rolf West direkt an.

Der Kopf des Alten wurde hochrot vor Wut, er atmete tief durch und wollte sich von seinem Platz erheben, aber Peter Magath hielt ihn auf.

»Du weißt, zu was Steiner fähig ist«, flüsterte Peter Magath, dass ihn jeder verstehen konnte. »Also bring dich nicht in Lebensgefahr!«

Damit konnte der kleine Mann in seinem Blaumann Rolf West überzeugen, was ihn aber nicht davon abhielt zu brüllen: »Glaub bloß nicht, dass du aus der Sache heil rauskommst! Schumi Bernd hat gesehen, wie du den Bock angeschossen hast und wollte dich zur Rede stellen. Wir hier im Dorf wissen alle, was dort oben passiert ist. Du brauchst dich nicht wie ein Unschuldiger aufzuspielen. Den nimmt dir keiner ab.«

Die Tür ging auf und Siegmund Gerstner, der Oberlehrer, trat ein. Sein rechtes Auge war inzwischen dunkelblau und angeschwollen, sein Gang schwankend. Er setzte sich zu Rolf West an den Tisch.

Steiner konnte es nicht fassen. Helmut Brack hatte nicht getan, was notwendig gewesen wäre. Zu seiner Entrüstung kam eine weitere Erkenntnis: Er sah, dass Anne Richter noch blasser wurde. Sie wollte aufstehen, doch Oliver West zog sie auf ihren Platz zurück. Steiners Blick wechselte zwischen Siegmund Gerstner und der jungen Frau hin und her. Was war zwischen den beiden geschehen?

Trotz des hohen Alkoholspiegels Siegmund Gerstners gelang es ihm, von sich abzulenken. Mit Blick auf Steiner fragte er: »Was will der denn hier? Hat der nicht Lokalverbot?«

»Du bringst uns auf richtig gute Ideen«, reagierte Rolf West sofort darauf. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, dass alle Gläser sprangen.

»Ich schlage vor, wir schicken ihn ins Gasthaus Stranguletti. Wenn er sich dort nicht selbst aufhängt, findet sich bestimmt einer, der nachhilft.«

Grölendes Gelächter folgte auf den makaberen Witz.

»Hast du gehört, Frau Wirtin. Der Kerl bekommt hier nichts zu trinken!«

»Wenn du so weiter säufst, bist du der erste, dem ich kein Bier mehr zapfe«, gab die Wirtin Rolf West zur Antwort.

»Die ist ja schlimmer als meine Alte«, raunte es brummig durch die rauchige Luft.

Oliver West torkelte zum Herrenklo. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, verließ Anne Richter das Lokal.

»Blöde Weiber«, lallte Siegmund Gerstner. »Zuerst machen sie einen an, dann wollen sie nicht mehr.«

Die anderen Männer nickten verstehend, dabei wusste keiner, wovon der Alte sprach. Nur Steiner verstand es. Damit hatte er die Antwort auf seine Fragen, wer aus Siegmund Gerstners Auto gestiegen war und woher das blaue Auge kam. Einerseits freute es ihn, dass Anne Richter sich gut wehren konnte. Andererseits ärgerte es ihn, dass er den Alten deshalb nicht festnageln konnte, weil er dazu nicht mehr befugt war.

Die Stille wurde mit Siegmund Gerstners nächster Frage unterbrochen: »Wo ist der Boss?«

Alle Augen richteten sich auf Steiner.

»Ja! Wo steckt er?«, brüllte Rolf West. »Seit gestern ist er verschwunden. Was hast du mit ihm gemacht?«

»Wer ist der Boss?«, fragte Steiner die Wirtin.

»Das ist Markus Darren. Seine Mutter ist die Schwester von Rolfs Frau.«

»Halt die Klappe«, ertönte es aus der linken Ecke.

»Warum dieser Spitzname?«

»Er war mal Vorarbeiter in der Firma Stahlbau-Rohre. Wurde entlassen, legt aber sein Chefgebaren nicht ab. Er läuft Tag für Tag in seinem schwarzen Anzug herum, womit er den Eindruck erweckt, er sei der Boss.«

»Warum wurde er entlassen?«

»Es reicht jetzt!« Dieses Mal brüllte Rolf West so laut, dass die Wirtin aufhörte zu sprechen.

Steiner hatte genug. Er bezahlte sein Bier und verließ den Donze. Vor der Tür zog er die frische Luft ganz tief ein. Der Rauch, der die Luft in dieser Kneipe verpestete, tat ihm nicht gut. Der Kneipenbesuch auch nicht. So hatte er nur die Bestätigung dafür, dass sie ihn für den Mörder hielten. Er durfte die hitzköpfigen Trinker nicht unterschätzen. Wer wusste schon, auf welche Ideen sie noch kamen? Der Anschlag auf seinen Hund sprach eine deutliche Sprache.

Durch die geschlossene Tür hörte er die aufgebrachten Stimmen der Dorfleute. Am lautesten war Rolf West: »Musst du dem alles erzählen? Vielleicht ist er der Oberguru dieser Satanssekte dort oben.«

»Ich weiß, warum du Harald Steiner nicht leiden kannst. Aber das mit dem Satan kannst du ihm wirklich nicht anhängen, das glaubt dir keiner«, kam es von der Wirtin zurück.

»Bei Schumi Bernd lag kein Blut. Was hat Steiner wohl damit gemacht?«

Steiner erschrak. Rolf West war an der Fundstelle gewesen. Er hatte gehört, was der Gerichtsmediziner festgestellt hatte. Es nun unter den Dorfleuten zu verbreiten, schürte den Hass noch mehr. Aber aufhalten konnte Steiner ihn nicht.

Er fuhr den gleichen Weg zurück, den er gekommen war. Der Mond stand sichelförmig am Himmel und spendete Licht. Der Nebel hatte sich verzogen.

Da war etwas.

Eine Bewegung zwischen den Bäumen.

Die Gestalt war groß. Aufrecht. Das war kein Tier.

Er hielt den Wagen an und versuchte etwas zu erkennen. Aber alles war reglos und still. Sein Nachtsichtfernglas lag in seinem Zimmer auf dem Gutshof.

Langsam fuhr er weiter.

Da sah er es wieder. Eine gerade Gestalt, aber kein Mensch. Die Umrisse konnte er nicht zuordnen. Er spürte, wie ihm Gänsehaut über Arme und Nacken kroch. Hatte er wirklich Angst? Die Erinnerung, wie Bernd Schumachers Überreste blutleer in der Spaltmaschine steckten, löste Beklemmung in ihm aus. Die Umgebung, in der er sich befand, war einsam und dunkel.

Die Silhouette bewegte sich nicht. Und doch glaubte er zu erkennen, wie sich ein dicker Baumstamm wölbte. Die Konturen des Baumes veränderten sich auf eine Weise, die ihn schaudern ließ. Dort versteckte sich jemand.

Lange verharrte er in seinem Wagen. Als ihn die Gewissheit überkam, sich die Veränderungen am Baumstamm nur einzubilden, ließ er die Autoscheibe herunterfahren.

Totenstille umgab ihn. Er stieg aus.

Plötzlich ertönte ein lang gezogenes sonores »Buuuhooo«.

Steiner zuckte zusammen. Erst nachdem er sich wieder beruhigen konnte, erkannte er den nächtlichen Laut, der in den letzten Jahren wieder vermehrt in den heimischen Wäldern zu hören war.

Was war er für ein Jäger, der vor dem Ruf eines Uhus in die Knie ging?

Zögerlich näherte er sich der reglosen Gestalt. Als er direkt davor stand, kam der nächste Schreck. Es war ein Reh, das sich in einer heimtückischen Falle verfangen hatte. Die Schlinge war an dem Baum befestigt und, nachdem der Kopf des Tieres sich darin verfangen hatte, in die Höhe geschnellt. Das Tier hatte sich qualvoll erhängt.

Erschrocken über den grotesken Anblick, wich Steiner zurück. Erst nach einigen Sekunden wusste er, was zu tun war. Er nahm sein Messer heraus, schnitt das Seil durch und legte das Tier auf der Erde ab. Mit einer Taschenlampe untersuchte er den Kadaver. Das Reh war schon lange tot, also keine Notwendigkeit, es auszuweiden und in die Wildkammer zu befördern. Also lud er es in seinen Wagen und beschloss, am nächsten Morgen Jürgen Schnur den Kadaver zu zeigen.

Kullmann auf der Jagd

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