Читать книгу Abara Da Kabar - Emil Bobi - Страница 10
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ОглавлениеIch startete den Wagen nicht. Ich griff nach dem Hebel rechts am Sitz, legte mich mit der Rückenlehne flach und schlief sofort ein. Ich träumte und der Traum war von großer Klarheit und Lautstärke. Da war ein junger Niederösterreicher, den ich aus dem wirklichen Leben kannte, ich meine, kennen ist ein bisschen viel gesagt, ich hatte ihn nur einmal getroffen, als ich ihn vor Jahren in einem Gefängnis in Bangkok besuchte, das man Bangkok Hilton nannte, um über ihn zu berichten. Ich schrieb eine Serie über im Ausland inhaftierte Österreicher, die auf der ganzen Welt verstreut mit ihren geplatzten Träumen im Gefängnis saßen. Der noch kindlich wirkende Niederösterreicher war bei der versuchten Einreise von Laos nach Thailand mit einem Kilo Heroin festgenommen und zu hundert Jahren Haft verurteilt worden. Als ich ihn besuchte, hatte er sieben Jahre abgesessen und der thailändische König hatte seine Strafe im Zuge einer Amnestie halbiert. Er hatte also noch dreiundvierzig Jahre zu sitzen und weil er aus einer Familie stammte, die sich seit seiner Kindheit nie um ihn gekümmert hatte und er von ihr also nichts, nicht einmal einen Brief, erwarten durfte und auch sonst niemanden in seiner Heimat hatte, er also wirklich allein war, hielt er sich mit der Vorfreude am Leben, mit den Jahren einer der einflussreicheren Langzeithäftlinge zu werden und in den Genuss eines Privilegs zu kommen, das nur solchen Häftlingen vorbehalten war: eine ein bis zwei Quadratmeter große Bodenfläche im Gefängnishof bebauen zu dürfen und eines Tages seine eigenen Tomaten zu ernten. In meinem Traum tauchte er nun als Richter auf.
Er thronte inmitten der Beisitzer wie auf einer Kanzel im Hintergrund, vor der sich ein Meer befand. Eine Wasserfläche jedenfalls, über die man zum Gericht hin blickte. Gerichtsdiener trugen Akten herein und entfernten sich wieder. Einzelne Mitglieder des Senates besprachen sich stehend, andere hatten bereits Platz genommen. Da bemerkte ich erst, wer es war, der über die Wasserfläche hin auf das Gericht blickte: Ich selbst. Ich war es, der hier vor Gericht stand. Und ich realisierte, dass ich weit, weit weg von Zuhause in einem Traum aufgewacht war, der kein Traum war, sondern Wirklichkeit, die nicht weg ging, auch wenn ich noch so oft weg- und wieder hinschaute. Ich presste die Augen zusammen und öffnete sie wieder, um mich in der heilen Welt meines Schlafzimmers wiederzufinden. Doch ich stand vor Gericht. Die Beisitzer sprachen miteinander. Sie schienen Formelles abzuklären. Dann wendeten sie sich mir zu, aber ich verstand kein Wort. Ich folgerte aus der Situation, dass ich der Angeklagte sein musste und mein Gefühl des unbeteiligten Zaungastes verschwand. Ich stand im Zentrum des Geschehens, aber mehr verstand ich nicht. Ihre Sprache klang hart und abgehackt. Völlig gefühllos, weder kalt noch warm und ohne merkliche Betonung oder Farbe wurde sie silbenweise ausgestoßen wie trocken knackendes Gebell. Sie war voll mit Lauten, die aus zusammengepressten Lippen hervorbrachen oder von einer krachenden Kehle her über den Gaumen rollten, bevor sie von einer schnalzenden Zunge abgeschossen wurden.
Es wurde gegen mich in einer Sprache verhandelt, von der ich nicht ein einziges Wort verstand. Alles andere lief so ab, wie ich es von Gerichtsprozessen kannte. Der Richter verlas stehend etwas, warf immer wieder den weiten Ärmel seines Talars zur Seite, der immer wieder zurückrutschte und sein Dokument halb verdeckte. Sein Oberkörper neigte sich ein wenig seitwärts und er las sehr schnell, als gebe es ohnehin keine Widerrede. Er strahlte die Souveränität und Entschlossenheit eines unnahbaren Regimes aus, das alle Rechte hatte und gegen mich vorging. Der Richter hielt inne und blickte auf. Eine sehr übergewichtige Person in ziviler Kleidung hatte sich von einer Sitzreihe zur Linken des Gerichtes erhoben und sagte zwei, drei kurze, unbeteiligte Sätze. Dann hob er die Hand zum Zeichen seiner Bitte um Geduld und blätterte mit der anderen Hand in seinen Unterlagen, ohne die erhobene wieder runterzunehmen. Dann zog er ein Blatt aus dem Aktenberg, hob es präsentierend hoch und kommentierte es mit einigen Knacklauten. Der Richter durchwühlte mit schnellen Bewegungen einen seiner Ordner, schien nichts zu finden und blickte wieder den Übergewichtigen an, der nun mich anschaute, während er ein kehliges Schleifgeräusch ausstieß, das mit einem abgewürgten Stöhnen endete. Ich entnahm seinen Lauten nicht einmal, ob es eine Frage oder eine Mitteilung war. Er wartete zwei Augenblicke und als von mir nichts zurückkam, wandte er sich gleichmütig wieder an den Vorsitzenden und nickte. Alles schien vorbereitet. Aber ich wusste nicht, was. Das einzige, was ich zu verstehen dachte, war das Nicken des Übergewichtigen, das wohl ein Ja bedeuten musste, obwohl nicht einmal das gesichert war, denn die Inder etwa schüttelten den Kopf, wenn sie etwas bejahten. Der Übergewichtige sah jedenfalls aus wie ein Verteidiger, vielleicht mein Pflichtverteidiger, der etwas bejaht hatte. Sonst wusste ich nichts. Ich wusste nicht, was man mir vorwarf, nicht einmal, ob man mir überhaupt etwas vorwarf. Sicher schien nur, dass es ein Strafgericht war, aber nicht einmal dafür hatte ich eine Bestätigung. Theoretisch konnte es auch ein Verfahren zur Gewährung eines lebenslangen Luxusurlaubes sein, aber dagegen sprachen die schwer bewaffneten Justizbeamten, die bewegungslos links und rechts neben mir standen und mit dem Kinn auf den Richtersenat zeigten. Sie erstickten meine Fluchtgedanken im Keim. Ich nickte Kontakt aufnehmend und einladend in Richtung des Gerichts. Ich bot gestisch meine volle Kooperation an. Vielleicht hatten sie ja recht. Das konnte man besprechen. Ich hatte nicht vor zu lügen und so hätte man vielleicht das Prozedere abkürzen können und Klarheit schaffen und Ordnung, was vermutlich alle wollten, auch ich, ich sicher, vielleicht noch mehr als sie. Außerdem, wer war schon frei von Schuld? Und ich, ganz offen gesagt, fühlte mich auch nicht schuldlos. Natürlich waren Fehler passiert, das wollte ich nicht bestreiten, es wäre ja unsinnig und unglaubwürdig und vielleicht strafverschärfend, jeder hat Verbrechen begangen, zumindest an der Demut, an der Aufrichtigkeit und Unterwürfigkeit, wenn schon nicht an Leib und Leben.
Der Lauf der Verhandlung rollte über mich hinweg, als wäre ich nicht da, als würde in meiner Abwesenheit gegen mich verhandelt. Ich versuchte zu sprechen, aber da kam kein Laut aus meinem Mund. Ich wollte dem Gericht bedeuten, ja, ok, ist ja gut, ich komme euch entgegen, man muss mich gar nicht zwingen, ich sträube mich nicht. Ich spürte das Verlangen, meiner Schuld einen Grund zu geben, dieses diffuse Gefühl des Schlechtseins, das sich in mir breitmachte, mit einem konkreten Vorwurf zu identifizieren und bereubar zu machen. So bat ich mit den Augen um Bestätigung meiner Schuld. Aber niemand achtete auf meine geblickte Aussage. Ich war bereit, mich schuldig zu bekennen, aber man hatte mich nicht gefragt. Ich wollte ein volles Geständnis ablegen, aber welche Sache betreffend? Oder einen Gegenbeweis antreten, aber wovon? Ich wollte schuldig sein, doch konnte ich es nicht, weil ich nichts verstand. Ich verstand diese Sprache nicht und ich hatte diese melodielosen Geräuschketten noch nie gehört. Aber sie schienen ausschließlich aus Konsonanten zu bestehen. Es war wie unter Wasser, es war, als würde ich nun doch nicht an einem Ufer stehen und über das Wasser hinweg zur Kanzel blicken, sondern unter Wasser sein, ohne Luftraum, durch den sich Laute hätten bewegen können.
Da sah ich den Gerichtsschreiber. Er saß zur Rechten des niederösterreichischen Vorsitzenden aus dem Bangkok Hilton und blickte nun auf. Ich wunderte mich, ihn bis dahin nicht wahrgenommen zu haben, denn schon sein Aussehen wirkte, als käme er aus einer gänzlich unbekannten Kultur. Seine lange, gebogene Nase erinnerte an einen Schnabel, seine Augen waren außergewöhnlich groß und außergewöhnlich schwarz und sein kommentarloser Blick war klar wie Gebirgsluft. Er musste einer hierarchischen Ebene entstammen, die Dimensionen drüberstand. Er, und nur er, war hier der wahre Vorsitzende, auch, wenn er wie ein Besucher wirkte. Und dann erkannte ich ihn: Tehut. Es war Tehut. Der Erfinder der Schrift. Der Protokollchef des Totengerichts. Tehut, der Schreiber.
Da klopfte es. Ich öffnete die Augen und sah das gequält lächelnde Gesicht eines alten rumänischen Bettlers, der mir durch die verschmierte Windschutzscheibe zunickte und die Hand aufhielt. Die Sonne stand schon hoch und im Wagen war es heiß geworden. Mein Kopf steckte unter einer schmerzenden Trockenhaube. Mir war übel, Schweiß verklebte mich von oben bis unten und ich war erleichtert, in Wien zu sein und angebettelt zu werden. Ich öffnete die Wagentür. Die kühlende Luft auf meinem nassen Körper fühlte sich an, als würde ich Wasser aus dem Paradies trinken.
Mein Traum befand sich noch in der Nähe und hallte nach. Erinnerungsgefühle aus einer fremdartigen Tiefe wehten herauf und ich spürte eine vergessene Vertrautheit, wie ein Wiedersehen mit meinen entferntesten Augenblicken, die weiter weg waren als ich jemals gewesen war und möglicherweise selbst aus Träumen stammten. Ich schleppte mich hinunter zum Donaukanal und ließ mich im Schatten nieder. Es stank nach Urin, duftete nach Lindenblüten und roch nach den fauligen Dieselabgasen der Fähre, die Richtung Bratislava abgelegt hatte und mit winkenden Urlaubern an Deck lautlos vorbeizog. Die bunten Graffitis an den Ufermauern verschwammen, wenn sie nicht schon verschwommen waren. Ich war zufrieden, als wäre ich durch ein Ziel gegangen. Aber ich wollte nur noch kotzen. Da sah ich, dass der Bettler noch da war und mir eine Flasche Wasser unter die Nase hielt. Ich trank und dann kam ein dicker, gelblicher, verklumpter Strahl aus meinem Mund wie aus einem Abwasserrohr. Alles wurde leichter. Und der Bettler lachte begeistert mit zahnlosem Mund und kindlich glänzenden Augen.
War ich aufgewacht, obwohl die Verhandlung weiterlaufen sollte? Hatte der Bettler bewirkt, dass das Verfahren vertagt wurde, um in der Zukunft weitergeführt zu werden? Oder erinnerte ich mich nicht mehr an alles und es war auch zu einem Urteil gekommen? Hatte man mich verurteilt? Es dürstete mich nach Gewissheit wie nach Wasser. Ich hoffte, verurteilt worden zu sein, ich hatte Lust, verurteilt worden zu sein und ich wollte es wissen. Vor allem die Urteilsbegründung hätte mich interessiert. Mehr noch als das Strafausmaß. Fast wäre ich gern verurteilt gewesen, nur um zu erfahren, wofür und zu was. Dieses Gericht schien viel über mich zu wissen, sehr viel. Und ich wollte es auch erfahren. Aber es gelang mir nicht, weitere Bilder des Traumes auszugraben. Sie entfernten sich, verloren ihre Lautstärke und Fragwürdigkeit. Nur das Gefühl tiefer, alter Verwandtschaft blieb noch lange und wurde nur langsam schwächer. Ich fuhr in meine Wohnung und fiel ins Bett.