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Kapitel 4

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Die Temperaturen stiegen an, der Nebel lichtete sich, wich der Novembersonne, die sich in diesem Herbst von ihrer schönsten Seite zeigte. Beste Arbeitsbedingungen – wäre da nicht der beunruhigende Gedanke an den zweiten Schuss. Bevor Steiner zu seiner Routine überging, musste er sich an der Kapelle umsehen.

Er schulterte sein Gewehr und trat hinaus. Die Haustür fiel hinter ihm leise ins Schloss. Ganz tief atmete er die kühle Luft ein, sortierte in Gedanken die Gerüche der Bäume, des nassen Laubs und der Herbstblumen, die immer noch den Brunnen zierten und etwas, das den Gesamteindruck von Harmonie jäh unterbrach. Von einer Vorahnung geplagt richtete er seinen Blick auf den Boden direkt neben der Haustür.

Dort lag ein angefahrener Fuchs.

Sein Deckhaar schimmerte unter dem dunklen, verkrusteten Blut rötlich­braun. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, seine Flanken zitterten, seine Nasenflügel bebten. Mit letzter Kraft fletschte er seine Zähne.

Wieder ein Opfer der rachsüchtigen Wildvernichter?

Er nahm seine Repetierbüchse von der Schulter. Auch wenn die Waffe dafür ungeeignet war, so wollte er doch keine Zeit vergeuden, sondern das Tier so schnell wie möglich erlösen.

Wo war Micky?

Vermutlich hatte ihm sein Vater nach der verhängnisvollen Begegnung am Morgen untersagt, das Haus zu verlassen. Jetzt erst erkannte er, welche Dienste ihm der Junge bot. Steiners schlechtes Gewissen meldete sich sofort, denn was jetzt kam war eine unangenehme Schinderei.

Nachdem der Kadaver vergraben war, trat die Haushälterin vor die Tür, stemmte beide Hände in die Hüften und sprach mit Steiner wie mit einem ungehorsamen Kind: »Das wurde auch Zeit. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann. Meine Vorräte liegen im Keller, in den ich nur gelange, indem ich durch den Hof gehe. Wenn dort ein halbtotes Tier liegt, kann ich das nicht. Ich ekle mich davor.«

»Das tut mir wirklich leid«, mehr konnte Steiner nicht dazu sagen. Er ahnte, dass die Attacken so schnell nicht aufhörten – im Gegenteil: Der Leichenfund am Morgen würde die Leute im Dorf noch mehr gegen ihn aufbringen.

Er nahm seinen Feldstecher, pfiff nach Moritz und marschierte den Berg hinauf.

An der Kapelle war alles still, kein Spaziergänger, keine Fahrradfahrer, nichts. Er gab Moritz die lange Leine, damit der Hund den Boden absuchen konnte. An einigen Stellen zeigte der Hund große Aufregung, aber eine Spur fand er nicht. Mehrere Male suchte er den Platz ab, wobei er seinen Radius vergrößerte, nichts. Er umrundete das ehemalige Kloster, das für die Treibjagd im Dezember hergerichtet werden musste. Die Bauarbeiter waren bestellt, aber bisher war noch niemand eingetroffen. Verlassen lag die Ruine da.

An der Seite klaffte ein Mauerdurchbruch. Steine waren aus dem alten Gemäuer herausgeschlagen worden. Verstreut lagen sie im Gestrüpp. Verärgert sammelte er sie auf und verbarrikadierte damit notdürftig den Durchgang.

Sein Hund verhielt sich weiterhin ruhig. Also konnte er seine Suche nach einem angeschossenen Tier einstellen.

Für Steiner galt, sich um den Kirrplatz für das Schwarzwild zu kümmern, den er rechtzeitig herrichten musste. Auf dem Limberg konnte der Winter hartnäckig werden, weil die Höhenlage und der dichte Baumbestand dafür sorgten, dass der Schnee nicht so schnell schmolz. Diese Bedingungen machten die Versorgung des Wildes unumgänglich.

Er gelangte auf die Lichtung Sonnenkupp. Dort stand sein Hochsitz. Er hatte ihn selbst aufgestellt, direkt neben dem Gedenkstein, der für den Revierförster Eduard Zimmer errichtet worden war. Genau an dieser Stelle hatte sich sein Vorgänger erschossen. Durch das ungewöhnliche Monument geriet er niemals in Vergessenheit.

Moritz bellte und wedelte voller Vorfreude mit dem Schwanz, weil er auf den Hochsitz wollte. Mit einem Ruck nahm Steiner den Hund Huckepack und kletterte mit seiner Last die Leiter hinauf. Der Anblick, der sich von oben bot, war sogar für einen Jäger wie Steiner, der schon seit fünfzehn Jahren in diesem Revier arbeitete, eine Augenweide. Rechts von ihm gähnte eine Schlucht fast zweihundert Meter tief. Der Grund war nicht zu erkennen, der Nebel versperrte die Sicht. Auf der anderen Seite des Abgrunds lag Laubwald, dessen Blätter wie Farbtupfer zwischen den immergrünen Nadelbäumen abstachen. Kiefern ragten majestätisch in die Höhe, Bäume im Alter von über dreihundert Jahren. Stufenweise abgesetzte Berghänge auf der Südseite erinnerten an den Weinanbau aus vergangenen Zeiten. Beschädigte Steinkreuze und Heiligenfiguren des alten Kreuzwegs des Bildhauers Corail aus dem siebzehnten Jahrhundert, bildeten die kläglichen Überreste einer Ölbergszene. Von den acht Skulpturen konnten lediglich die Fußsockel und wenige Figuren ohne Köpfe den französischen Revolutionsstürmen trotzen.

Links von ihm lag eine Wiese zwischen vereinzelten Kiefern, auf die sich die Sonnenstrahlen hin verirrten. Durch den plötzlichen Wärmeeinfall stiegen weiße Nebelschwaden wie Dampf auf. Besser konnte der Zeitpunkt nicht gewählt sein, um den Wildbestand zu beobachten. Schon nach kurzer Zeit kamen die ersten Schmalrehe, dann die Ricken und zum Schluss ein Bock aus ihrem sicheren Schutz, um zu äsen. Ein Anblick, der Steiner in innere Ruhe versetzte.

Die Stille wurde durch Schritte unterbrochen.

Vorbei war der Augenblick der Muße.

Moritz horchte auf, zog seine Zunge ein und richtete seine langen Schlappohren auf. Steiner schaute in dieselbe Richtung wie sein Hund. Da sah er ihn auch schon. Der Störenfried war ein Jogger. Der kleine Sprung von Ricken und Schmalrehen mit Bock war blitzschnell im Dickicht verschwunden. Vorbei das trügerische Bild von Vollkommenheit.

Der Jogger kam näher, bis Steiner ihn erkennen konnte. Es war Helmut Brack, der Dorfpolizist. Er war der einzige der Trinkbrüder im Gasthof Donze, der stets gepflegt und sportlich wirkte. Hier sah Steiner, dass er mehr für seine Gesundheit tat, als er dem trinkfreudigen Gesellen zugetraut hätte.

Ohne seinen Rhythmus zu unterbrechen, trabte Helmut Brack an der Kanzel vorbei. Steiner und Moritz verhielten sich still; er bemerkte sie nicht. In der nächsten Kurve verschwand er aus ihrem Sichtfeld, die Ruhe kehrte zurück. Aber das Rehwild blieb im sicheren Versteck.

Es war schon später Nachmittag, als Steiner aufbrach und den Heimweg antrat. Die Temperaturen sanken, der Nebel stieg an. Der plötzliche Kälteeinbruch nötigte ihn zum Aufbruch. Wie schnell die Zeit vergangen war; er hatte es nicht bemerkt.

Das Geräusch seiner gleichmäßigen Schritte, das vertraute Hecheln seines Hundes neben ihm, gaben ihm das gute Gefühl von Beständigkeit und Ruhe. Doch diese Ausgeglichenheit sollte nicht von langer Dauer sein. Kaum trat er auf Hoflimberg zu, sah er im Nebel eine Gestalt verschwinden.

»Halt! Bleiben Sie stehen!«, rief er.

Moritz bellte ganz aufgeregt und zog ruckartig an der Leine. Steiner ließ den Hund laufen, in der Hoffnung, dass er den Unbekannten stellte. Es konnte nur einer seiner üblichen Feinde aus dem Dorf sein. Und die waren alle nicht gut zu Fuß. Also wäre es für Moritz keine große Herausforderung.

Plötzlich hörte er seinen Hund jaulen.

Er hatte Helmut Brack vergessen. Der war gut zu Fuß. Alarmiert rannte er auf die Stelle zu, wo er das Geräusch gehört hatte.

Nichts!

Er rief den Namen seines Hundes. Nichts!

Nervös durchkämmte er das umliegende Waldstück, marschierte alle Wege ab, kraxelte über die steilen Hänge durch das Dickicht, für den Fall, dass Moritz von einem Keiler verletzt worden war und irgendwo im Wundbett lag. Aber von seinem Hund keine Spur. Auf sein ständiges Rufen kam keine Antwort. Die Dunkelheit brach so schnell herein, dass er bald von undurchdringlicher Schwärze umgeben war. Seine Taschenlampe spendete nur einen begrenzten Lichtkegel. Damit gelang es ihm gerade mal, auf den Hauptweg zurückzuleuchten. Aber den Hund würde er so niemals finden.

Enttäuscht kehrte er um.

Allein betrat er das große Haus.

Die Angst trieb ihn um. Was war passiert? Freiwillig blieb sein Hund niemals fern. Wer war so sadistisch, dass er Steiners Hund dafür benutzte, Steiner zu quälen? Der Gedanke peitschte ihn auf. Erst nach Stunden gelang es ihm, sich im Sessel vor dem Kamin niederzulassen – bei weit geöffnetem Fenster. Für ihn galt jedes Geräusch wahrzunehmen, falls Moritz sich meldete.

Aber nichts dergleichen geschah.

Am frühen Morgen wurde er durch das Eintreten der Haushälterin geweckt. Erschrocken fuhr Steiner hoch. Es war schon sieben Uhr. Er lag immer noch im Wohnzimmer. Der Schlaf hatte ihn wohl doch noch übermannt.

Verärgert über sich selbst eilte er in die Jägerstube, nahm seine Repetierbüchse, prüfte, ob im Lauf eine Patrone steckte, packte zusätzlich Munition ein und machte sich wortlos auf den Weg. Das Einzige, was ihn an diesem Morgen begleitete, war das Schimpfen der Haushälterin über sein unhöfliches Benehmen.

Er schlug den Weg in Richtung Sonnenkupp ein, wo sein Hochsitz stand. Der Nebel begann sich zu lichten, das Tageslicht drang langsam durch. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er fühlte sich erschöpft, übernächtigt, kraftlos und gleichzeitig nervös und überreizt. Seine Augenlider fühlten sich schwer an; er musste sich zusammenreißen, um alles wahrzunehmen. Angst kroch in ihm hoch, er könnte übersehen, wie sein Hund verletzt im Graben lag. Mit dieser inneren Zerrissenheit eilte er über die Waldwege.

Keine Spur von Moritz.

Er erreichte die Lichtung. Der Nebel lichtete sich. Ein grauer, trister Morgen brach herein. Die kahlen Äste der Bäume beugten sich hinab. Kalter Wind pfiff. Der Hochsitz ragte in die finsteren Wolken. Daneben lag die kleine Wiese – bedrohlich schwarz glänzend.

Spielten seine Sinne verrückt? Seit wann glänzten Wiesen schwarz? Mit Beklemmung näherte er sich.

Plötzlich erhob sich die schwarze Decke wie von Geisterhand. Vor Schreck zuckte er zusammen, wich zurück, entsicherte seine Waffe, bevor er erkannte, dass es eine ganze Schar von Raben war, die in die Luft stoben – begleitet von ihrem beunruhigenden Krähen. Dieser Schreck hatte den letzten Funken Müdigkeit aus seinem Körper vertrieben. Er schaute den schwarzen Vögeln nach, wie sie sich in der Luft in alle Richtungen verteilten.

Zurück blieben Stille, Kälte und die Sorge um seinen Hund.

Kullmann auf der Jagd

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