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2.3 Die Herausforderung der Zeit

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Nach allen drei Dimensionen kann das Leben in der Zeit gelingen oder misslingen. Es kann zur erstrebten Fülle und Selbstgegenwart führen – oder leer sein, dem Menschen entgleiten, die Präsenz in Abwesenheit verkehren. Zeit fordert den Menschen heraus, im Denken wie im Leben. Kaum etwas ist in vergleichbarer Mannigfaltigkeit und vielfältigerer Wertung in den kulturellen Zeugnissen der Menschheit, in Dichtung, Sinnsprüchen und Theorien beschrieben und bedacht worden. Für die theoretische Reflexion gilt Zeit spätestens seit dem berühmten Satz des Augustinus als ein Rätsel par excellence; sie ist jedem selbstverständlich und doch von keinem verstanden.7 Für das praktische Leben ist sie Gegenstand des Glücks wie der Not, Freiheit und Zwang, »unser Erzfeind und unser innigster Freund«.8 Zeit gehört zu den Grundbedingungen des Daseins und stellt gleichzeitig ein Problem, eine existentielle Herausforderung für den Menschen dar. Mit ihr zurechtzukommen, in der Zeit glücklich zu werden, versteht sich nicht von selbst. Nicht nur sind Alltagsphänomene wie Zeitdruck und Zeitknappheit in der modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Nicht nur tritt das Leiden an der Zeit in psychopathologischen Phänomenen in Erscheinung. Allgemeiner ist gerade in neueren Theorien die Negativität der Zeit, die seit den ältesten Klagen über die Flüchtigkeit des Lebens und die Sterblichkeit des Menschen zu Wort gekommen ist, als grundsätzliches Problem der menschlichen Existenz aufgeworfen worden.

Im Verhältnis zur Zukunft manifestiert sie sich in der Unfähigkeit, sein Leben zu entwerfen und seine Zukunft zu gestalten. Der Schwund der Kraft, sein Leben zu organisieren und temporal zu strukturieren, der das Lebensgefühl in seiner ganzen Weite affizieren kann, untergräbt hier die elementare Lebenskraft, die uns nach vorne wirft, uns die Initiative ergreifen und tätig sein lässt. Das Versiegen der Kraft, Neues hervorzubringen und Kommendes in die Hand zu nehmen, vertieft sich zur Unfähigkeit, die Zukunft aufzuschließen, ja, sich selbst der Zukunft zu öffnen. Der Mensch steht vor einer versperrten oder einer unbestimmt-leeren Zeit; zuletzt geht er des Zukunftsraums als solchen, der dynamisch-offenen Gerichtetheit der Existenz selbst verlustig. Das von der Existenzphilosophie beschriebene Vorauslaufen des Daseins, das Sichentwerfen in den Raum der Möglichkeiten kann aufgrund der Schwäche des Subjekts, aber auch der Widerständigkeit der Welt erschwert, gegebenenfalls verunmöglicht werden. Die Selbstlähmung des Handelns spiegelt sich in der Implosion der Zeit wider. Das Gewicht des Vergangenen überlagert die Zukunft, hält diese in der Starre des Gewesenen, den Ketten der Wiederholung gefangen.

In anderer Weise kann die Immobilität und Entzeitlichung die Gegenwart selbst durchdringen. Was idealiter als erfüllte Aktualität, als höchste Verdichtung erstrebt wird, zerfällt zum Stillstand der Zeit, zur toten Leere. Es ist eine Gegenwart ohne kommunikativen Austausch mit dem Gewesenen und dem Kommenden, eine auf sich fixierte und starre, substanzlose Präsenz, weder in sich lebendig noch sich übersteigend in den Fluss des Lebens hinein. Es ist eine Zeit, die nicht vergehen will, die nicht als lebendig-bewegte Zeit erfahren wird. Pascal, Kierkegaard und Heidegger haben die Langeweile als menschliche Grundbefindlichkeit geschildert, als jenen Zustand, in welchem sich die Monotonie des linearen Verlaufs mit der Wesenlosigkeit der Existenz im Vakuum der entseelten Zeit verschränkt. In der Depression wird dieser Zustand als seelisches Leiden erfahren, wobei hier wie beim Zerfall der Zukunft die Frage im Raum steht, wieweit die pathologische Form gegenüber dem normalen Leben ein strukturell Anderes ist oder nur eine graduelle Steigerung verkörpert und auf den Begriff bringt, was der conditio humana als solcher wesensmäßig innewohnt.9

Nicht zuletzt findet die Blockierung des Zeitlichen im Verhältnis zum Vergangenen statt. Belastend wird sie dort erlebt, wo das Vergangene die Gegenwart in ihrem Bann hält, statt von ihr verflüssigt, kognitiv und praktisch angeeignet zu werden. Die Unfähigkeit zur erkenntnismäßigen Durchdringung und kritischen Verarbeitung, das Versagen der Kraft zur temporalen Synthese und narrativen Strukturierung zeigen sich auch hier als Symptome einer subjektiven Ohnmacht, die ihr Pendant, teils ihren Grund, in der Übermacht und repressiven Verstellung des Vergangenen selbst haben kann. Gerade mit Bezug auf Vergangenheit wird das existentielle Problem der Zeit, die Schwierigkeit, im Vergehen mit sich eins sein zu können, unmittelbar erfahren und vielfältig thematisiert; die Sehnsucht und Aporie des Erinnerns sind ebenso lebensweltliche Motive wie Angelpunkte der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gedächtniskultur. Jede Befassung mit dem Vergangenen ist von vornherein mit dem Problem des Entzugs ihres Gegenstandes konfrontiert, dessen Unzugänglichkeit nicht nur durch äußere Distanz, Fremdheit oder Komplexität bedingt ist, sondern ebenso der Abwehr, aber auch der Verschließung und Selbstverhüllung geschuldet sein kann. Die Arbeit des Gedächtnisses hat immer auch und in unterschiedlicher Weise mit dessen Grenze, mit dem Nichterinnerbaren und dem Nichterinnernkönnen zu tun.

Nach allen drei Hinsichten steht das Mit-sich-Einswerden in der Zeit in Frage. Dass das Selbst in seinem Rückblick und seinem Ausgespanntsein in die Zukunft sich selbst gegenwärtig sein kann, wird durch die Zeit ermöglicht, aber auch bedroht oder verhindert. Ganzseinkönnen in der Zeit ist ein prekärer, ungesicherter Zustand. Die Negativität des Zeiterlebens umfasst unterschiedliche Aspekte, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen: die Immobilität und Starrheit des Nichtvergehens, die Leere und Gestaltlosigkeit des Jetzt, die Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit der Zukunft, die Last und Fessel des Vergangenen, aber ebenso das unaufhaltsame Fließen, das Entgleiten der Zeit und das Sichverlieren in ihr, die Knappheit und Befristetheit der Zeit, das Schwinden des Zusammenhalts und die Zerstreuung im desintegrierten Zeitfeld.

Aufs Ganze gesehen scheint es sinnvoll, im vielgestaltigen Bereich temporaler Organisation drei Kristallisationspunkte herauszuheben. Ein erster bildet sich um den Gegensatz von Sammlung und Zerstreuung. Dass wir uns im Fluss der Zeit abhanden kommen, uns im Vergangenen nicht finden, uns in der Leere und Diffusion der Gegenwart verlieren, in der dunklen Zukunft nicht erkennen, sind akut erlebte Bedrohungen des Selbst in der Zeit. Dagegen verlangt das Leben, das im Zeitlichen zu sich kommen will, die innere Sammlung, welche den wechselseitigen Zusammenhalt der Erlebnisse und Prozesse und deren Einswerden mit dem Selbst begründet. Der zweite Kern des Zeitlichen liegt im Widerstreit von Vergehen und Bewahren. Darin artikuliert sich die Urerfahrung der Temporalität. Menschen sind mit dem Vergehen aller Dinge konfrontiert und der Vergängnis ihrer selbst ausgesetzt. Die radikalste Drohung des Selbstverlusts liegt in der Sterblichkeit; die erste Gegenwehr gegen die Not der Zeit liegt im Festhalten des Gewesenen. Das Ideal der erfüllten Präsenz behauptet sich als erstes gegen die Auflösung aller Dinge, gegen ihr Entgleiten ins Nicht-mehr-Sein. Dieser Widerstand überlagert sich schließlich mit dem dritten Kristallisationspunkt des Zeitlichen, der Dynamik von Gestaltung und Entformung. Das Festhalten des Zeitlichen ist kein abstraktes Anhalten und Fixieren, sondern ein strukturierendes Gestalten. Die Verwandlung von Zeit in Sinn, die exemplarisch in der narrativen Organisation geleistet wird, verleiht der verlaufenden Zeit die Konsistenz, die sie erinnerungsfähig macht.

So konvergieren die drei Fluchtlinien in einem gemeinsamen Fokus, die vereinigende Sammlung, das bewahrende Festhalten, die gestaltende Strukturierung der Zeit. Sie bilden drei Knotenpunkte der Erinnerung, die als ganze eine tätige Aneignung der Zeit und ein Sichfinden des Menschen in der Zeit realisiert. Wenn Hegel die »Ohnmacht des Lebens« darin sieht, dass in ihm »was anfängt und was Resultat ist, auseinanderfallen«, so ist es erst die Erinnerung, die über diese Unzulänglichkeit des bloß Lebendigen hinauskommt und die Zerstreuung der Zeit überwindet, dem Menschen ein strukturiertes Leben in der Zeit ermöglicht.10 Es ist eine zweifache Kraft, die in dieser Stabilisierung zusammenwirkt, die Kraft des erinnernden Festhaltens gegen den Sog des Vergehens und die Kraft der – temporalen, narrativen, sinnhaften – Strukturierung des Lebens, in welchem der Mensch sich findet und bei sich sein kann. Erst kraft der Formgebung wird Erinnerung zur Potenz der Bewahrung (wie nach Hegel erst die sittliche Schöpfung dem »Verschlingen der Zeit« ein Ziel und Ende gesetzt hat11). In gestaltender Erinnerung setzt sich der Mensch mit der ursprünglichen Herrschaft der Zeit auseinander, mit dem Zerfallen und Vergehen der Welt und seiner selbst. In zugespitzter Weise findet die Erfahrung dieser Herrschaft in einer besonderen Phase des Lebens statt, in der Begegnung mit dem Alter, dem Sterben, dem Tod. Auf sie ist ein Blick zu werfen, bevor die Gegenmacht der Memoria zur Sprache kommt.

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