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„Leah“, flüsterte Lilian, Schwägerin der Angesprochenen, „du häsch a Brief aus Übersee.“ Lilian sah sich vorsichtig um und griff in die Tasche ihrer Schürze, um Leah den Umschlag auszuhändigen. Diese nahm den Brief rasch an sich, formte ein lautloses „Danke!“ mit dem Mund und versteckte ihn in ihrer Schürze. Sie eilte in ihr Zimmer, um das verbotene Gut in dem abschließbaren Kästchen sicher zu verstauen, das sich in der untersten Schublade der Kommode befand. Tief vergraben in einem Berg von Unterwäsche, damit niemand es finden konnte. Den Schlüssel trug Leah an der Kette um ihren Hals, vor dem menschlichen Auge verborgen.

Die Post zu öffnen oblag bei den Amischen eigentlich dem Familienoberhaupt. Lilian musste geahnt haben, dass der Brief etwas enorm Wichtiges enthielt. Deshalb hatte sie ihn Leah übergeben, ohne ihren Mann zu informieren geschweige denn, ihm den Brief vorzulegen. Leah lebte als unverheiratete Schwester im Haus des Bruders. Das war so üblich, denn auf sich allein gestellt war niemand in der amischen Gemeinde, sondern lebte in einer familiären Gemeinschaft. Wenn Leah eine eigene Familie gehabt hätte, hätte sie in ihrem eigenen Haus gewohnt.

Für die Kost und Logis, die ihr Bruder ihr gewährte, war Leah nahezu rund um die Uhr im Einsatz: Sie half im Haushalt, sah den Kindern bei den Schulaufgaben über die Schultern und arbeitete regelmäßig im Geschäft ihres Bruders. Ihr Bruder Sam hatte vor ein paar Jahren den Möbelladen von Lilians Eltern übernommen. Die Touristen kamen scharenweise nach Shipshewana, um sich mit den handwerklich kostbaren Kleinoden zu versorgen, die vor Ort hergestellt wurden. Ein besonders bequemer Schaukelstuhl aus Sams Schreinerei zum Beispiel war das beliebtestes Stück in der Auslage, das wegging wie die warmen Semmeln am Frühstückstisch, die Leah sonntags selber backte.

Sam fertigte Möbel aller Art an. Er hatte sich sogar auf die modernen Wünsche seiner Kunden eingestellt, obwohl er selbst ein mehr als konservativer Mensch war und darauf achtete, dass in seinem Haus alles nach den althergebrachten Regeln und Traditionen ablief. Dazu gehörte es, den Überblick über die Angelegenheiten im Haus zu haben. Deshalb setzte er sich jeden Abend nach der Arbeit in seinen selbst gefertigten Schaukelstuhl und nahm sämtliche Briefe in Augenschein, die Lilian in der Postsammelstelle abholte, die die Amischen eingerichtet hatten, damit so wenig Unbefugte wie möglich ihr Gelände betraten. Dennoch waren sich Leah und Lilian unausgesprochen einig darin, dass Sam nicht unbedingt alles wissen musste. Einen Brief aus Übersee, der an Leah gerichtet war, musste Sam nicht unbedingt zu Gesicht bekommen.

Leah hatte noch einige Vorbereitungen für das Mittagessen zu treffen, bevor die Familie sich zu Tisch setzen konnte, um die gemeinsame Mahlzeit einzunehmen. Danach würde Leah endlich das an sie gerichtete Schreiben lesen können. Ohnehin geisterte die Frage nach dem Inhalt des Briefes ständig in ihrem Kopf herum, dass sie sich beinah beim Gemüseschneiden mit dem Messer geschnitten hätte.

Nach dem Essen erledigte sie die anfallenden Arbeiten in besonderer Schnelligkeit – ließ dennoch Sorgfalt walten –, damit ihr in der Mittagspause genügend Zeit blieb, den Brief zu lesen, bevor sie mit dem Rad ins Geschäft fuhr, um die Spätschicht zu übernehmen.

Sie saß an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer und betrachtete den Umschlag, der einen offiziellen Eindruck machte und in Hamburg abgestempelt war. War das nicht eine Stadt in Deutschland? Mit zitternden Händen öffnete Leah ihn.

Sehr geehrte Frau Stoltzfus,

ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihrer Tante Wanda Stoltzfus aussprechen.

Ihre Tante hat Ihnen ein nicht unbeträchtliches Vermögen hinterlassen. Daher bitte ich Sie, Kontakt mit mir aufzunehmen, um alles Weitere in die Wege zu leiten.

Mit freundlichen Grüßen

Josefine Dittmer

Notarin

Leah klopfte das Herz bis zum Hals, als sie das Blatt in ihren Schoß legte. Sie war erschüttert. Tante Wanda war tot. Ihre Lieblingstante. Leah schloss die Lider und ließ eine Szene vor ihrem inneren Auge entstehen. Tante Wanda hatte sie in ihren Armen gehalten und ihr einen Abschiedskuss auf die Wange gedrückt.

„Bitte geh nicht!“, hatte sie die Tante regelrecht angefleht. Die Tränen in den Augen hatten ihren Blick verschleiert.

„Ich kann nicht bleiben, Leah. Es tut mir leid.“ Wandas eigene Tränen jedenfalls hatten Zeugnis davon abgelegt, dass die Tante selbst sehr traurig über ihre Abreise gewesen sein musste. Weshalb fuhr sie dann überhaupt? Leah hatte damals die Welt nicht mehr verstanden. Und der Weggang ihrer einzigen Verbündeten hatte ihr für eine sehr lange Zeit den Boden unter den Füßen weggerissen. Das Leben ohne ihre Tante war nicht mehr dasselbe gewesen.

„Aber warum nicht? Hast du mich nicht mehr lieb?“ Leah erinnerte sich, dass sie herzzerreißend geweint hatte und die Tante gar nicht mehr hatte loslassen wollen. Sie hatte sie vermisst, bevor sie überhaupt losgefahren war.

Wanda hatte die Umarmung schließlich gelöst und Leah traurig angeschaut. „Das darfst du niemals denken, hörst du, Leah. Du bist wie die Tochter für mich, die ich nie hatte.“

Leah konnte sogar jetzt noch spüren, wie Wanda ihr damals liebevoll durchs Haar gestrichen hatte. Ein ebenso beschützende wie wehmütige Geste.

„Ich habe dich sehr lieb, Leah. Ich muss die Gemeinde verlassen. Vielleicht fragst du deinen Bruder. Der weiß, was passiert ist. Er wird es dir erklären, wenn du alt genug bist, das Vorgefallene zu verstehen.“

Mit tränennassem Gesicht hatte Wanda Leahs Zimmer verlassen. Leah konnte die Kutsche wegfahren hören, die die Tante zum Bahnhof bringen würde. Damals hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und stundenlang bitterlich über den Verlust geweint. Tante Wanda war die einzige in der Familie gewesen, die ihr Geborgenheit gegeben hatte. Die Tante hatte sie geliebt, und Leah hatte Wanda geliebt. Der Verlust dieses über alles geliebten Menschen hatte eine tiefe Wunde in Leah hinterlassen, die nie komplett verheilt war. Von dem Moment an hatte Leah sich allein gefühlt, obwohl immer Menschen um sie herum gewesen waren. Es war jedoch niemand dabei gewesen, der sie liebevoll in den Arm genommen, geschweige denn ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hätte. Niemand in ihrem Elternhaus hatte sie so geliebt wie Wanda. Fortan hatte Leah keine einzige Person mehr an sich herangelassen und einen Schutzwall um ihr Herz errichtet, der bislang nicht zum Einsturz gebracht worden war.

Leah lag zusammengerollt auf ihrem Bett. Die äußerst lebendige Erinnerung hatte sie zu Tränen gerührt. Sie würde also ihre Tante nie mehr wiedersehen. Was der Grund für diese überstürzte Abreise vor vielen Jahren gewesen war, hatte sie bislang noch nicht in Erfahrung bringen können. Ihr Bruder hatte sie angefahren und ihr zu verstehen gegeben, dass sie das alles nichts anginge, als sie zaghaft versucht hatte, die genaueren Umstände von Tante Wandas Weggang zu erfahren.

Als sie das letzte Mal nachgefragt hatte, hatte Sam sie dermaßen angeschrien und ihr gedroht, sie des Hauses zu verweisen, dass es wahrscheinlich Jahrzehnte dauern würde, bis sie sich erneut nachzufragen traute.

Ob sie nun endlich herausfinden würde, was damals vorgefallen war? Würde die Notarin darüber Bescheid wissen, wenn sie sie traf, um ihr Erbe anzutreten? Leah erschrak. Das Erbe anzutreten bedeutete, nach Europa zu fliegen. Das würde Sam ihr nie und nimmer erlauben. Aber wenn Tanta Wanda ihr eine große Summe Geld vererbt hatte, würde der Bruder diese als seinen Besitz erachten und Leah vielleicht gehen lassen.

Das Familienoberhaupt der Amischen regelte alle Angelegenheiten der Familie, auch die finanziellen. Leah besaß kein eigenes Geld. Wenn sie etwas benötigte, musste sie ihren Bruder darum bitten. Nein, sie musste ihn regelrecht anbetteln, ihr etwas Geld zu geben, weil er wie eine Hyäne über sein Geld wachte. Und wenn sie nur neue Unterwäsche brauchte, rutschte sie fast auf den Knien vor ihm herum. Die Habgier des Bruders würde es ihr ermöglichen, nach Deutschland zu reisen. Leah sah in die Ferne. Einmal herauskommen aus dieser Tretmühle. Das wäre schön, obwohl der Anlass ein trauriger war. Ein sehr trauriger. Leahs Herz klopfte bis zum Hals. Sie würde nach Europa fliegen. Eine vorsichtige Vorfreude machte sich in ihr breit.

Als Leahs Trauer etwas nachließ und die Tränen versiegt und getrocknet waren, wurde ihr bewusst, dass nun ein nahezu unmöglich zu lösendes Problem auf sie zukam. Wenn sie mit der Notarin Kontakt aufnehmen wollte, musste sie wohl oder übel ihren Bruder einweihen. Das einzige Telefon, das zur Verfügung stand, hing im Geschäft. In ihrem privaten Bereich verzichteten die Amischen auf derlei Dinge wie Elektrizität oder anderen Luxus. Ihre Art zu leben hatte sich kaum verändert, seit die ersten Amischen sich in Indiana niedergelassen hatten.

Leah würde das Telefon im Laden nicht benutzen können, ohne dass es auffiel. Ihr Bruder kontrollierte jedes Gespräch und ließ sich akribisch jeden einzelnen Posten auf der Telefonrechnung erklären. Ohne sein Wissen würde sie niemals nach Deutschland telefonieren können. Außerdem würde Leah ja nach Deutschland reisen müssen, um das Erbe entgegen zu nehmen. Wenn Sam es ihr erlauben sollte, konnte sie sich nur auf eine größere Summe Geldes als ihr einziges Argument berufen.

Am nächsten Abend erledigten Leah und ihre Schwägerin den Abwasch gemeinsam, was selten genug vorkam. Leah durchschaute die Absicht dahinter. Lilian wollte wissen, was in dem Brief stand, denn sonst hielt sie sich bei der Arbeit dezent zurück. Sam war unterwegs zur monatlich stattfindenden Gemeindeversammlung, so dass sie beide nichts zu befürchten hatten, wenn sie offen über den Brief redeten. Lilian trocknete den letzten Teller ab und stupste Leah in die Seite.

„Was war denn des für a geheimnisvoller Brief geschtern?“, wollte sie wissen.

Leah hatte die Frage bereits erwartet, weil sie die unermessliche Neugier der Schwägerin kannte. Aber Leah war darauf vorbereitet.

„Darüber möchte ich nichts sagen.“ Sie musste sich zuerst selbst darüber klar werden, was genau sie wollte, bevor sie Lilian und Sam von dem Brief und dessen Inhalt erzählte. Im Laufe des Tages war Leah klar geworden, dass sie ihren Bruder über die Existenz des Briefes in Kenntnis setzen musste. Ihn nicht einzubeziehen würde bedeuten, Heimlichkeiten zu haben. Heimlichkeiten gab es unter den Amischen einfach nicht. Ohne das Einverständnis des Bruders würde sie weder das Telefon im Laden benutzen noch die unvermeidliche Reise nach Europa antreten können. Und den Zorn des Bruders wollte sie sich auf keinen Fall einhandeln. Das Leben in Sams Haus war auch so schon schwer genug. Sie konnte sich ausrechnen, dass es mit ihrer inneren Ruhe vorbei wäre, wenn sie nicht von ihrem Erbe erzählte und stattdessen auf eigene Faust versuchte, eine Reise zu organisieren. Das konnte sie vergessen. Ohne ihren Bruder zu informieren würde sie sich nicht einen Millimeter vom Haus des Bruders wegbewegen können.

Sollte Leah tatsächlich nach Europa fliegen dürfen, würde das eine Menge Aufsehen erregen in der kleinen Gemeinde, in der sie lebte. Um die Schwägerin und deren Neugier etwas zu besänftigen, bot sie an, sie als erste über den Inhalt des Briefes und ihre Pläne zu informieren, sobald sie selber hundertprozentig sicher war, wie sie vorgehen wollte. Einstweilen gab Lilian sich zufrieden und flüsterte ihr zu, dass sie sie nicht verraten würde. Immerhin etwas.

Eine gesichtslose Frau kommt unvermittelt auf sie zu. Eng anliegende Jeans und ein offenherziges Dekolleté erregen Leahs Aufmerksamkeit. Die Fremde steht dicht vor ihr. Leah kann ihren Atem auf ihrer Haut spüren. Die andere verbreitet einen leicht ledrigen Geruch, als trage sie einen Ledermantel oder etwas Ähnliches. Leah liebt diesen Duft. Aug in Aug steht sie der Frau gegenüber, die immer näher kommt, Leahs Hüften anfasst und sie zu sich zieht. Leah schließt die Augen. Sie spürt die fremden Lippen auf ihren, öffnet ihren Mund, lässt die andere Zunge ein. Leah spürt ihr Herz hart gegen ihren Brustkorb hämmern. Zaghaft kommt sie der Zunge entgegen, spielt mit ihr, neckt sie. Die andere zieht sich zurück, lockt Leah in ihren eigenen Mund. Die Zungen tanzen zuerst vorsichtig miteinander, bevor sie wilder werden. Leahs Herzschlag scheint zu explodieren. Ihr gefällt das ungestüme Spiel ihrer Zungen. Leah spürt warme Hände an ihrem Rücken. Trotz des Korsetts brennen die Finger der Fremden auf ihrer Haut. Der Reißverschluss ihres Kleides wird geöffnet, doch bevor die Fremde ihre Finger tatsächlich auf ihre brennende Haut legen kann, kreischt draußen ein Käuzchen.

Leah erwachte schweißgebadet. Sie setzte sich auf und reichte mit ihrer Hand hinunter zu ihrer Scham. Ihr Höschen war vollkommen durchnässt. Das war ihr zuletzt in ihrer Teenagerzeit passiert, als sie das letzte Mal denselben erregenden und geheimnisvollen Traum geträumt hatte. Warum schlich er sich so unvermittelt wieder in ihren Schlaf?

Leah stand auf und wusch sich an dem Waschbecken ihres Zimmers die Hände. Weil sie ohnehin nicht hätte schlafen können, machte sie einen Spaziergang. Leise öffnete sie die Tür, die ein wenig knarzte. Doch niemanden würde das stören. Ihre Familie wusste, dass sie hin und wieder nächtliche Spaziergänge unternahm. Die frische, aber klare Luft tat gut, und in der Dunkelheit konnte niemand sie erkennen, falls der unwahrscheinliche Fall eintrat, jemandem zu begegnen.

Grenzenloses Glück

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