Читать книгу Now and then - Ella C. Schenk - Страница 9

Оглавление

Vergiss deine Angst um dich, deine Ängste um uns.

Lass sie weiterziehen, um weitergehen zu können.

Schritt für Schritt.

Stück für Stück.

Und fühle keine Schuld.

Wenigstens im Angesicht des Todes sollte man diesem Gefühl wohl endlich entkommen dürfen, oder?

Olivia

Es brauchte keine dreißig Minuten, da waren wir angekommen. Bevor ich bezahlte und aus dem Taxi stieg, lugte ich etwas verhalten durch die Fensterscheibe in den zweiten Stock des monströsen, schwarzen Gebäudes aus Glas.

Erik – Remys Arbeitgeber – war ein milliardenschwerer CEO, der weltweit nur Immobilien in den höchsten Summen verkaufte. Und genau so sah sein Bürokomplex auch aus. Edel, modern und verdammt kostspielig.

Ich rollte meine Zehen ein und krampfte die Finger nervös ineinander. Weg war die zuvor noch verspürte Selbstsicherheit. Meine Handinnenflächen wurden schweißnass und meine Atmung ging stoßweise.

Würde Remy mir denn überhaupt sagen, was das alles sollte?

Ich hatte so im Gefühl, dass sein Geheimnis eine Tragweite in sich trug, deren Ausmaß gewaltig werden könnte. Warum hätte er es mir sonst so lange verheimlicht? Und warum sonst sollte Nathan Trells Akte plötzlich verschwinden? Warum drohte mir dieser Julian Reynolds – der Sohn vom großen Richter Reynolds? Diese Typen waren keine Peanuts.

Ich sprang von einem Gedanken zum nächsten, versuchte das Durcheinander in meinem Kopf zu sortieren, als der Taxifahrer es unterbrach, indem er mir ein wenig unfreundlich den zu zahlenden Betrag nannte.

»Entschuldigen Sie«, stotterte ich und gab ihm das Geld.

Anschließend öffnete ich die Wagentür, schloss sie jedoch wieder und rutschte ins Leder zurück, als ich sah, wie Remy gut gelaunt das Bürogebäude verließ – und das in Begleitung von Emilia. Mit dieser Bitch hatte er vor Jahren mal ein Techtelmechtel gehabt. Nun starrte sie ihn an, als wäre er eine verdammt heiße Nachspeise. Was er auch war. Aber doch bestimmt nicht ihre!

Als sie auch noch ihre Finger in seinen Unterarm krallte, knurrte ich tatsächlich auf. Der Taxifahrer drehte sich daraufhin schwungvoll um. Aber ich beachtete ihn nicht. Und sowieso stöckelte diese Blondine ein wenig zu nah für meinen Geschmack neben ihm her.

Was sollte das?!

Emilia lachte auf und warf den Kopf in den Nacken, als Remy etwas Lustiges zu sagen schien. Die Straßenlaternen erleuchteten ihre verflucht makellosen Gesichtszüge nur zu gut. Als sie auch noch aufreizend mit den Wimpern klimperte, und den Kopf näher zu ihm beugte, schoss etwas eiskalt durch meinen Körper.

Ein Anstoß, der eindeutig von Eifersucht geprägt war.

Mein Herz hämmerte in meinen Ohren, als sie eng ineinandergeschlungen an mir vorbeigingen.

Schmunzelte Remy da etwa?

Erwiderte er ihr aufgesetztes Lachen?

Wieso tat er das?

Was hatte diese Ziege denn gesagt, was so witzig war?

Meine Eifersucht sprühte lodernde Funken. Vor allem, da Remys Gesicht wieder frisch rasiert war, und er die Haare mit Gel in Form gebracht hatte. Kein Vergleich zu Stunden zuvor. Er wirkte, als wäre alles in bester Ordnung.

Doch. Das. War. Es. Nicht!

Verärgert stieg ich aus und schloss die Taxitür mit so einem Knall, dass die beiden erschraken und sich umdrehten. Diese Emilia formte ihre Augen zu Schlitzen und schmiegte sich noch näher an meinen Freund. Himmel nochmal, die legte es ja nahezu darauf an, dass ich ihr in den knochigen Arsch trat.

Und was tat er?

Nichts.

Absolut nichts unternahm dieser Mistkerl!

Er sah mich nur aus diesen unergründlich grünen Augen an. Ich starrte fassungslos und bewegungsunfähig zurück.

So lange, bis Emilia gekünstelt laut hüstelte.

»Olivia, richtig? Es ist ja so schön, dich wiederzusehen!«

Bestimmt!

»Ja, ich habe noch denselben Namen wie schon vor zwei Jahren. Du bist wirklich eine Blitzbirne«, giftete ich los.

Emilia schnappte erbost nach Luft, während Remy kurz auflachte. Er versuchte, seinen Ausrutscher noch mit einem Husten zu kaschieren, doch es war zu spät. Madame Emilia ließ laut schnaubend von ihm ab und warf uns finstere Blicke zu. Ihre aufgesetzte Heiterkeit fiel von ihr ab.

»Sie war damals schon ein ungehobeltes Ding. Schade, dass sie immer noch nicht erwachsen geworden ist, findest du nicht auch, Remy?« Dieser würdigte sie keines Blickes. Er sah weiterhin nur mich an. »Hallo? Hörst du mich?« Sie wedelte mit ihren manikürten Fingern vor seinem Gesicht umher.

Prompt zog er seine Stirn kraus, schmunzelte aber noch immer.

»Verschwinde, Emilia«, sagte er so monoton, als wäre sie ihm völlig egal.

Ich triumphierte innerlich, als ich ihr wütendes Gesicht sah. Höchst empört und ohne ein weiteres Wort, stöckelte sie um die nächste Hausmauer, sodass ihr blondes Haar Wellen schlug.

»Tschüss!«, rief ich ihr noch gehässig hinterher.

Als ich wieder Remy in Augenschein nahm, verwandelte sich sein belustigter Gesichtsausdruck in einen ernsten.

»Was willst du hier? Du solltest so spät nicht allein durch die Straßen laufen.« Mit langen Schritten kam er mir entgegen.

»Ach nein?«, schoss ich aufgebracht zurück. »Das hat dich letzte Woche doch auch nicht gestört, als du in England warst.« Ich kreuzte die Arme vor meiner bebenden Brust. »Obwohl warte, da hast du mich ja beschatten lassen. Wer war der Typ eigentlich, der mir ständig gefolgt ist? Kenne ich ihn?«, trällerte ich alles andere als liebreizend und blinzelte dämlich – so wie diese Emilia es zuvor noch getan hatte.

Remy verschränkte daraufhin ebenso bockig die Arme. Sein schwarzes Jackett spannte an den Oberarmen.

»Das war bloß ´ne Lüge, damit du nicht ausflippst. Ich habe niemanden auf dich angesetzt. Wen auch? Also sieh zu, dass du nicht allein auf die Straßen gehst! Herr Gott nochmal«, fauchte er und wollte im nächsten Moment nach mir greifen.

Doch ich schlug seine Hände von mir. Der spinnte doch! Und seine erneute Lüge gab meiner Wut und Aggressivität noch mehr Nahrung.

»Wie bitte? Ich weiß genau, dass da jemand war. Unterstelle mir gefälligst nicht, dass ich mir das eingebildet habe, du Idiot. Also, wer war es?«

Er murrte kurz, ehe er antwortete: »Lass die scheiß Fragerei.«

Ich verzog den Mund. Ich war hergekommen, um Antworten zu bekommen, und nicht, um ihn mit einer anderen zu sehen und anschließend zu streiten wie Kindergartenkinder.

»Diese ständige Unwissenheit bringt mich nicht weiter«, versuchte ich ihm zu erklären. »Wie oft soll ich dir das noch sagen? Rede doch endlich mit mir, verdammt. Und damit meine ich, dass du mich nicht anlügen sollst!«

Er atmete genervt aus, während er seinen rechten Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken positionierte.

»Du kostest mich echt Nerven«, murmelte er und wandte mir den Rücken zu. Remy ging ein paar Schritte, dann drehte er sich unwirsch wieder zu mir um. »Ich gehe jetzt zu diesem verdammten Poltern, verfickt nochmal! Und morgen nach der Hochzeit erkläre ich dir alles. Du lässt mich ja sonst eh nicht in Frieden.«

Ich schob mein Kinn vor. Es fühlte sich an wie ein kleiner Sieg und mein Herz begann, schneller zu schlagen.

»So ist es. Und schwöre, dass du mir morgen die Wahrheit sagst!«

Er nickte verbissen.

Gut.

Ich drehte mich um und ging Richtung des kleinen Parks, der an das Bürogebäude anschloss. Doch ich machte keine zehn Schritte, da wirbelte ich doch nochmal herum und stemmte die Hände in die Hüften.

»Und wehe, diese Emilia fasst dich noch einmal an!«, rief ich ihm zu.

Scheinbar genauso überrascht von meinen Worten wie ich, ließ er Daumen und Zeigefinger sinken und zog stattdessen die Augenbrauen in die Höhe. Ich musste mich wahrlich zusammenreißen, dass ich nicht auf ihn zustürmte, um ihm eine zu scheuern. Vor allem, als mich seine Augen plötzlich in ihren Bann zogen und etwas entfachten, das ich nicht spüren wollte.

Gier. Verlangen.

Wir starrten, starrten und starrten uns an. Auch als mehrere Spaziergänger unser Blickduell kreuzten, tat es diesem Sog keinen Abbruch. Wie von selbst machte ich einen Schritt auf ihn zu. Er trat ebenfalls näher.

Erst ein lautes Hupen von der Straße riss uns aus der Trance. Remy und ich schüttelten gleichermaßen den Kopf. Mein Herz spielte verrückt.

Wut, Liebe, Groll, Sorge – all das wirbelte in mir und brachte mich durcheinander. Ich biss mir auf die Unterlippe.

»Remy«, zögerlich überwand ich die letzten Meter Abstand zwischen uns, »versprich mir, dass du dich von diesem Psychopathen Reynolds fernhältst. Er ist verrückt. Ich will nicht, dass er dir droht.«

Er sah ausweichend an mir vorbei. »Ich ruf dir ein Taxi, du solltest nachts nicht allein unterwegs sein.«

Natürlich ging er nicht auf meine Bitte ein und das Verbundenheitsgefühl zwischen uns löste sich in Luft auf.

»Wie zuvorkommend«, antwortete ich schnippisch. »Das mache ich selbst. Danke.« Fahrig griff ich in die Tasche meiner Lederjacke und holte das Handy hervor. »Fahr du zum Poltern. Sonst wird Mase noch wütend«, sagte ich etwas freundlicher.

Nach einer langen Minute nickte er schließlich. »Und du tue wenigstens einmal, was man dir sagt. Denk nicht einmal dran, zu Fuß nach Hause zu gehen. Verstanden?«

Genervt von seinen Befehlen und meinen Wirr-Warr Gefühlen überdrehte ich die Augen.

»Ich kann machen, was ich will. Aber ja. Von mir aus!« Die letzten drei Worte zischte ich ihm ins Gesicht, sodass er seine Kiefermuskeln anspannte.

Ich wusste auch nicht, was mit mir los war, aber in seiner Gegenwart fiel es mir schwer, mich nicht wie ein trotziges Kind zu verhalten. Sich mit ihm zu streiten, war das Einzige, was zwischen uns noch funktionierte. Und lieber schrie ich ihn an, als tagelang nichts mehr von ihm zu hören.

»Gut. Ich rufe dich später an. Und heb gefälligst ab«, schimpfte er zurück.

Dann tat er etwas vollkommen Widersprüchliches. Remy hob die Hand und wischte mir mit dem Daumen so zart über die Lippen, dass ich sie automatisch für ihn öffnete. Seine grünen Augen hefteten sich sogleich auf meinen Mund. Ich sollte ihn beißen, schoss es mir durch den Kopf, stattdessen gab ich ein tiefes Seufzen von mir. Remy runzelte die Stirn, murmelte ein paar kreative Flüche und zog seine Hand zurück, als hätte meine Haut ihn verbrannt. Ehe ich etwas sagen konnte, verschwand er blitzschnell um die Ecke des Bürogebäudes und ließ mich aufgebracht zurück.

Was sollte das eben?

Vor lauter Wut und Verzweiflung gepaart mit diesem Verlangen, das ich ihm gegenüber einfach nie abstellen konnte, stampfte ich mit dem Fuß in den Boden und kickte anschließend eine leere Dose von mir weg, die mittig auf dem Gehsteig lag. Natürlich sauste sie geradewegs in den Unterschenkel eines jungen Mannes.

»Auaaa!« Wütend drehte er sich in meine Richtung und ich erschrak.

»Oh, nein«, hauchte ich.

Plötzlich schien der Park hinter mir mehr als verlockend, doch es war zu spät, um abzuhauen. Er hatte mich gesehen. Finn kam wutentbrannt auf mich zu, und blieb etwas zu nah vor mir stehen. Er roch scharf nach Hochprozentigem.

»War das Absicht, du kleines Biest?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Nein, war es nicht. Tut mir leid. Und jetzt geh weiter und lass mich in Ruhe. Du stinkst wie ein Bierfass«, warf ich dem einst besten Freud von Ian vor.

Ian – der vor meinen Augen hinter dem Diner erschossen wurde.

Finns Gesichtsausdruck wurde härter, bedrohlicher. Schnell ging ich sicherheitshalber ein paar Schritte zurück. Er schloss sofort auf.

»Und wenn schon. Wenn ich stinke, dann stinke ich eben. Wenn ich rauche, dann rauche ich eben. Und wenn ich Drogen nehme, dann tu ich auch das.«

Ich tat so, als würde mich der letzte Satz erschüttern, und klatschte mir die Hand auf den Mund. Ich meine, es war erschreckend, so etwas zu hören, doch ich wusste ja bereits von Remy, dass er abhängig war. Genauso wie Ian. Ein Kloß bildete sich in meinen Hals. Ich hatte den Anblick seiner blutüberströmten Leiche noch nicht einmal ansatzweise verarbeitet.

»Was? So schockiert?«, fragte er höhnisch. »Dann erzähl ich dir noch was.« Er kam mir so nahe, dass ich mich nach hinten strecken musste, damit unsere Nasen sich nicht berührten. »Ich hol mir jetzt den nächsten Schuss, auch wenn es ohne Ian nur noch halb so viel Spaß macht. Also sorry, du kleine Schlampe, aber ich muss dich jetzt verlassen.«

Bevor er sich umdrehte und loswankte, schubste er mich zur Seite. Ich keuchte auf und krachte gegen die Hauswand.

Es war noch nicht lange her, da hatte mich jemand vor Kats Café angegriffen. Doch diesmal war kein Adam da, der mich auffing und beschützte. Aber den brauchte ich jetzt auch nicht. Weder verlor ich mein Gleichgewicht, noch kam ich von Mums Besuch in der Savoi – Klinik, der mich meist so emotional durcheinanderbrachte, dass ich nicht gänzlich ich selbst war.

Nein.

Mich brauchte keiner retten. Das machte ich verdammt nochmal selbst!

Ich biss die Zähne zusammen und rief Finn noch ein kräftiges »Arschloch« hinterher.

Er wandte sich nicht mehr in meine Richtung, doch der Mittelfinger, den er anhob, war Antwort genug.

Als er aus meinem Blickfeld verschwand, fasste ich prompt einen Entschluss. Zwar einen durchaus waghalsigen, aber ich konnte mir diese Chance nicht entgehen lassen, oder?

Schnell aber vorsichtig rannte ich um die Hausecke, hinter die Finn verschwunden war. Auf Zehenspitzen und mit einigen Verrenkungen erkannte ich seinen braunen Trenchcoat zwischen den vielen Passanten und Lichtkegeln wieder und klebte mich an seine Fersen. Wir schlängelten uns durch kleine, abwegige Gassen der Geschäftsviertel hindurch, bis er vor einem gelb gestrichenen Hochhaus, direkt gegenüber des Central Parks, stehenblieb.

Ich kannte diese Gegend hier kaum, obwohl ich oft in der Grünanlage unterwegs war. Doch meistens ging ich meine routinierten Spazierrunden, wenn ich von der Uni nach Hause schlenderte. Ich versuchte, mich ein wenig zu orientieren, doch die Nacht war bereits über uns hereingebrochen. Dennoch glaubte ich, dass, wenn ich östlich des Parks laufen würde, direkt zu meiner gewohnten Strecke kommen würde.

Meine Überlegungen verliefen jedoch im Sand, da ich gezwungen war, meinen Kopf schnell wieder in die dunkle Gasse zu ziehen, hinter der ich kauerte. Finn hatte begonnen sich umzusehen.

Ich Närrin.

Er hatte mich nicht bemerkt, oder?

Die eine Hand krallte ich um mein Handy, die andere in meine Umhängetasche. Ich sollte mir tatsächlich besser ein Taxi rufen und nach Hause fahren.

Sollte ich.

Tat ich aber nicht.

Stattdessen hielt ich die Luft an, ließ mein Handy in die Tasche gleiten und schielte erneut um die Ecke. Genau in dem Moment schlich Finn durch eine Eingangstür.

Obwohl meine Beine sich anfühlten wie Pampe, war mein Wille höchst bereit, Antworten zu finden. Wenn mir niemand sagte, was los war, musste ich es wohl selbst herausfinden.

Ich huschte um die Ecke und lief, so schnell meine Beine es zuließen, zum Eingang. An der grauen, verwitterten Holztür angekommen, überflog ich die Namen, welche an den leuchtenden Klingelschildern standen. Mein Magen machte einen Satz, als mir einer in die Augen stach, den ich kannte.

Reynolds.

So wie es aussah, besaß er mehrere Wohnungen im obersten Stock. Mindestens fünf Knöpfe zeigten seinen Namen.

Höchst interessant – und besorgniserregend zugleich.

Ich hob meinen Kopf und blickte an der Fassade empor.

Ein kalter Wind sauste in dem Moment durch die Straßen, und wehte mir ein paar lose Strähnen ins Gesicht. Mit zittrigen Fingern strich ich sie hinter meine Ohren, und überlegte gleichzeitig, wie ich in das Innere des Hauses kommen konnte.

»Entschuldigung, darf ich da mal vorbei? Die Pizzen werden sonst kalt.«

Obwohl es nur ein rothaariger schmächtiger Junge war, der mich gelangweilt von der Seite ansprach, zuckte ich erschrocken zusammen. Ihm schien meine Reaktion jedoch egal, denn er schlug mit seinem Kaugummi eine Blase und zog nur genervt die Augenbrauen zusammen.

Also machte ich Platz und er läutete bei einem Schild mit dem Namen Kranszisky an.

Höchstwahrscheinlich russische Abstammung, dachte ich. Und ja, ein Bewohner meldete sich auch prompt mit einem gebrummten »Da« über die Sprechanlage.

Der Junge erklärte, wer er war, und schon summte die Tür.

Meine Chance.

Er trat ein und ich folgte ihm ohne zu zögern.

Der Duft von Fett und Käse zweigte noch im Erdgeschoss ab. Mein Ziel jedoch war einige Treppen weiter oben. Obwohl meine Stiefel keine Absätze hatten, traute ich mich nicht, gänzlich aufzusteigen. So tapste ich auf Zehenspitzen weiter die steinige Treppe nach oben. Im letzten Stock angekommen, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Himmel nochmal war ich nervös. Mein Herz pumpte wie verrückt und meine Beine begannen zu schlottern.

Was jetzt? Wohin nun?

Ich sah nach links und rechts. Es gab jeweils drei Türen auf jeder Seite. Der Flur, auf den ich mich wagte, war klein, so könnte ich jede einzelne im Nu erreichen. Das Licht ging aus, dann wieder an und von dem Geschoss unter mir drang Gelächter nach oben. Ich schlug mir erschrocken die Hand auf den Mund und machte bereits einen Schritt zurück zur Treppe.

Doch nein!

»Reiß dich zusammen«, schalt ich mich gedanklich.

Aufgebracht drehte ich mich in jede Richtung, lauschte, doch es war mucksmäuschenstill hier oben. Lange würde mein Wille meinen Körper nicht mehr beherrschen können. Meine Beine zitterten mehr denn je. Bevor ich also komplett zusammenbrach, schlich ich nach links. Wie es schien, war es die richtige Richtung. Ich hörte zwar nichts, aber der Geruch, der mir hier entgegenkam, war eindeutig gerauchtes Gras.

Nur hinter welcher der Türen befand sich das Nest dieses grässlichen Gestankes? Was besaß dieser Irrer auch sämtliche Wohnungen hier oben? Ich wagte nicht zu atmen, während ich mein Ohr an die erste Tür anlegte, die ich erreichen konnte.

Nein.

Dahinter schien keiner zu sein. Dort herrschte eine Grabesstille. So ging ich zu der gegenüberliegenden, blieb jedoch abrupt stehen, als diese sich einen Spalt öffnete. Ich erstarrte und betete gleichzeitig zu allem und jeden.

Es blitzten unglaublich hässliche, dunkelrote Lederschuhe mit Schlangenmuster hervor. Doch so schnell wie ich auf diese einen Blick erhascht hatte, waren sie auch schon wieder weg. Die Tür schloss sich, hinterließ im Flur jedoch einen abartig starken Geruch nach Marihuana. Ich presste meine angehaltene Luft erleichtert aus und konnte nur mit größter Anstrengung ein Wimmern unterdrücken.

Oh mein Gott. Das war knapp gewesen.

Ich sollte umkehren – schleunigst. Doch die Stimmen im Inneren der Wohnung waren gut hörbar. Zu gut hörbar, als dass die Tür sich gänzlich geschlossen hätte. Wider jeglicher Vernunft schlich ich näher und stieß sie an. Sie öffnete sich einen Spaltbreit und die Stimmen waren nun deutlicher zu verstehen. Der Geruch von Gras drang mir derart stark entgegen und ich versuchte, nur durch den Mund zu atmen. Ein kleiner Lichtstrahl erhellte den Gang und jemand begann leise Klavier zu spielen.

Etwas rumpelte laut.

»Dein Freund schuldete mir ´ne ganze Stange Geld. Ich will es wieder.« Diese Stimme gehörte eindeutig zu ihm.

Julian Reynolds.

»Ich … wieso … warum sagst du mir das ständig? Ich kann seine Schulden nicht bezahlen!«

Finn.

»Das ist mir egal. Ich will das Geld. Und zwar bis Ende nächster Woche. Besorg es. Ob von seiner Familie oder Freunden ist mir egal. Aber ich will es, verstanden?« Der letzte Satz wurde langsam ausgesprochen, und die Drohung, die in ihm mitschwang, war eindeutig.

»Er hatte keinen Kontakt mehr zu seiner Familie. Julian, bitte, ich habe das Geld nicht.«

Dieser schnaubte verächtlich auf. »Dann wirst du eben sterben.«

Stille.

Keiner sagte mehr was. Auch die leisen Klaviertöne verklangen. Ich zwinkerte nicht einmal, aus Angst, selbst das könnte mich verraten. Nach Sekunden dieser beängstigten Angespanntheit wimmerten mehrere Leute gleichzeitig auf.

»Hach, immer das Gleiche mit euch Waschlappen. Das geht mir auf die Nerven. Ich denke, ich werde Nathan auf dich ansetzen, Finniboy. Und du weißt ja, wie sehr er es liebt, kreativ zu sein.«

Obwohl ich zitterte wie Espenlaub, schaffte ich es, mein Handy hervorzuholen und drückte auf Aufnahme.

»Bitte, tu das nicht, Julian. Bitte! Er ist ein Sadist und …« Finn schluchzte auf. »Ich will nicht sterben.«

Es rumpelte laut und Finn schniefte noch mehr.

»Steh auf und Finger weg von meinen Beinen!« Es folgte ein Aufschlag mit anschließendem dumpfen Gestöhne.

»Wenn du nicht sterben willst und weiterhin mein Heroin möchtest«, Julian lachte hart auf, »denn das ist es doch, was du am meisten auf dieser langweiligen Welt willst, oder? Dann wirst du mir das Geld bis Ende nächster Woche besorgen. Du weißt wie viel! Du weißt auch, wo du mich findest. Und denke immer daran: Ich bin der, der den Drogenkonsum hier kontrolliert. Solltest du versuchen, dir woanders etwas zu holen, oder gar versuchen die Stadt zu verlassen, sind du und deine Eltern tot. Und glaube nicht, ich wüsste nicht, in welchem Pflegeheim sie ihre letzten dementen Tage verbringen. Ich bin Julian Reynolds! Ich weiß alles!« Die letzten Wörter schrie er wie von Sinnen, und wieder setzten diese dumpfen Laute ein, von denen ich vermutete, dass es Tritte in Finns Körper waren.

Ich drückte auf Speichern und verstaute mein Handy wieder in meiner Jacke. Ich hatte, was ich wollte. Nein, ich hatte mehr, als ich mir je zu erhoffen gewagt hätte. Schnell tappte ich zurück zur Treppe, hörte die nächsten Wortfetzen dennoch glasklar.

»Und nun zu dir, Freundchen.« Etwas raschelte. »Sei froh, dass ich deine Schwester noch liebe, sonst wärst du bereits mausetot. Deine Arbeit ist für den Arsch! Mach es gefälligst besser! Und jetzt haut ab. Alle beide!«

Die letzten zwei Wörter waren mein Startschuss. Wie auch das Licht, das soeben wieder ausging. Ich hielt es nicht mehr aus und rannte die Stufen hinunter. Wie es schien, gerade rechtzeitig. Über mir hörte ich mehrere Leute abartig lachen. Es hallte laut den Treppenabsatz hinab. Nicht mehr lange, und auch sie würden sich mit Sicherheit in Bewegung setzen. Dann würden sie das Licht im Treppenhaus anmachen und mich sehen. Und wenn Finn unter ihnen wäre … oh Gott, das wäre mein Untergang.

Als ich atemlos im Erdgeschoss ankam, passierten zwei Dinge gleichzeitig. Das grelle Licht erschreckte mich dermaßen, dass ich gegen die Wand der Tür krachte und spitz aufschrie. Und zweitens, läutete mein Handy.

Lautstark hallte der Titelsong von Friends durch das Treppenhaus. Das männliche Gelächter von oben erstarb. Als mehrere schnelle Fußpaare über die Stufen trippelten, erfasste ich die Türklinke und hetzte nach draußen. Hektisch warf ich meinen Kopf nach rechts und links, sodass ich das Taxi erst übersah. Dann hechtete ich erleichtert auf den Wagen zu, schmiss mich auf die Rückbank und sagte das Erstbeste, was mir einfiel.

»Bitte! Fahren Sie los, mein gewalttätiger Freund ist hinter mir her und drohte mir, mich zu töten!«

Die Schultern des Taxifahrers wanderten zwei Tick höher und er gab Gas.

Wie ein verschrecktes Reh schaute ich auf die Eingangstür zurück und machte mich gleichzeitig ganz klein. Doch sie blieb verschlossen.

Ich nannte dem Fahrer die Adresse der Kanzlei und versuchte, meine konfusen Gedanken unter Kontrolle zu bringen.

Es hat dich keiner gesehen.

Ich könnte auch eine Bewohnerin gewesen sein.

Ich war unauffällig und leise.

Keiner hat mich gesehen.

Keiner hat mich gesehen.

Keiner hat mich gesehen.

Hoffentlich.

Now and then

Подняться наверх