Читать книгу Travestie der Liebe - Else Feldmann - Страница 11
ABENTEUER
ОглавлениеAnnette, ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren, war in Stockholm im Bureau einer Zellulosefabrik angestellt. Mit ihr war ihre Freundin Lieschen, genau zehn Jahre älter als sie. Beide stammten aus Hamburg. Die Fabrik Hamburg hatte sie beide auf ihren Wunsch in die Zweigfabrik Stockholm versetzt.
Annette hatte in Hamburg ihr liebes Heim verlassen. Sie wohnte im Gewerbemuseum, ihr Vater war dort Hausaufseher und trug eine Kappe mit Goldschnur; ihre Mutter war die Hausfrau, eine kleine, alte, zärtliche Person. Annette hatte Abschied genommen von ihrem Klavier und von ihrem französischen Cercle (einmal wöchentlich).
Lieschen hatte weniger zurückgelassen. Sie hatte eines Tages den schmalen Schrank in ihrem möblierten Zimmer ausgeräumt, zwei Koffer gepackt, und niemand hatte ihr mit Tränen in den Augen nachgeblickt.
Es schien ihnen schön und wunderbar, die Welt zu sehen. Nun waren sie seit Monaten in Stockholm. Hatten sich zusammen eingemietet; die beiden Freundinnen in der Fremde. Sie verdienten etwas mehr als daheim. Hatten ihr Auskommen. Im Sommer kauften sie sich hübsche, helle Kleider, bunte Hüte, spinnwebdünne Strümpfe und Lackhalbschuhe für alle Tage. Die Frauen trieben hier einen Luxus, und sie wollten nicht nachstehen. Es blieb ihnen die Freude, auf der Straße hübsch angezogen zu gehen. Sie arbeiteten über Mittag im Bureau; das gab Überstundenbezahlung. Bald kamen sie darauf, daß sie von der Welt nicht viel zu sehen kriegten.
Ihre beiden Schreibmaschinen standen in einem Verschlag, der nicht größer als zwei Quadratmeter war und kein Fenster hatte. Den größten Teil des Tages verbrachten sie in diesem Raume, und abends waren sie so müde, daß sie nur den einen Wunsch hatten, sich irgendwo hinzulegen und zu schlafen. Sie waren wie dürre Früchte, welk, um Kraft und Leben gebracht.
Wenn sie am Abend zusammensaßen, sagte Lieschen: »Sollen wir keine Freude haben? Nichts?«
Und Annette sagte: »Ja, wir könnten etwas unternehmen, unsere Lebensgeister zu erfrischen. Wie wäre es, wenn wir uns über den Sommer auf dem Lande einmieteten?«
Mutig überwanden sie alle Schwierigkeiten. Selbst die Aussicht, täglich zweimal eine Stunde Dampferfahrt in die Stadt ins Bureau und zurück, bedeutete eher ein Vergnügen als eine Last.
Sie hatten es sehr gut getroffen, ein großes Zimmer auf einem Landgut, das gleichzeitig an Gäste vermietete, gefunden. Dort wollten sie bis in den Herbst hinein bleiben, bis es kalt würde. Wenn sie das Bureau um sechs Uhr verließen und noch den Dampfer erreichten, konnten sie um sieben Uhr abends auf dem Lande sein. Es waren die aufregenden Tage der Mitternachtssonne, die weißen Nächte.
Sie saßen in ihrem Zimmer, auf dem Erker, und übersahen das weite, felsige Land, sahen die Wälder und den See. »Es ist doch gut, daß wir Mut hatten und die Stelle annahmen, wir wären sonst ewig in Hamburg festgesessen.« »Jawohl«, sagte Lieschen. »Aber ich bin schon zu müde. Die hellen Kleider machen mir keine Freude mehr; die letzten zehn Jahre, die vergangen sind, haben all meine Jugend mitgenommen. Nun werde ich alt und grau, o wie traurig …«
Annette blitzte sie mit ihren Augen an und sagte: »Nein, warte nur …« Aber Lieschen schüttelte den Kopf.
Und der Abend verging ihnen wie gewöhnlich, indem sie über die Liebe redeten – was hätten sie anderes tun sollen? »… Es soll ein Glück geben«, sagte Lieschen mit verhängter Stimme, »ich weiß es nicht. Zwanzig Jahre Bureau habe ich hinter mir, zwanzig Jahre Schreibmaschine. Was kommt dabei heraus? Ich sah es, wie unser Geschäft vergrößert, Aktiengesellschaft wurde, wie es sich ausbreitete über Länder; wir sind in Deutschland, in Schweden, in Spanien, in England. Ich habe an der Schreibmaschine meine ersten weißen Haare bekommen; meine Wangen sind verblüht, meine Augen sind schwach, sie sehen kaum den Frühling noch; mein Herz ist traurig und vereinsamt.«
Eines Abends saßen sie wieder beisammen; sie sprachen von einem Fremden, der seit einigen Tagen im Hause war und der immer allein an seinem Tische saß. Ein ungewöhnlich schöner Mensch, jung, mit hellbraunem Haar, und herrlich groß und schlank gewachsen. Er hatte ein Leiden und hinkte ein wenig. Er trug grauen Sportanzug und Cowboyhut. Man sagte, daß er Turnlehrer sei und in der Stadt eine Anstalt für schwedische Gymnastik habe.
Nachts im Bett setzte sich Lieschen auf; sie seufzte ein paarmal; es war, als stöhnte sie. Es blieb so hell, daß man nicht einschlafen konnte.
Annette hob den Kopf, sah hinüber zu Lieschen und lachte. Der Fremde im Hause hatte sie fröhlich gemacht.
Lieschen aber verbarg das Gesicht in den Händen. »Ach«, sagte sie und begann leise zu plaudern, »eine Erinnerung verfolgt mich. Das Grausigste, das ich je sah. Ich war achtzehn Jahre alt, da kam zu unseren Unterhaltungsabenden eine Dame. Sie war mehr als vierzig, machte sich aber mit allen Mitteln jung, so daß sie glaubte, wie dreißig auszusehen, und benahm sich auch danach. Sie drängte sich zur Jugend, und als einmal jemand Klavier spielte und getanzt werden sollte, stellte sie sich in die Reihen der Tanzenden. Alle wurden geholt, nur sie blieb allein. Und den ganzen Abend sprach nicht ein einziger Mensch ein Wort zu ihr. Man lachte und verhöhnte sie. Sie schien es nicht zu merken und kam jedesmal wieder und saß allein, ging allein weg. An sie habe ich nie aufgehört zu denken, und manchmal ist es mir, als wäre ich es selbst, dann muß ich weinen vor Gram …« Sonntag früh ging Lieschen auf die Erdbeerwiese. Die Sonne kam weiß aus weißen Wolken hervor, legte sich mit all ihrer Breite über den See. Es roch nach Rosen und Erdbeeren. Die großen Lupinen welkten unten am Stamme, während oben neue Blüten wuchsen. Lieschen ging in ihrem weißen Kleid über die Wiesen. Mit festgeschlossenem Munde summte sie heute ein Lied.
Auf einer Bank in der Sonne saß der Fremde, als sie vorbeikam, stand er auf und grüßte. Er fragte sie in schwedischer Sprache, ob sie sich nicht ein wenig niedersetzen wolle. Sie konnte gar nichts anderes tun. Er sprach lange zu ihr, sie wußte kaum, was er sagte. Sie betrachtete sein braunes, zärtliches Gesicht. Zum Schluß hielt er ihre Hand und ließ sie nicht los. Einmal fragte er nach Annette. Aber gleich darauf beugte er sich über ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Ein Mann kann die Hand einer Frau küssen, und es kann sein, als küßte er ihre Lippen. Seine Augen konnten dabei sprechen: noch darf ich deine Lippen nicht berühren, darum berühre ich deine Hand. Lieschen riß sich los. Sie lief davon. Sie rannte am Ufer des Sees hin. Sie stieg die Klippen hinauf, immer höher, bis sie an einer Felswand stand. Daneben wuchs Gras, Blumen standen im Schatten: Enzian. Lieschen glitt nieder, drückte ihr Gesicht auf die kühlen Pflanzen und weinte; und als sie ihren Kopf hob, lachte sie in zitternder Freude, während noch Tränen über ihre Wangen rollten. Nun hab’ ich es und bin verrückt, dachte sie.
Aber dann nahm sie sich zusammen und ging langsam und ruhig nach Hause.
Ehe sie bei Annette anklopfte, legte sie ihr Gesicht in trübe Falten, damit diese ihr nicht das Glück anmerke.
Um drei Uhr nachmittags, als Lieschen auf dem Sofa schlief oder nur so tat, um ungestört träumen zu können, lag Annette im Garten in der Hängematte. Der Fremde saß bei ihr und sprach mit ihr von seiner Liebe. Er lud Annette für heute nacht zu einer Fahrt im Motorboot ein. Diese letzte Gnade erbitte er sich vom Schicksal, setzte er dazu. Annette sah ihn erschrocken an, gab ihm die Hand, die er an sein Herz drückte. Sie war von dieser Minute an in ihn verliebt.
Die Gäste saßen bei der Jause. Der Fremde saß wie gewöhnlich allein und an einer gesonderten Stelle; für ihn wurde allein gedeckt.
Da trat ein Gast, ein vornehmer Herr, Kurhausbesitzer und Herausgeber der Bäderzeitung, zu Lieschen und Annette und hielt eine feierliche Ansprache: »Meine Damen, hier treibt ein junger Mann sein Wesen; es ist nicht ratsam, ihm für seine Torheiten Gehör zu schenken. Wir sahen, daß er sich an Sie heranschlich, um Ihnen Schmeicheleien zu sagen und Sie für seine Absichten, die dunkler Art sind, zu gewinnen. Um es kurz zu sagen, wir warnen Sie, mit dem jungen Mann zu sprechen. Unter dem Vorwand einer Turn- und Tanzschule betreibt er etwas ganz anderes in der Stadt. Er besucht alle möglichen Orte und sucht Damenbekanntschaften zu machen. Doch alles dient ihm nur für sein Geschäft. Er annonciert auch in den Tageszeitungen, er suche eine Vorsteherin – jawohl, eine Vorsteherin für ’sein Haus’. Hier deckt man für ihn allein. Man kann nach den Gesetzen ihm nicht den Aufenthalt verbieten; man meidet ihn; jetzt wissen Sie alles, meine Damen …«
»Ich werde dir etwas sagen«, redete Lieschen die schweigende Annette vor dem Einschlafen an. »Kann es nicht ebensogut Klatsch sein? Was verpflichtet mich, zu glauben, was man sagt, und wäre es wahr! Finden nicht auch Männer, die ein ’schlimmes Gewerbe’ betreiben, Frauen, die liebend zu ihnen halten; werden Wucherer, Diebe, Betrüger, ja sogar Mörder nicht von Frauen geliebt? Gibt es ein Gestrüpp menschlicher Verderbnis, wo nicht die Liebe hinkommt?«
»Sprichst das du?«, erwiderte Annette. »Mit deinen achtunddreißig Jahren, mit deinem streng geschlossenen Munde! …« Sie sagte nichts mehr.
Später zogen sie die Vorhänge etwas dichter zu, um von der hellen Nacht nicht gestört zu sein. Annette schlief wirklich ein; sie war ein gesunder, junger Mensch mit gutem Schlaf, mit einem normalen Herzen. In Lieschen wirkte der Zauber fort. Sie lag wach und träumte sich in ein heißes Empfinden hinein. Über ihre Seele war die Offenbarung der Liebe gekommen. Nun war sie bereit, alles zu tun …
Es war zwei Uhr nach Mitternacht, als sie an ihrer Tür klopfen hörten.
Lieschen hörte es zuerst. »Wer ist es?«, rief sie, sprang auf und schlüpfte in die Kleider. Es schien ihr nicht verwunderlich, als der Fremde bat, sie möge ihn einlassen. Hatte sie ihn mit ihren starken Träumen gerufen? Ein schauderndes Gefühl kam über sie. Sie zitterte so heftig, daß sie kaum ein Wort herausbrachte. Welch ein Abenteuer! Sie ließen ihn ein.
Wie erschraken sie. Er sah furchtbar aus. An der Stirn hatte er einen blutigen Streifen. Sein Gewand war schmutzig, verstaubt; seine Haare zerzaust; das Gesicht totenbleich; er war atemlos mit fiebrigen Augen,
Stockend erzählte er: »Da Sie für mich nicht sichtbar waren, fuhr ich in die Stadt. Ich hatte Geschäfte. Mit dem letzten Dampfer fuhr ich zurück. Ich war nicht allein. Die Matrosen, die das letzte Schiff bringen, sind meist betrunken. Ich kenne sie; ich habe das schon oft erlebt. Es waren vielleicht ein Dutzend Leute auf dem Schiff; die stiegen nach und nach aus. Als wir hierherkamen, landeten sie nicht, sondern fuhren weiter. Ich bat den Kapitän, das Schiff halten zu lassen, doch sie hörten nicht auf mich. Ich hatte anfangs heftigen Streit mit ihnen, und sie machten Anstalten, mich ins Wasser zu werfen. Darum schwieg ich und wurde höflich. Endlich setzten sie mich ans Land. Es war fast Mitternacht. Vor mir lagen Sümpfe, und graue Dünste stiegen auf, legten sich vor meine Augen, daß ich nichts sehen konnte. Ich watete, war in Gefahr, zu versinken. Endlich fühlte ich trockenen Boden. Ich befand mich auf einem blühenden Kartoffelfeld, dem schloß sich ein Flachsfeld an; dann kam eine große Kleewiese. Ich rannte vorwärts – heute war es etwas weniger hell als sonst, aber man konnte alles deutlich sehen. Im Grase sah ich etwas Weißes liegen, eine Gestalt. Ich bückte mich und sah, daß es ein junges Mädchen war in weißem Kleid. Sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Ich saß lange bei ihr und sah sie an. Sie war wunderbar schön. Endlich wagte ich, ihr Gesicht zu berühren; ihre Wange fühlte sich kalt und ledern an; da sah ich, daß das Mädchen tot war. Rasch sprang ich auf und rannte weiter. Es wurde ganz hell, und ich hatte den Weg gefunden.
Plötzlich hörte ich in einer Entfernung Männer schreien: ›Dort läuft der Mörder, er kam mit dem letzten Schiff; die Matrosen kennen ihn …‹ Nach zwei Stunden kam ich hier an … Laßt mich nur ein wenig ausruhen, denn wenn es Morgen wird, muß ich auf der Flucht sein.«
»Warum fliehen?«, rief Annette. Sie war weiß bis in die Lippen. »Sie sind ja kein Mörder!«
Zwischen den Zähnen, leise und furchtbar, stieß er hervor: »Vielleicht bin ich einer!« Annette schrie auf.
»Jedenfalls muß ich mich verstecken«, fuhr er ruhiger fort; seine Stimme hallte unheimlich tief und fest in dem großen, stillen Zimmer. »Will denn keine von euch mir helfen?«
Lieschen stand schon angezogen da. In der Hand hatte sie ihre Reisetasche.
»Kommen Sie, ich will Ihnen helfen.«
Und sie ging mit dem Fremden zur Tür hinaus; er sah sich noch einmal um, nach Annette!
Annette lag wach und wagte nicht zu atmen. Alles war so rasch gekommen. Sie stand auf und ging umher, sie wartete, daß Lieschen zurückkomme. So verging eine Stunde; sie wußte nicht, was sie anfangen sollte. Legte sich hin, schlummerte vor Müdigkeit ein.