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VARIETÉ
ОглавлениеIm Vorzimmer des Theateragenten.
Zwei junge Mädchen in Seidenkleidern warten; sie plaudern miteinander. Die eine erzählt von dem Städtchen N., wo sie zuletzt war. Die Sätze überstürzten sich.
»Ach N., dieses Nest!«, sagt die andere. »Da lasse ich mich lieber gleich begraben; ich gehe nur in große Städte, am liebsten ins Ausland.«
»Ins Ausland? Da kommt man doch nicht hin. Mir ist es einerlei. Jung und schön muß man sein!«
»Und können muß man auch etwas – sonst ist man nur dafür – –«
»Man muß sich mit Vernunft verlieben.«
»Ach was«, sagt die eine, »ich bin achtzehn Jahre alt« (sie war achtundzwanzig), »nun bleibe ich zwanzig Jahre lang jung; das ist in unserem Beruf eine Möglichkeit.«
Eine Dame ist eingetreten; sie ist ungemein aufrecht und stolz; man merkt aber, daß es eine einstudierte Haltung ist. Der Diener ersucht sie, zu warten, es sei jemand im Zimmer bei Herrn Sänger. Sie sieht an dem Diener vorbei und sagt laut, aber mit gebrochener Stimme:
»Ich bitte, nur meinen Namen zu nennen.«
»Jawohl, meine Gnädige, aber nach der Reihe, die zwei Fräuleins warten auch.«
Das war das Ende. Man ließ sie im Vorzimmer warten.
Sie ging in eine Ecke, setzte sich, das Gesicht der Wand zugekehrt, sank in sich zusammen. Tränen kamen ihr in die Augen – jetzt, da niemand sie sah. Nach einigen Minuten stand sie auf, ging zur Tür, kehrte unentschlossen zurück. Der Diener kam, ließ einen Herrn eintreten.
Der Herr sah sie an, lächelte ein wenig, ging an ihr vorüber; er setzte sich fröstelnd und zitternd – obwohl es warm war – in den bequemsten Lehnstuhl und betrachtete die beiden jungen Mädchen.
Aber seine Blicke waren zerstreut. Die Muskeln seines Gesichtes zuckten; es war etwas über ihn gekommen. –
Die Dame nahm sich endlich zusammen, riß nochmals die Tür auf und sagte dem Diener: »Gehen Sie hinein und sagen Sie Herrn Sänger, Mitzi Schürer ist da!«
In dem Augenblick kam Herr Sänger mit einer Dame und einem Herrn aus seinem Sprechzimmer. Es war, wie man auf den ersten Blick sah, eine junge Künstlerin mit ihrem Gönner oder Freund.
Die zwei Fräuleins gingen hinein: »Wir sind gleich fertig, unterschreiben nur unsere Verträge.«
Die Dame und der Herr blieben im Vorzimmer. Hartnäkkig, mit abgekehrten Gesichtern, saßen sie sich gegenüber, als kennten sie einander nicht. Beide schämten sich, zitterten vor schmerzlicher Scham, einander hier getroffen zu haben: zwei alte, ausgemusterte »Künstler«, abgetane Größen, die eine Stelle suchten. Nun kamen sie als Nächste an die Reihe.
Zuerst die Dame. Der Agent erkannte sie, sagte seine Artigkeiten. Das war Mitzi Schürer, die wieder auftreten wollte. Als junger Mensch hatte er ihren Ruhm miterlebt, heute war er selbst grauhaarig, beinahe alt. Hübsch war sie ja nie gewesen und ihre Stimme nicht besonders schön, aber sie war ein »Temperament«, ein »Brettl-Genie«, und sie hatte diese paar frechen Wiener Lieder einst gesungen, daß es die Leute verrückt gemacht hatte. Was heute vor ihm steht, ist ein häßliches, altes Weib, derb geschminkt, verschwitzt, ängstlich, die Clownnase sitzt grotesk in dem schwammigen Gesicht. Mitzi Schürer von einst ist spurlos dahin.
»Was werden Sie singen?«, fragte der Agent
»Die Lieder von damals«
»Passen die heute noch?«
»Mein Name wird ziehen.«
»Ja, ja, es ist wahr.«
Der Agent kennt das: Mitzi Schürer – der Traum – die Erinnerung –
»Alles wollen Sie wieder singen? Auch das:
… und die weißen Madeln
in kurze Kladeln
und dünne Wadeln
– – – – – – – – – – – – – – –«
»Ja, das auch!«
Es ist wie ein Aufschrei; packt sie wie ein starrer Schrecken. Sie ist wie aus dem Grabe auferstanden.
»Vielleicht singen Sie mir etwas vor.«
Der Agent ist vielseitig. Er begleitet sie selbst. Sie singt.
»Ja, es geht noch«, sagt er. »Aber in großen Varietés ist nichts mehr frei. Nur noch in einem Café in der Vorstadt. Café Royal. Das Engagement dauert einen Monat. Die Gage ist nicht groß, aber mehr als nichts« – er nennt die Summe.
»Könnte ich nicht etwas mehr bekommen?« will sie fragen – schweigt aber – denn was würde sie hören! Wenn man sechsundfünfzig Jahre alt ist, unter der blonden Perücke sein weißes Haar hat, kann man keine Ansprüche machen. Sie hätte beinahe nicht mehr daran gedacht, irgendwo unterzukommen, hatte sich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, bald ins Armenhaus zu gehen. Mit all den Mitteln und Medikamenten wird es einen Monat lang gehen. Wird es gehen? ist aber die bange Frage.
»Traurig ist es«, sagt sie zu sich, während sie das Zimmer verläßt, »daß man im Alter noch arbeiten muß, um nicht zu verhungern«, und zieht ihren dichten Schleier herab, damit man ihre weinenden Augen nicht sehe. – –
Dann wird der Herr gerufen.
Lebhafte Begrüßung. O natürlich – die einstige Berühmtheit! »Letztes Auftreten war wo? Ach so – im Wintergarten in B. Nun, B. war jedenfalls ein Nest – hier immerhin Großstadt. Nur nicht bange sein – wir haben schon etwas – nur keine Sorge – Carlo Carloni – ein Café besten Ranges, Café Royal – die berühmte Mitzi Schürer wurde eben für dort engagiert.«
Also Carlo Carloni bekommt etwas mehr Gage. Er ist ein Mann, man muß es berücksichtigen – ein Mann hat immer mehr Ausgaben.
»Und was werden Sie singen, Meister?«
»Die alten Sachen.«
»Auch dieses:
Ein so ein Schleicher,
so Schleicher, so schleichlerisch schön,
nur muß man auch das Tanzen, das Tanzen verstehn.«
»Ja, auch dieses.«
»Gut«, denkt der Agent »der Name. Und dann – er wird durch seine Gespensterhaftigkeit wirken – sieht er nicht geradezu mystisch aus, wie eine Erscheinung aus der Apokalypse: Klapperdürr, mit der schwarzen, vor Alter grünen Scheitelperücke, dem entsetzlich mageren Vogelkopf, dem dünnen Halse mit vorspringendem beweglichen Adamsapfel? Ja, elegant sah er noch immer aus mit gewendeten und gebügelten Kleidern, mit hellgrauen Gamaschen, Monokel, Stock – Hut schief auf dem Kopfe – –
»Engagiert!«, sagt der Agent.
Carlo Carloni steigt langsam die Treppen hinunter. Er ist leidend – fortgeschrittene Verkalkung – ob es noch gehen wird? Er ist kein Jüngling mehr. Zweiundsechzig Jahre. Er nimmt seinen kleinen Taschenspiegel, grinst hinein, zeigt die eingesetzten Zähne – auf einmal verzieht sich sein Gesicht in komischer Weise – gerade, als wollte er weinen …