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(c) Lebensbeschreibung und Selbstwerdung

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Sich selbst beschreiben heißt zuletzt sein Leben (be)schreiben. Über die Erkundung seiner Fähigkeiten und Wünsche, die Orientierung in seinem Handeln und die Verständigung über seine Ziele hinaus gilt die Selbstaufklärung der faktischen Gestalt und dem Verlauf des Lebens. Mich kennenzulernen heißt auch, mein gelebtes Leben zu vergegenwärtigen, es zu entziffern, es niederzuschreiben. Eine basale Weise der Selbstfindung ist das Sich-Finden im Laufe seines Lebens, ein zentraler Pfeiler der Identitätskonstruktion ist die verantwortungsvolle Übernahme der unverwechselbaren Lebensgeschichte. Dies meint nicht eine Moralisierung des eigenen Gewordenseins, als ob dieses zur Gänze meinem Wollen und Handeln entstammte und ich für alles, was mein Leben ausmacht, das von mir Verschuldete wie das mir Zugestoßene Rechenschaft abzulegen hätte. Die Lebensgeschichte ist, wie Geschichte überhaupt, nur zum Teil Ergebnis meiner Intentionen und Taten, daneben zu einem erheblichen Teil nicht-intendierte Folge meines Handelns und Resultat der Überkreuzung meines Tuns mit äußeren Ereignissen und fremden Handlungen. Gleichwohl setze ich mich zu ihr in ein nicht nur kognitives, sondern auch praktisches Verhältnis, stehe ich vor der Frage, in welcher Weise ich sie als die meine übernehme und für sie einstehe. Die Identifikation über die Geschichte ist ein anderer Modus der Selbstfindung als die Verständigung über Lebensentwürfe, Normen und Ideale; doch bildet auch sie einen wesentlichen Teil der lebensweltlichen Selbstvergewisserung und des Einswerdens mit sich.

In der identitätskonstituierenden Funktion der Lebensbeschreibung lassen sich unterschiedliche Kristallisationspunkte auseinanderhalten.11 Ein erster liegt in der Gestalt und inneren Konsistenz des Lebenslaufs. Sein Leben beschreiben heißt zuallererst die Kontinuität einer Geschichte ausbreiten, die zeitliche und bedeutungsmäßige Verknüpfung ihrer Episoden konstruieren. Die Erzählung schließt Früheres und Späteres als Teile eines Ganzes zusammen, keineswegs als notwendige Sequenz oder Entwicklung, sondern zunächst einfach im Modus der sinnhaft lesbaren Aufeinanderfolge, welche bereits als solche eine minimale Stringenz gegen Zerstreuung und Diffusion realisiert. Es ist eine Leistung der narrativen Konstruktion unabhängig von der historischen Streitfrage, wieweit reale Kontinuitäten vorliegen oder Brüche und Lücken durch Einheitsfiktionen überwölbt und verdeckt werden. Über die chronologische Folge hinaus ist die Einheitsbildung sodann die eines Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen Ereignisse nach ganz verschiedenen Hinsichten – als Vorstadien, Ursachen, Gegenbewegungen, Erfüllungen – bedeutungsmäßig auf andere beziehbar und damit in eine Erzählung integrierbar sind. Diese Beziehungen geben der Geschichte als ganzer ihr bestimmtes Profil, ihren Sinn, durch welchen sie ihre Bedeutung und ihren Ort in unserem Leben finden. In der narrativen Strukturierung lässt der Mensch die Lebenszeit nicht einfach verstreichen, sondern gibt ihr die bestimmte, konfigurierte Gestalt, in welcher sie zum Raum seines Lebens wird. Die Weisen solcher Gestaltgebung können nach unterschiedlichen Modellen und Kriterien praktiziert, aber auch kritisiert, korrigiert, aufgenommen und weitergeführt werden – Kriterien der objektiven Wahrheit oder der ästhetischen Gestalt, der kognitiven Durchdringung und der lebensweltlichen Eignung. Immer geht es darum, wie der Mensch in der Aneignung seines Lebens mit sich zurechtkommt, wobei das Ideal einer erzählbaren Geschichte nur ein – doch ein zentrales, nicht kontingentes – Modell des Einswerdens mit sich und seinem Leben darstellt.

Wieweit sich die Strukturen des Lebens und des Erzählens von sich aus zueinander fügen und ob das narrative Modell das Leben als ganzes umfasst oder seinen genuinen Ort nur innerhalb des Lebens, als Gefüge einzelner Epochen und Episoden besitzt12, mögen offene Fragen sein. Ein entfremdeter, desintegrierter Lebensverlauf kann sich der erzählenden Formgebung und subjektiven Aneignung widersetzen.13 Unabhängig davon zeigt sich die biographische Arbeit als eine Weise, sich mit der Zerrissenheit und Fragilität des Selbst auseinanderzusetzen, gegen Diffusion und Desintegration feste Gestalt und Identität zu gewinnen. Sie kann ihr Ziel darin haben, sich mit seinem Leben zu versöhnen, über Lebensekel und Leiden hinauszukommen, ja, sie kann sich darüber hinaus unter Leitvorstellungen des erfüllten Lebens, des Glücks stellen, die Erzählung selbst zu einem Moment des guten Lebens werden lassen. Ob solche Ideale erreicht werden, ob die Lebensbeschreibung gelingt oder scheitert, wieweit sie stabilisierungsfähig ist oder prekär bleibt, einer wahren Selbstfindung zugutekommt oder der Selbsttäuschung zuarbeitet – all dies ist vom realen Leben wie seiner konkreten Beschreibung gleichermaßen abhängig.

Nach einer anderen Hinsicht ist das Telos der Lebensbeschreibung mit der zeitlichen Verfassung des Lebens verwoben, der Besinnung auf das Vergangene und dem Ausgriff auf das Ganze. Wenn die narrative Form ihr Grundgerüst ist, so ist der Rückblick ihre originäre Blickrichtung; der retrospektive Vorgriff bildet die Kernstruktur des narrativen Satzes14, das Präteritum ist die Zeitform der Erzählung.15 Lebensbeschreibung handelt von Vergangenem, ihr Antrieb und ihre Leistung liegen nicht zuletzt im Widerstand gegen das Vergehen und Entschwinden des Lebens. Sie hält für die Gegenwart fest, was nicht mehr da ist; sie sucht, gräbt aus, rekonstruiert, was teils im Gedächtnis und in Dokumenten niedergelegt ist, teils unsichtbar und abwesend ist, sich der Vergegenwärtigung entzieht. Lebensbeschreibung ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich in seinem Leben zu sammeln, sich im Zusammenhang seines Lebens als ganzem zu erkennen. Der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig zu werden, ist Movens des Schreibens des Lebens. Rilke spricht von der Notwendigkeit, das »Diktat des Lebens« nachzuschreiben.16 Die Rede vom Diktat und Nachschreiben spielt darauf an, dass es etwas zu hören, zu lesen gilt, dass das Leben selbst spricht und einen Sinn transportiert, der vom Diktatschreiber in Wahrheit aber nicht nur registriert und transkribiert, sondern zur Sprache gebracht, in seiner Bedeutung entfaltet und herausgestellt werden muss. Dem Bedürfnis des Menschen, sein Leben zu schreiben, korrespondiert die Notwendigkeit des Lebens, artikuliert zu werden und eine Sprache zu finden.

Menschen leben so, dass sie sich zugleich ihr Leben erzählen. Die Reflexivität menschlichen Lebens erstreckt sich über das Gewahrwerden seiner selbst und das Sich-über-sich-Verständigen hinaus auf das Erinnern und Sicherzählen. Sein Leben erzählen, aus seinem Leben erzählen ist nicht eine äußere Zutat zum Leben, sondern inneres Moment einer Lebensform. Wenn Selbstverständigung als praktische Orientierung originär zukunftsgerichtet ist, so ist die narrative Selbsterfassung ursprünglich dem Vergangenen zugewandt; zugleich ist sie auf das Ganze geöffnet, mit der unabgeschlossenen singulären Geschichte des Selbst befasst. Das Schreiben des Lebens kann ebenso offen sein wie das Leben selbst, wie dies bei Tagebüchern der Fall ist, welche ein Leben nachdenkend begleiten, oder bei Werken, die ins Offene, Unabschließbare gehen.17 Solches Schreiben geht in das Leben selbst ein und kann dem Leben zugutekommen. Auch wenn dies nicht in dem Sinne der Fall sein muss, dass der einzelne gleichsam antizipierend als Historiograph seiner selbst sein Leben führt, sondern er sich über sein gegenwärtiges Handeln und Erleben verständigt und sich rückblickend seines Lebens vergewissert, kann diese Reflexion zum inneren, substantiellen Element seines Lebens werden. Lebensbeschreibung wird Teil der Bewegung des Lebens selbst. Sie partizipiert an dessen Offenheit und unterliegt zuletzt seiner Endlichkeit. Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein Leben einzuholen, vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Lebens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.18 Erst am Ende könnte der Mensch seine Lebensbilanz ziehen, über sein Leben und dessen Gelingen Rechenschaft ablegen, wie wir nach Aristoteles das Glück eines Menschen erst nach seinem Tod beurteilen können. Auch Rilke spitzt seine Forderung dahingehend zu, »das ganze Diktat des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben; denn es möchte sein, dass erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt.«19 Indessen bleibt dieser Ausgriff, ob er nun mit einer versöhnlichen oder einer ängstigenden Vision verbunden sei, in der Schwebe, bleibt der Wunsch, das Leben »auf seinem letzten Stand zu ertappen«, so Christa Wolf, »ein unstillbares, vielleicht unerlaubtes Verlangen«.20 Dem Menschen verbleibt das von Proust beschriebene Gefühl der Dringlichkeit, die Angst, in der Selbstbeschreibung und Erfassung seines Lebens zu spät zu kommen. Auch dieses Gefühl, Kehrseite der nicht zu schließenden Offenheit, gehört zur existentiellen Verfassung des Lebens und seines Fürsichwerdens.

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