Читать книгу Sein Leben schreiben - Emil Angehrn - Страница 14
(b) Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
ОглавлениеVon diesen externen Bezügen haben wir nun zur Binnenstruktur der existentiellen Zeitlichkeit zurückzugehen, die für die folgenden Betrachtungen den Ausgangspunkt bildet. Ihr Herz bildet die sogenannte dimensionale Zeit, das Aufgespanntsein des Lebens zwischen den Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft (entsprechend der genannten A-Reihe). In allem, was er ist und erlebt, findet sich der Mensch in diesem Horizont der Zeit, alles was er tut, vollzieht er in diesem zeitlichen Raum. Die moderne Phänomenologie hat die Konstitution der Zeit, die Ausbreitung des zeitlichen Feldes und das Unterwegssein der zeitlichen Bewegung als Grundlage und inneren Nerv aller Erfahrung herausgearbeitet. Immer kommen wir von Vergangenem her, finden wir uns in einem Hier und Jetzt und sind handelnd oder erwartend auf Kommendes gerichtet; diese zeitliche Substruktur ist im körperlichen Tätigsein, im sozialen Interagieren, im Schreiben eines Buchs oder im Musikhören (Paradigma der Zeitanalyse) gleichermaßen vorausgesetzt und an der Gestaltung des jeweiligen Gegenstandes beteiligt. Zuletzt wird die Konstitution des Subjekts selbst, sofern dieses nicht nur abstrakter Bezugspunkt der Erscheinung der Dinge, sondern für sich seiendes Selbst ist, in ihrer temporalen Dichte und Verweisung sichtbar. Die Temporalstruktur durchdringt das Subjekt und seine Welt in gleicher Weise.
Das Hauptgewicht der existentiellen Reflexion gilt nicht der allgemeinen Struktur, sondern den einzelnen Dimensionen dieses zeitlichen Ausgespanntseins. Es sind drei Ausrichtungen, die ihre Konkretisierung in unterschiedlichen Haltungen und Verhaltensweisen finden und mit denen sich je eigene Leitideen und Probleme verbinden.
In seiner ersten, ursprünglichen Haltung scheint menschliches Leben der Zukunft zugewandt. Seine Dynamik ist die einer teleologischen Gerichtetheit. Leben ist eine vorwärts drängende Bewegung; als strebender und handelnder ist der Mensch auf Ziele gerichtet, die vor ihm liegen. Kognitive, affektive, praktische Haltungen schreiben sich dieser Gerichtetheit ein. Als erwartendes, planendes, antizipierendes, aber auch hoffendes, fürchtendes Lebewesen hat der Mensch die Zukunft in allen möglichen Gestalten vor sich: als offene oder geschlossene, bekannte oder verdeckte Zukunft, als erfüllende oder bedrohliche, als von ihm selbst herbeizuführende oder ihm entgegenkommende, über ihn hereinbrechende Zukunft. Wenn der Mensch für die Existenzphilosophie ein sich selbst verstehendes und sich interpretierendes Wesen ist, so ist er dies in erster Linie darin, dass er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen her begreift. Sich aus der Macht seines Könnens verstehen heißt sich mit Bezug auf die Zukunft, auf seine Zukunft hin verstehen. Indessen ist die Zukunft nicht in seine Hände gelegt. So fundamental wie das Ausgreifen und Sichentwerfen ist die Erfahrung des Nichtverfügens, des Nichtkönnens und der Ohnmacht. Doch ebenso kann ihm die Zukunft als Verheißung entgegenkommen, als Raum der Utopien und Wünsche geöffnet sein. Emphatische Konzepte nehmen eine Zukunft in den Blick, auf welche das Subjekt nicht ausgreifen und die es nicht vorhersehen kann, sondern die ihm entgegenkommt und sich ihm öffnet – gleich dem Anderen, den ich nicht erwarten kann und der auf mich zukommt.6 Sich nicht von seinem Grund und Ursprung her zu verstehen, sondern vom Ausstehenden und Entgegenkommenden, den latenten Tendenzen und den nach vorne drängenden Bewegungen her, ist die Umkehrung, die Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung fordert.
In so vielfältiger Gestalt wie die Zukunft erscheint die Vergangenheit im Leben des Menschen. Sie eröffnet ihm Möglichkeiten und sie engt ihn ein, sie trägt ihn in seinem Sein und sie drückt ihn nieder. Sie legitimiert ihn und klagt ihn an, sie ist Quelle der Befreiung und lähmende Macht. In allen Formen gehören das Vergangenheitsbewusstsein, das bewahrende Gedächtnis, die vergegenwärtigende Erinnerung zum menschlichen Leben. Je nach dem Charakter des Vergangenen, den Erfordernissen der Gegenwart und der seelischen Disposition der Menschen gewinnt Erinnerung für sie einen verschiedenen Stellenwert. Dem hohen Lied der Memorialkultur steht die soziale Marginalisierung, zuweilen die polemische Verbannnung des Gedächtnisses gegenüber. Für den einzelnen wie für die Gesellschaft kann beides zum vitalen Bedürfnis werden, die Vergangenheit aufzuarbeiten und kritisch zu durchleuchten, aber auch mit ihr zurecht zu kommen, sie ruhen zu lassen, sich von ihr frei zu machen. Worauf das Bedürfnis geht, kann gleichzeitig zur Belastung, zur existentiellen Herausforderung werden. Der Rückblick und die Besinnung können Gegenstand der Freude und des Stolzes, aber auch der Scham und der Trauer sein. Auch erkenntnismäßig findet der Bezug zum Vergangenen in variierenden, teils entgegengesetzten Formen statt. Die Vergangenheit kann uns bedrängen, in unseren Alltag eindringen, sie kann uns transparent vor Augen stehen, aber auch verdeckt und verborgen sein, sich dem Erinnern hartnäckig verschließen.
Gegenüber den beiden Zeitekstasen ins Gewesene und Künftige erscheint die Gegenwart zunächst wie der neutrale Bezugspunkt, der nichtthematische Boden der Zeitreflexion. Indessen verbinden sich auch mit ihr genuine Zeitvorstellungen, denen sowohl ontologische wie anthropologische Bedeutung zukommt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft erscheint Gegenwart als Schwelle und Übergangspunkt, als der flüchtige, nicht festzuhaltende Augenblick des Umschlagens vom Kommenden ins Gewesene, vom Möglichen ins Wirkliche. Als ausdehnungsloser Moment scheint sie keine eigene Realität, kein wirkliches Sein zu besitzen. Doch kann sie auch umgekehrt als das allein Seiende erscheinen, dem gegenüber das Vergangene und das Künftige, als abwesende, nicht da-seiende, in Wahrheit nicht ›sind‹. Die eigentümliche Doppelvalenz findet ihre Korrespondenz im Existentiellen. Auf der einen Seite gilt der Augenblick als Ort der Flüchtigkeit, der Instabilität, des Verschwindens und unablässigen Sichentgleitens; das Leben findet im Jetzt keine Dichte und keinen Halt. Auf der Gegenseite verbinden sich mit der Gegenwart – wie in der ontologischen Vision des Parmenides – Vorstellungen des integralen, erfüllten Seins, der Vollendung und des Mit-sich-Einsseins. Der Begriff der Gegenwärtigkeit schwankt dabei – wie der Gegenbegriff des Abwesenden – zwischen temporaler und räumlicher Bedeutung. Wer wirklich, jetzt ist, ist sichtbar, Aktualsein heißt Sichmanifestieren; wer in der Gegenwart ist, ist sich selbst gegenwärtig. Gegenwart wird zu einer emphatischen, affirmativen Bestimmung des vollendeten Seins und Selbstseins (wie umgekehrt eine Strömung der Metaphysikkritik als Kritik an der Präsenzmetaphysik auftritt). Gegenwärtigkeit steht für ein Ideal des wahrhaften Seins, des Identischseins und Ganzseins.
Interessant ist nun, dass diese Leitidee nicht nur eine der drei Sphären des dimensionalen Zeitbewusstseins strukturiert. Die Idee der Gegenwärtigkeit bildet desgleichen einen Fluchtpunkt sowohl des Zukunfts- wie des Vergangenheitsbezugs. In beiden Weisen des Hinausgehens über das Jetzt, im Vorausgehen wie im Zurückblicken, fungiert das Ideal des Ganzseins und Sich-selbst-Findens als Richtschnur und treibendes Motiv. Nach Heidegger ist es das Vorlaufen zum Ende, das Sein zum Tode, welches in bevorzugter Weise das Ganzseinkönnen des Daseins ermöglicht. Vom Ende her, angesichts des Endes und im Zurückblenden vom Ende her, sind wir mit dem Ganzen unseres Lebens konfrontiert, uns in der Ganzheit unseres Lebens gegeben. Doch auch im offenen Entwurf, im Wünschen und Projizieren ins Künftige kann die Vorstellung, zu sich zu kommen und sich gegenwärtig zu werden, zum Leitstern werden. Ebenso aber kann die Sehnsucht nach Gegenwart als Triebkraft des Erinnerns wirken. In der Herkunft heimisch zu werden, sich in ältesten Hoffnungen wiederzuerkennen, seine Geschichte zu erkunden und auszubreiten kann vom Bedürfnis getragen sein, nicht nur Früheres aus dem Entschwundensein heraufzuholen, sondern sich selbst im Rückgang zum Vergangenen in seinem Leben präsent zu werden. Das von Proust evozierte Glück ist nicht zuletzt eines der erfüllenden Präsenz.
Nun hat nicht nur Proust die Fragilität dieses Glücks erkannt, die ungesicherte Mühsal des Erinnerns beschworen. Viel umfassender ist das Leben in der Zeit seit je in seiner Abgründigkeit, seiner Gefährdetheit erfahren und reflektiert worden. Zeit ist nicht nur eine tragende Dimension menschlichen Lebens, sondern gleichzeitig eine existentielle Herausforderung. Die ungelöste Spannung zwischen Gelingen und Misslingen bleibt dem Leben in der Zeit unhintergehbar.