Читать книгу Abara Da Kabar - Emil Bobi - Страница 11

5

Оглавление

Als ich am späten Nachmittag erwachte, dachte ich, das Piepsen meines Mobiltelefons gehört zu haben, das den Eingang einer Nachricht meldete, vergaß es aber gleich wieder. Ich fühlte mich entleert. Mein Magen war sauer und mein Genick so verspannt, dass der Schmerz auf beide Schultern ausstrahlte, besonders auf die linke, wo er bis zum Ellbogen durchstach. Meine Wohnung lag in einem fremden Dämmer und in meinem Kopf lärmte eine Großbaustelle. Die Aufgewühltheit, die der Traum hinterlassen hatte, war abgezogen und hatte einer schuldbeladenen Leere Platz gemacht, einer seelischen Übelkeit, die das Halbdunkel meiner Wohnung noch tiefer machte. Mir war, als triebe ich nächtens allein auf hoher See, wogenden, schwarzen Bergen aus Wasser ausgeliefert, und ich wünschte mich zurück in die Harmlosigkeit meiner kleinen Welt. Ich wollte auf die heranrollenden Wasserberge einreden und spürte die Abwegigkeit dieser Idee. Die hohe See hörte kein bisschen zu. Sie trieb keinen Handel und sie machte sich nichts aus kleinen Lungenatmern, sondern ersäufte alles, was keine Kiemen hatte. Der Bettler hatte mich aus der Verhandlung geholt, noch bevor sie zu Ende war. Ich hatte mich an der Kippe gesehen, von dem Regime aus dem Verkehr gezogen zu werden. Mir war bewusst geworden, dass das jederzeit passieren konnte.

Ich kochte Kaffee, schluckte Tabletten, setzte mich an den Schreibtisch und begann, in den Archiven internationaler Zeitungen und einiger Universitäten nach Beiträgen zum Thema »Sprache« zu suchen. Ich überflog, las quer, tauchte da und dort tiefer, ließ wieder ab und ging weiter. In keinem einzigen dieser Texte klang auch nur entfernt etwas an, das in meine Richtung deutete. Nirgendwo war die Rede von einem Kommunikationsproblem, das vom System ausging. Der Tenor lautete: Die Sprache ist ein rätselhaftes Wunderwerk, ein Geheimnis. Sie schenkt uns die Kommunikation und nicht ein Kommunikationsproblem.

Obwohl ich längst wusste, dass ich an eines der ganz großen Themen geraten war, sah ich erst jetzt, wie gewaltig riesig es wirklich war. Es reichte bis an den Horizont und ging daher vermutlich auch darüber hinaus. Alle Protagonisten des Denkens, Forschens und Schaffens sämtlicher Epochen und aller Kulturen vom Altertum bis herauf in die Gegenwart äußerten sich über die Sprache. Sprache ist … begannen sie alle und dann folgte etwas Hellsichtiges, Ergreifendes, sprachlich Virtuoses, nachdenklich, malerisch, angestrengt, wütend, kategorisch, tastend, resignierend, originell, leidend, bohrend, anbetend, verdammend, verstiegen. Tausende Jahre lang hatten sie ihre Gedanken über das ungreifbare Phänomen aufgetürmt, immer höher und höher. Je mehr darüber gesagt wurde, desto größer war das Thema geworden. Das reichte von den Sehern des indischen Altertums, den persischen und äthiopischen Welterklärern, den Intelligenzbestien des alten Athen, den esoterischen Deutern des Mittelalters, sämtlichen Philosophen, Dichtern und Künstlern bis herauf zu den Empirikern der jüngsten Jahrhunderte und schließlich den modernen Linguisten, Kunstschaffenden und Schreibern der Gegenwart. Alle erklärten, was sie dachten, dass Sprache war. Und alle hatten eines gemeinsam: Sie versuchten sprachlich in einen Bereich vorzudringen, wohin ihre Sprache nicht reichte. Alles, was sie tun konnten, war, mit schöner literarischer Kunstfertigkeit und beeindruckender philosophischer Kraft zu umschreiben, dass sie es nicht wussten. Und fast niemand ließ sich herab, genau das zu artikulieren. Einer schon: »Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver, Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.« Ok, schön, dachte ich. Aber das brachte mich auch nicht weiter. Geist und Kadaver und Skalpell. Was sollte ich damit?

Ich wollte jetzt ja nicht die Sprachwissenschaften in ihrer Gesamtheit studieren, sondern machte mich mit der herkömmlichen Ahnungslosigkeit des Journalisten am Beginn seiner Recherche auf eine gezielte Suche nach Spuren meiner eigenen Gedanken. Doch ich fand nicht viel. Nur ein oder zwei der radikalsten Denker gaben Äußerungen von sich, in denen etwas durchklang, das bei mir anschlug. Nietzsche zertrümmerte die gesamte Sprachromantik mit wenigen Hieben: Die Sprache sei ein Instrument der Lüge und diene zur Vertuschung eigener Verwerfungen. Und einige Mystiker unterstellten, die Sprachenvielfalt diene zur Verhinderung von Kommunikation.

Aber wirklich sicher waren nur die Priester. Sie wussten es. Die Sprache war ein Geschenk Gottes und die Sprachverwirrung zu Babel eine Strafe desselben. Und so war das Thema das gesamte Mittelalter unter priesterlichem Verschluss geblieben, bis im späten achtzehnten Jahrhundert erste Mutmaßungen offen ausbrachen, die Sprache sei ein Werk des Menschen. Der Mensch selbst habe sie erfunden und entwickelt. Wahrscheinlich durch Nachahmung von Naturlauten in Verbindung mit körperlichen Zeichen und Gesten. Die Linguistik war geboren.

Ich versank in den Recherche-Unterlagen. Nach drei Tagen war ich eingeraucht mit Sprachgeschichte. In meinem Kopf drehten sich Satzfetzen, die sich selbstständig gemacht hatten. Am frühen Morgen nach der dritten Nacht, ich war halb wach und hörte die Vorgänge in meinem Hirn mit großer Lautstärke, da fügten sich einzelne herumschwirrende Brocken zu einer sauberen Ordnung und ergaben plötzlich ein Bild, das ich zu erkennen glaubte. Ich dachte den Grund für die Angst der Priester zu sehen und ich sah die Gefahr, die es für sie bedeutete, wenn ihnen Fragen nach der geheimnisvollen Macht der Laut-Kombinationen gestellt wurden. Mir leuchtete ein, wie sehr die Menschwerdung selbst, jawohl, die Menschwerdung und nichts Geringeres als die Menschwerdung, mit der Aneignung von Sprache einherging. Was Sprache konnte, lief darauf hinaus, dem Gott der Priester die Erschaffungskompetenz zu entziehen.

Schon klar, nicht alles, was es gab, war auch nachweisbar, aber alles, was nachweisbar war, gab es auch wirklich. Und sie, die Sprache, war es nun einmal nachweislich gewesen, die im Hirn des Menschen eine Kette neuer Fähigkeiten aktiviert hatte, die ihn, den Menschen, allen anderen Wesen der Natur so konkurrenzlos überlegen macht. Diese Kettenreaktion war die Mutter aller Kettenreaktionen und sie war eine Nebenwirkung der Sprache.

Eine Faust schlug gegen meine Wohnungstür. Ich stieg aus dem Bett. Der Gasmann begehrte Einlass, als hätte er einen Durchsuchungsbefehl. Ich hatte die vorgeschriebenen Wartungsarbeiten an der Gastherme nie durchführen lassen, musste nun glaubhaft lügen und war dankbar, dass die Sprache vorsätzliche Unwahrheiten zuließ. Furchtbar die Vorstellung von einer Sprache, die wie ein Geheimdienst in meinem Kopf saß und mich daran hinderte, mich zu verstecken. Aber dann griff ich zur noch einfacheren Lösung. Ich öffnete nicht.

Ich hatte wirklich zu tun. So war das also mit der Sprache, dachte ich. Hochinteressant. Was von all dem Gelesenen am besten ineinander passte, machte ich zu meiner Meinung. Ich trank kalten Kaffee. Ich kratzte in Tomatensauce eingetrocknete Nudelreste vom Rand der Pfanne. Ich starrte aus dem Fenster.

Meine Recherche bekam Eigendynamik. Eines ergab das andere und so hantelte ich mich immer weiter in einen Stoff hinein, in dem es wie in einem Schlund immer tiefer nach unten ging und ich bald das Gefühl bekam, selbst verschluckt zu werden. Ich telefonierte drauf los, fixierte Gesprächstermine, hinterließ Nachrichten, ersuchte um Rückrufe, verschickte Mails mit allgemeinen Fragen, bat um Interviewtermine oder um Hinweise auf mögliche Gesprächspartner. In einer der Zeitungsgeschichten, auf die ich gestoßen war, fiel mir die Sprachhistorikerin Michaela Halbmond auf, weil sie aus Wien stammte und mit dabei gewesen war, als man in den Achzigerjahren in Westafrika eine unbekannte Sprache entdeckt hatte. Eine Sprach-Entdeckerin also. Gleich hier um die Ecke. Am Institut für Linguistik fand sich jemand, der mir ihre Telefonnummer verriet. Ich wählte sie. Besetzt.

Sprachentdeckungen waren mehr als selten geworden. Die junge empirische Wissenschaft hatte innerhalb eines Jahrhunderts alles fast restlos wegentdeckt. Sie registrierte Abertausende lebende Sprachen, verglich und katalogisierte sie, definierte ihre baulichen Strukturen und gliederte sie über grammatische, semantische oder lexikalische Ähnlichkeiten in Familien, Gruppen und Untergruppen und entschied, ob ein Einfluss etwa balto-slavisch oder vielleicht indo-iranisch war.

Ich wählte die Nummer von Michaela Halbmond. Es war besetzt. Ich schrieb an Noam Chomsky, dann schrieb ich an Salikoko Mufwene. Als ich auf Senden drückte, läutete mein Telefon und einer jener Sprachexperten im weitesten Sinn, die ich anfangs nicht erreicht hatte, rief zurück.

Er war ein Geistlicher und ein besonderer Mensch. Seit vielen Jahren hatte er mich mit vertraulichen Informationen aus der Kirche versorgt, die sich bei Überprüfung stets auf Punkt und Beistrich bestätigten. Er war ein erbarmungsloser Kirchenkritiker, denn er wollte sich seine Kirche nicht von jenen nehmen lassen, die sie veruntreuten. Wenn er den Vatikan bloßstellte, kam das ganz ruhig und ohne Feindlichkeit daher, aber es rollte tonnenschwer über Rom hinweg. Akademisch sehr hoch gebildet und mit uralten griechischen und lateinischen Originaltexten belesen, hatte er sich von der realen Zeit so abgewendet, dass er im echten Leben seltsam deplatziert wirkte. Fast wollte man eine Persönlichkeitsstörung vermuten, wenn man nicht bemerkte, dass es seine ausgeprägt kindliche Unerfahrenheit war, die ihn so weltfremd machte. Er wirkte wie ein Untoter, wie das lebende Relikt eines Gelehrten aus einem vergangenen Jahrhundert. Auch seine Demut hatte etwas Kindliches und man spürte, dass dieser Mann sich eher verbrennen lassen würde, als seine Werte zu verraten. Er war ein faszinierender Pakt zwischen großem Wissen und tiefer Ahnungslosigkeit. Und er befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium seiner Alkoholsucht.

Diesmal hatte ich ihn aus zwei Gründen angerufen. Zum einen wollte ich ihn bitten, mich mit einem ihm persönlich bekannten Priester in Kontakt zu bringen, der ausgebildeter Exorzist war. Einer, der mit der Kraft der Sprache gegen den Teufel vorging. Einer, der die Sprache direkt als Waffe einsetzte. Und das nicht etwa auf dem Niveau des Bundeskanzlers, der mit gebrochener Muttersprache einen weinerlichen Lügen-Wahlkampf führte. In der Praxis der rituellen Austreibung gottesfeindlicher Besessenheit ging es ein bisschen anders zu als in der SPÖ-Wahlkampfzentrale. Exorzismus war seit eh und je selbstverständlicher Teil der kirchlichen Realität gewesen und so hatte der Papst erst unlängst daran erinnert, dass jede Diözese über mindestens einen Exorzisten zu verfügen habe. Das Fach der Vertreibung böser Geister wurde in Rom gelehrt und es äußerte sich in der Praxis nicht immer in angstkreischenden Wahnsinnigen mit schwarzen Ringen um blutunterlaufene Augen, in denen der Teufel wütete, in Abscheu vor dem Kreuz, das ihm der Exorzist unter Gemurmel von Bannsprüchen entgegenhielt. Viel öfter waren die Eingriffe der religiösen Psychotherapie wenig spektakulär. Schon ein schlichtes Gebet um Heilung durch den Schöpfer war Exorzismus. Herr, sprich nur ein Wort, und meine Seele wird gesund. Das Wort, das gesund macht. Das frei macht von Schmerz. Das Wort als Kraft. Die Sprache des Herrn. Also: Die Sprache.

Zum anderen ging es mir diesmal auch um meinen Vertrauensmann selbst, denn dieser Mann verfügte über etwas sehr Erstaunliches, über das er auch offen reden hätte können. Er beherrschte sage und schreibe sechsundvierzig Sprachen. Er sprach fließend Latein und sogar ganz gut Aramäisch, die Sprache des Jesus von Nazareth. Aber das war noch gar nichts. Er sprach Kadugli, Bijago, Mbulungisch-Nalu, Senegambisch, Limba, Mansonaka, Kulere und Bantu aus der Niger-Kongo-Familie. Er konnte nilo-saharische Sprachen wie Kuliak, Gumuz, Kunama und Songay. Er beherrschte sino-tibetische, austronesische und altaische. Von seinen Lippen rollten Turksprachen wie Tschuwaschisch, Tofalarisch und Jakutisch. Mongolische wie Dagur oder Kalmückisch. Tungusische Sprachen wie Orochisch, Evenkisch oder Negidalisch. Aus irgendwelchen Winkeln und Ecken seines unheimlichen Gehirns fischte er malayo-polynesische Lautketten hervor, maduresische, jakunische, perakanische und semedonische. Er konnte Bima-Sumba. Er konnte Algonkin, Sprachen der Oto-Mangue-Gruppe wie Chibcha, Tupi, Quechua oder Irokesisch. Und Pidgin-Sprachen, diese verbogenen, verstümmelten Mischsprachen, die sich aus Kolonial- und Eingeborenen-Sprachen zusammensetzten und von den Folgegenerationen alter Sklaven gesprochen wurden. Er sprach Zwergsprachen, die von weniger als tausend Sprechern benutzt wurden und von denen noch kein normaler Mensch je etwas gehört hatte.

Ich lag am Bauch vor ihm. Mich faszinierten Sprachkenntnisse. Ich hatte davon geträumt, noch in diesem Leben fünf, sechs Sprachen zu beherrschen und schaffte es gerade einmal bis eindreiviertel plus Begrüßungsbrocken in dieser und jener. Dieser Mann hatte über Jahre unserer Bekanntschaft seine unglaublichen Kenntnisse mit keinem Wort erwähnt. Bis wir einmal gemeinsam im Park saßen, nachdem er mich angerufen hatte, weil er in der Bibliothek des Priesterseminars einen vierhundert Jahre alten Wälzer entdeckt hatte, den er mir zeigen wollte. Der Text war auf Mandarin und weil er so selbstverständlich vorlas und übersetzte, fragte ich nach.

Wir saßen damals lange. Er erzählte von Killersprachen wie Englisch, Russisch oder Französisch, die kleine Lokalsprachen infiltrierten, infizierten und verdrängten wie eingeschlepptes Unkraut. Er redete über Kultur tragende Sprach-Großfamilien wie die afroasiatische, in der das Arabische eine junge Kultursprache war. Ganz jung waren auch Assyrisch und Babylonisch, denn die alten Formen dieser Großfamilie waren etwa das mesopotamische Akkadisch. Oder das Indoeuropäische mit seinen jungen, modernen Entwicklungsstufen wie Griechisch und Latein.

Nun also hatte er am Festnetz zurückgerufen. Ich hob ab, erklärte kurz angebunden, ich würde mich gleich wieder melden, denn auch das Mobiltelefon läutete. Aber jedes Mal, wenn ich ein Telefon auflegte, läutete schon das andere und so vergaß ich, ihn zurückzurufen. Und das war es dann. Zwei Tage später starb mein klerikaler Freund am Blut einer geplatzten Ader seiner Speiseröhre, das seine Lungen überschwemmt hatte.

Michaela Halbmond hob ab. Sie war ein Glücksfall. Erstens hatte sie eine ruhige, angenehme Stimme, zweitens war sie freundlich und offen, drittens war sie gerade in Wien und viertens wollte sie am Abend des nächsten Tages an einer Buchpräsentation teilnehmen, bei der zahlreiche Linguisten verschiedener Fachrichtungen anwesend sein würden. Sie bot mir an, sich mit mir dort zu treffen. Zwei emeritierte Professoren hatten gemeinsam mit einem jüngeren Kollegen ein Sachbuch über historische Sprachverbreitung mit dem Titel »Die Balkan-Route« geschrieben. Im Zentrum der Ausführungen stand ein filmreifer Konflikt, den ich als inter-menschoid bezeichnen würde, wenn das geht. Es ging um das nachgewiesene Aufeinandertreffen einer Gruppe moderner Menschen mit einer Gruppe von Neandertalern im Gebiet des heutigen Israel, das vor vierzigtausend Jahren stattfand. Davon zeugen freigelegte Lagerplätze der beiden Menschenarten, die unweit voneinander entdeckt wurden. Als die neumodernen Kolonialisierer des Homo sapiens von Ostafrika her in das Gebiet kamen, waren die alten Neandertaler bereits seit 20.000 Jahren da und hatten etwas dagegen, dass Fremde, ja sogar Fremdartige, einfach in ihr Gebiet einflossen, um sich da breitzumachen. In der Kunst der politischen Kompromissfindung noch etwas entwicklungsfähig, kam es zu schweren Zusammenstößen und die Modernen mit der senkrechten Stirn zogen mit blutigen Schädeln ab. Sie gelangten, nunmehr von Wirtschafts- zu Kriegsflüchtlingen mutiert, über die Balkan-Halbinsel nach Europa.

Es gab nichts, dachte ich, was es nicht schon gegeben hätte und das tausend Mal früher, als man dachte. Das schien auch ein Motto für die Buch-Autoren gewesen zu sein, denn sie nannten viele Beispiele. Dass ein Herr Kolumbus Amerika entdeckt haben soll, entlarvten sie süffisant als Mythos einer eingebildeten Zivilisation, die das für den Anfang hielt, woran sie sich selbst erinnern konnte. Tatsächlich waren zwanzigtausend Jahre vorher ganz andere Typen über den Nordpol nach Amerika gegangen. Und die Herrschaften, die vor achttausend Jahren die indoeuropäische Sprache von Asien nach Europa brachten, waren keine Einwanderer, sondern Rückkehrer. Vor neunzigtausend Jahren waren sie aus Afrika gekommen und über Europa nach Asien gewandert. Als Zeugnisse hatten sie ihre Schädel zurückgelassen und ihre Beile, in die Erde gesenkt wie Proviant-Depots der Erinnerung, zur Wiederausgrabung in einer fernen Zukunft, als Beleg ihrer Rastlosigkeit, ihrer Suche nach Sicherheit und Sinn, die sie über die Horizonte hinaus lockte und keine Rückkehr kannte. Sie gebaren und starben unterwegs. Wandern war ein Urzustand. Allein ihre Reise von Afrika über Europa nach Indien dauerte zwanzigtausend Jahre, denn ihre auf dieser Route ausgegrabenen Schädel werden von West nach Ost stufenweise um zwanzigtausend Jahre jünger.

Aber auch sie waren lange nicht die Ersten. Eigentlich waren diese Leute fast schon Touristen, wenn man sie mit den wahren Pionieren verglich, die sich zwei Millionen Jahre davor auf den Weg nach Osten gemacht hatten. Das war der Erektus plus Anhang: ein wahrhaft uriger Entdecker. Er verfügte über keine konkrete innere Vorstellungswelt, einfach, weil er keine Sprache hatte, die differenziert genug war, abstraktes Denken zu ermöglichen. Seine Laute klangen absichtsvoll, doch verwaschen und unbeholfen. Dennoch war er der erfolgreichste Menschoide neben dem, der sich mit seiner komplexen Lautsprache zur Alleinherrschaft über die Natur aufschwingen und als einzige Menschen-Art überleben sollte. Der Erektus: unsentimental, allürenfrei, geradeaus. Er hätte mehr Erfolg verdient. Und wie bunt ginge es auf diesem Planeten zu, wäre er von mehreren Menschen-Arten bewohnt und nicht nur von einer einzigen in verschiedenen Farben.

Ein sehr gelungenes Buch, bei dessen Präsentation ich Michaela Halbmond kennenlernen sollte. Die Autoren hatten es geschafft, mich in ihre Geschichte zu entführen und den Erektus als Angehörigen wahrzunehmen. Ich mochte ihn. Ich sympathisierte mit dem Vormenschen. Das waren noch Typen, tausend Mal authentischer als der urigste Alt-Bauer. Das waren Echtfleisch-Menschen, die das systematische Überleben erfunden haben. Sie haben das Wissen dafür gegen zahllose ihrer Leben eingetauscht, haben sich jede Kleinigkeit an Wissenszuwachs erstorben. Die Erkenntnis, was ein Risiko ist, entwuchs einem Teppich aus Todesopfern.

Abara Da Kabar

Подняться наверх