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(b) Ausdruck und Selbstbeschreibung

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Nach Richard Rorty gibt es für Menschen nichts Wichtigeres, als sich immer wieder selbst neu zu beschreiben.8 Die pointierte Formel knüpft an eine Grundeinsicht der existentiellen Hermeneutik an, welche besagt, dass menschliches Leben ein grundlegend verstehendes Leben ist, worin Menschen immer schon ein bestimmtes Verständnis ihrer selbst haben, Bilder von sich und Interpretationen der Welt entwerfen, in deren Horizont sie leben. Im Gedanken der Selbstbeschreibung führt Rorty die beiden vorausgehenden Leitideen, die Reflexivität des sich über sich verständigenden Lebens und die schöpferische Kraft sprachlichen Ausdrucks, zusammen, indem er sie zugleich mit der Idee eines emphatischen Selbstseins verbindet, das sich selbst behauptet und in der Selbstbeschreibung zu sich selbst findet. Solche Selbstfindung kommt nicht in der Introspektion, sondern über den Ausdruck zustande. Nicht indem er in sich geht, sondern indem er sich äußert und sich in seiner Äußerung erkennt, kommt der Mensch zu sich, versteht er sich selbst. Die Figur entspricht dem hermeneutischen Grundsachverhalt, den Wilhelm Dilthey dem menschlichen Sein und aller kulturellen Wahrnehmung zugrunde legte, dem »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen«9; was für Dilthey das Fundament geisteswissenschaftlicher Forschung bildet, definiert gleichermaßen den Kern subjektiver Selbsterkenntnis und Selbstbeschreibung. Des näheren lassen sich im Konnex von Ausdruck und Selbstverständnis zwei Stoßrichtungen ausmachen, die sich in der Figur der Selbstbeschreibung verschränken: die Ideen der Selbstfindung und der Selbsthervorbringung.

Auf der einen Seite entdecken wir uns selbst im Ausdruck. Wir werden mit uns bekannt, finden die eigene Stimme im Gespräch mit anderen. Wir lernen unsere Leidenschaften und Gefühle kennen, begegnen unseren Ängsten und Phantasien im Versuch, sie auszudrücken und differenziert zu beschreiben. Wir werden uns klarer über uns selbst, können uns im Ausdruck gleichzeitig hinterfragen, Vorurteile aufdecken, uns selbst korrigieren und uns um Übereinstimmung mit uns bemühen.10 Der Ausdruck ist Arbeit an uns selbst, eine Tätigkeit des Durchleuchtens und Genauer-Sehens, möglicherweise auch des Zurückkommens und Zurechtrückens. Selbsterkenntnis auf den Wegen des Ausdrucks, auch den erst zu bahnenden, freizulegenden Wegen des Ausdrucks ist nicht nur ein Registrieren, sondern eine Selbstaufklärung und ein Mit-sich-ins-Reine-Kommen – wenn auch nie gefeit vor der Gefahr des Sich-Täuschens, ja, des Sich-Verdeckens und Sich-Verstellens.

Darin wird gleichzeitig die andere Seite der Selbstbeschreibung sichtbar, die Seite der Selbsterfindung und Selbsthervorbringung. Selbstbeschreibung, wie Rorty sie ins Auge fasst, dient der Selbstinterpretation, dem Entwurf der eigenen Identität, womit Konnotationen der Konstruktion, aber auch der Befreiung und Selbstbejahung verbunden sind. In radikaler Version bedeutet solche Selbstbeschreibung, sich von metaphysischen Menschenbildern, von einer vorgegebenen Wesensbestimmung zu verabschieden; doch auch wo sie nicht im engen Sinne als Selbstschöpfung konzipiert ist, bedeutet sie, dem eigenen Sein und Sosein die konkrete Prägung zu geben, an der sozial und biographisch bedingten Identität herumzumodeln, ihr Profil zu gestalten und ihre Bedeutung im eigenen Leben zu verankern. Zumeist und zuletzt sind beide Seiten, die rezeptive und die konstruktive Dimension der Selbstbeschreibung, nicht getrennt; sie durchdringen sich und gehen gemeinsam in die konkrete Selbstwerdung des Einzelnen wie der Gruppe ein. Viele Autoren haben im künstlerischen Schaffensprozess das Wechselspiel von Verstehen und Sagen, Lesen und Schreiben betont, beim Maler, der im Bild erscheinen lässt, was sich ihm zeigt und sich offenbart, beim Komponisten, der Gehörtes erklingen lässt. Generell hat phänomenologische Hermeneutik das Vermögen und die Aufgabe des Menschen beschrieben, die Sprache der Dinge zu vernehmen und demjenigen Ausdruck zu verleihen, was in den Phänomenen erscheint, sich dem Menschen öffnet, im Wirklichen zu Wort kommt. Im Selbstverhältnis ist diese Interferenz zwischen Hören und Antworten unhintergehbar, und sie durchzieht das Empfinden, das Tun und Sichäußern des Menschen und macht in dieser Doppelseitigkeit das Potential der Selbstbeschreibung aus. Im Ganzen affiziert solches Schreiben die Sache selbst. Anders als bei der deskriptiven Vermessung äußerer Gegenstände geht das Beschreiben des eigenen Tuns und Erlebens, das Sichschreiben und Sichausdrücken des Subjekts in das von ihm Geschriebene ein. Selbstbeschreibung ist keine nachträgliche Erfassung, sondern ein inneres, konstitutives Moment des Selbstseins und der Führung seines Lebens.

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