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Die Frage nach der Erinnerung
»Que celui qui pourrait écrire un tel livre serait heureux.«1
Wie wäre der glücklich, der sein Leben zu schreiben vermöchte! – so lässt Marcel Proust seinen Erzähler sinnieren, der nach langen Lebensjahren den Entschluss fasst, sein Leben in einem Buch niederzuschreiben. Das Vorhaben, das ihm vor Augen steht und dessen Durchführung ihm als hohes Glück erscheint, zielt nicht einfach darauf, vergangene Geschehnisse zu registrieren und über die Zeit festhalten. Vielmehr soll es darum gehen, jene Fülle und Gegenwärtigkeit des Lebens, die der Erzähler in bestimmten Erlebnissen und Begegnungen spontan erfahren hatte, in ihrer Wahrheit zu erschließen und sie im Schreiben lebendig werden zu lassen. Es ist ein Unterfangen, dessen äußerste Schwierigkeit, aber auch Dringlichkeit dem Erzähler gleichermaßen vor Augen stehen. Eine große Mühsal, meint er, hätte der Autor eines solchen Werks auf sich zu nehmen, er müsste es sorgfältig
»wie eine Offensive vorbereiten, es ertragen wie die Qual der Ermüdung, wie eine Ordensregel auf sich nehmen und wie eine Kirche erbauen, ihm folgen wie einer ärztlichen Weisung, es überwinden wie ein Hindernis, erobern wie eine Freundschaft, hegen und pflegen wie ein Kind, es schaffen wie eine Welt.«2
Gleichzeitig mit der alle Kräfte herausfordernden Aufgabe lastet die Zeit auf dem Erzähler, drängt ihn die Furcht, zu spät zu kommen und das Vergangene nicht mehr einholen, sein Werk nicht mehr verwirklichen zu können:
»Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg hinaufgeht, unter dem ein See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen verdeckt. Durch eine Lücke erblickt er ihn; er hat ihn ganz und gar vor sich; er greift zu seinem Pinsel. Doch schon kommt die Nacht, in der man nicht mehr malen kann und über der sich kein neuer Tag erheben wird.«3
Das Anliegen, das Proust in seiner eminenten Bedeutung und Schwierigkeit so eindringlich beschreibt und dem er selbst mehr als zehn Jahre seines Lebens gewidmet hat, ist das Projekt, sein Leben schreibend einzuholen, im Schreiben sich selbst wiederzufinden. Dass solche Erinnerungsarbeit nicht nur Mühsal bedeutet, sondern auch Befriedigung, ja höchstes Glück verheißen kann, ist von vielen bedacht worden. Paul Ricœur hat die ungezählten Formen des Erinnerns und Vergessens, die er in seiner umfassenden Untersuchung La mémoire, l’histoire, l’oubli vor Augen führt, unter den »Leitstern« einer mémoire heureuse gestellt, Inbegriff jenes Glücks, dessen die Menschen im Erinnern teilhaftig werden.4 Das Glück der Erinnerung ist – parallel zur Mühe, auch zum Schmerz des Erinnerns – zu einem Leitmotiv der Reflexion über Erinnerung geworden. Indessen ist das Motiv, so emphatisch es vertreten wird und so hohe lebensweltliche Plausibilität es in der Sehnsucht nach dem Vergangenen gewinnen kann, in hohem Maße aufklärungsbedüftig. Namentlich drei Fragen verbinden sich mit der von Proust ausgebreiteten Vision.
Zum einen bleibt zu verdeutlichen, worin das Glück des Erinnerns eigentlich besteht. Wieso verlangt der Mensch nach Erinnerung; nach welcher Erfüllung strebt die Suche nach der verlorenen Zeit? In welchem Sinne gelangt der Mensch im Wiederfinden des Einst zum Ziel seiner Sehnsucht? Worin liegt die seinsmäßige Verschränkung zwischen dem Erinnern und dem Erleben von Glück?
Zum anderen stellt sich die Frage, wie solche Erinnerung, solche Beglückung zustande kommt. Welche Art von Erinnerung liegt der Erfüllung zugrunde? Wie verhält sich die spontane Freude des Wiedererkennens zum Glück in der hartnäckigen Arbeit des Gedächtnisses?
Worin liegt schließlich das Hindernis im Erinnern und Schreiben des Lebens – jene große Schwierigkeit, gar Unmöglichkeit, welche Prousts Erzähler die Durchführung seines Vorhabens hinausschieben, seine Verwirklichung in den Irrealis setzen lässt?
Dies sind Fragen, deren Beantwortung sich nicht von selbst versteht. Sie weisen auf ein weites Feld phänomenaler Differenzierungen und begrifflicher Klärungen, durch welche hindurchzugehen nötig ist, um dasjenige, worum es in der Suche nach der verlorenen Zeit geht, deutlicher zu erfassen. Wenn wir uns in der ersten Sondierung dieses Terrains vom Werk Marcel Prousts leiten lassen, der dieses Anliegen ins Äußerste getrieben hat, so deutet sich unmittelbar eine Richtung der Konkretisierung der Problemstellung an.
Die außergewöhnliche, schier unüberwindliche Schwierigkeit des Unterfangens, die er so vielfältig beschwört, liegt ja nicht einfach in dessen ausgreifendem Anspruch und der Komplexität des Gegenstandes: nicht nur darin, dass wir das Leben in seinen vielfältigen Schichten und Verästelungen nicht zu umfassen, dass wir es in seiner Dunkelheit und Verworrenheit nicht zu durchdringen vermögen, dass wir die vergangene Zeit nicht einzuholen, ihr Entgleiten nicht aufzuhalten vermögen. Jede Beschreibung ist ein Sichabarbeiten an dem, was sich dem Verständnis entzieht, jedes Erinnern ein Widerstand gegen das Entschwinden und Vergehen. Darüber hinaus aber besteht die eigentliche Herausforderung darin, eine abgründige Kluft zu überbrücken, die zwei Weisen des Erinnerns voneinander trennt. Proust beschreibt sie als Kluft zwischen der mémoire involontaire, der unwillkürlichen Erinnerung einerseits, wie sie sich in herausgehobenen Erlebnissen einstellt, die uns schlagartig in eine frühere Zeit, eine frühere Empfindung zurückversetzen, und der Rekonstruktion vergangener Zeiten in einer schrittweisen Aufarbeitung und Darstellung andererseits. Es ist der Unterschied zwischen unwillkürlicher und bewusst hervorgerufener Erinnerung, zwischen dem plötzlichen Einbrechen des Vergangenen ins Jetzt und dem geduldigen Bemühen um die Vergegenwärtigung früherer Zeiten und Geschehnisse.
Dabei fungiert die erste, spontane Erinnerung in gewisser Weise nicht nur als Maß der wahren Präsenz des Gewesenen kraft ihrer Intensität und unwiderleglichen Gewissheit, sondern ebenso als Inbegriff einer Glückserfahrung. In eindringlichen Passagen beschreibt Proust die eigentümliche Entrückung, die Seligkeit, in welche der Erzähler durch eine besondere Wahrnehmung, durch das Aufbrechen einer alten, scheinbar verdeckten Empfindung versetzt wird, und ebenso die Bemühung, dieses Überwältigtwerdens habhaft zu werden, das Glückserleben zu verstehen, seinen Grund zu erfassen. Es ist die Erfahrung einer außergewöhnlichen Gegenwart und Erfüllung, deren er in solchen Erlebnissen teilhaftig wird. Wenn der Erzähler nun auch das Projekt, sein Leben zu schreiben, in den Horizont eines Glücksversprechens stellt, so ist doch offenkundig, dass es nicht um dieselbe Erfüllung und unvermittelte Präsenz des Vergangenen gehen kann, die in diesem Schreib- und Rekonstruktionsprozess angestrebt, womöglich gefunden wird. Die Arbeit der Erinnerung, der er sich hingeben will, ist von jenem Ineinanderschießen der Zeiten, jenem Aufbrechen des Vergangenen im Jetzt ebenso weit entfernt wie die ihr immanente Befriedigung vom Glück jenes plötzlichen Einswerdens mit sich und dem einst Erlebten. Um sich über das große Vorhaben einer Suche nach der verlorenen Zeit Klarheit zu verschaffen, ist es als erstes erforderlich, die strukturelle Differenz beider Formen der Erkundung des Vergangenen, aber auch die Nähe und Ferne des ihnen zugrundeliegenden Strebens, der von ihnen erhofften Erfüllung zu verdeutlichen. Die einschüchternde Schwierigkeit des geplanten Werks, die dem Erzähler vor Augen steht, ist ja auch durch das Gewahrwerden des Abgrunds bedingt, der beide Erinnerungsmodi voneinander trennt – die dennoch in ihren Fluchtlinien aufeinander verweisen. Auch die bewusste, schrittweise Aufarbeitung des Vergangenen ist durch jenen idealen Leitstern des glücklichen Erinnerns erleuchtet, der für das Wiederfinden, die Auferweckung des Gewesenen steht. Die den Erzähler beunruhigende Frage ist, ob und in welcher Weise die Kunst einholen kann, was das spontane Erleben gewährt. Es ist die Frage, mittels welcher Technik, auf welchen Wegen und Umwegen die beharrliche Arbeit sich jenem Ziel annähern kann, in welches uns die unwillkürlichen Erinnerung je schon versetzt. Angesichts der grundlegenden Andersartigkeit der beiden Gedächtnisformen mag dieses Ziel als utopisch, die Aufgabe als unlösbar erscheinen. Und dennoch scheint es so, dass auch die Kultur des Gedächtnisses, die ars memoriae ein Interesse artikuliert und ein Ziel verfolgt, das dem Menschen kein nebensächliches ist, sondern sein Leben zuinnerst bestimmt. Das Glück der Erinnerung geht nicht in der Unmittelbarkeit der Präsenz auf.
So bleibt beides genauer zu bestimmen: die Glückseligkeit des Einswerdens mit dem Vergangenen und die Freude der geduldigen, beschwerlichen Arbeit der Memoria, und ebenso die ihnen korrespondierenden, unterschiedlichen Modalitäten des Erinnerns, des Zurückgehens ins Vergangene und Gegenwärtigwerdenlassens des Gewesenen. Offensichtlich ist nicht einfach die eine Gedächtnisform die Norm der anderen, sowenig sie ihre Grundlage oder ihren Horizont bildet. Gleichwohl sind sie, bei aller Fremdheit, nicht losgelöst voneinander. Sie verweisen aufeinander in ihrem Vollzug wie ihrer subjektiven Erfüllung. Diese Verweisung aufzuhellen gehört zur Verständigung über Begriff und Praxis des Erinnerns. Dazu legt es sich nahe, von der unwillkürlichen Erinnerung, als Präsenz- und Glückserlebnis, auszugehen, um in einem zweiten Schritt der Frage nachzugehen, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die bewusste, methodische Erkundung des Vergangenen, das Schreiben des Lebens ein Analogon jener Gegenwart und jener Erfüllung erstreben, möglicherweise herbeiführen kann. So soll der erste Schritt vom Glückserlebnis, dem eigentümlichen emotionalen Überwältigtsein ausgehen und von ihm aus erforschen, in welcher Weise hier Vergangenes gegenwärtig, das Vergehen überwunden wird. Der zweite Schritt geht gewissermaßen in Gegenrichtung von der Erforschung und Sammlung des Vergangenen aus, um die Frage anzuschließen, in welcher Weise solche Suche und Vergegenwärtigung einem Bedürfnis und einer Sehnsucht menschlichen Lebens entspricht.
Dabei bieten die beiden Schritte die Möglichkeit, die Erinnerungsproblematik in zwei für sie konstitutive Dimensionen hinein auszuweiten, in die Dimension der Zeit und diejenige der Sprache. Auf der einen Seite markiert die mémoire involontaire eine herausgehobene Figur existentieller Zeitlichkeit, genauer des modalen, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgespannten Zeitbewusstseins, indem sie das unablässige Vergehen aller Dinge auf die reine Gegenwart des Erlebten hin überschreitet, in gewisser Weise die Zeit selbst auf die Zeitlosigkeit hin transzendiert. Vom Erleben dieser Koinzidenz aus ist Erinnerung als solche im Horizont der Temporalität des Lebens in ihrer Bedeutung, ihrer Macht und ihren Grenzen zu reflektieren. Auf der anderen Seite vollzieht sich die intentionale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen nicht rein bewusstseinsimmanent, sondern greift aus auf Formen der Vergegenwärtigung, allen voran die Sprache, in welcher Gewesenes festgehalten und interpretiert, Prozesse strukturiert und angeeignet werden. Hier kommt Erinnerung als eine besondere Form der umfassenden Darstellung und Reflexion in den Blick, in welcher der Mensch sich über sich selbst, über sein Leben und die Welt verständigt; die Sprache, höchstes Vermögen und Auszeichnung des Menschen, bildet das Medium, in welchem er sich auf Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges bezieht, sein Leben schreibt. Die Frage nach der Erinnerung gilt dem Rückblick in der Zeit ebenso wie dem Selbstsein als Ausdruck und reflexiver Selbstfindung. Eine Verständigung über Erinnerung ist nicht ablösbar von Überlegungen zur Zeit, zur Sprache und zum menschlichen Selbst. Zeit und Sprache sind Wesensbestimmungen der menschlichen Lebensform, die zugleich auf Grundfragen der Philosophie verweisen, die hier nicht in ihrer ontologischen und erkenntnistheoretischen Weite, sondern in ihrem existentiellen Bezug aufzugreifen sind. Von ihnen soll die folgende Untersuchung ihren Ausgang nehmen. Sie spannen den Horizont auf, innerhalb dessen es darum geht, das Faszinosum der Erinnerung zu ergründen und ihre Binnenstruktur ebenso wie ihren Ort im menschlichen Leben zu erhellen.