Читать книгу Grenzenloses Glück - Emma zur Nieden - Страница 7
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Leah sitzt an einem einsamen See und blickt über die unendliche Weite der Felder. Niemand stört die Idylle. Nur die Vögel zwitschern und der Reiher krächzt, als er sich majestätisch über ihr erhebt. Das laute Klopfen eines Spechts durchbricht die Idylle. Leah kann sich nicht erinnern, jemals einen Specht im Umkreis des Sees bemerkt zu haben. Sein rhythmisches Klopfen wird unablässig lauter.
„Frau Stoltzfus? Geht es Ihnen gut? Ich wollte mal nach Ihnen Sehen. Einen Kaffee habe ich auch mitgebracht.“
Leah blinzelte mit den Augen und erinnerte sich an diese sanfte Stimme. Das war Frau Dittmer, die an ihre Zimmertür klopfte und kein Specht. Sie musste innerlich lächeln. Das Klopfen hatte so gut in ihren Traum gepasst, auch wenn der Specht mit seinem Getöse nicht in diese idyllische Stille gehörte.
Leah streckte sich und rief „Herein!“ Die Tür wurde geöffnet und Kaffeeduft flutete den Raum. Leah öffnete die Augen. Sie sah sich um. Natürlich war sie in einem fremden Zimmer. Ihre Erinnerung an die Kopfschmerzen nach ihrem Flug nach Hamburg kamen zurück. Frau Dittmer hatte sofort dafür gesorgt, dass Leah sich hinlegen konnte. Leah horchte in sich hinein. Zumindest im Liegen war von Kopfschmerzen nichts zu spüren, und sie fühlte sich wesentlich besser als gestern.
„Guten Morgen, Frau Stoltzfus. Ich hoffe, Ihre Kopfschmerzen sind weg“, hörte sie Frau Dittmer leise sprechen. Sie war so rücksichtsvoll. Eine tiefe Dankbarkeit durchströmte Leah. Ein schönes Gefühl.
Leah sah in Richtung der Stimme. „Guten Morgen, Frau Dittmer. Ja, meine Kopfschmerzen sind zumindest im Liegen nicht mehr da.“ Sie setzte sich vorsichtig auf. „Scheinbar auch nicht beim Aufrichten. Ich muss noch vorsichtig sein. Manchmal kommen sie zurück.“ Leah fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte sich offensichtlich noch rechtzeitig hingelegt. Sie könnte schon wieder Bäume ausreißen. Fast.
„Ich hoffe, Sie mögen Kaffee?“ Leah nickte. Frau Dittmer war nah ans Bett herangetreten und hatte das Tablett auf dem Nachttisch abgestellt. „Ich wusste nicht, wie Sie Ihren Kaffee trinken, deshalb habe ich Milch und Zucker dazu gestellt.“
Leah rutschte an die Wand, beugte sich vor und nahm die Tasse in die Hand. So konnte sie Frau Dittmer in die Augen sehen und gleichzeitig ihren Kaffee trinken.
„Ich nehme meinen Kaffee schwarz, vielen Dank. Das bringt meine Lebensgeister auf Trab.“ Leah trank einen Schluck. Heiß und lecker. Sehr aromatisch. Mit geschlossenen Augen ließ sie die wohltuende Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrinnen.
„Der Kaffee ist wirklich lecker.“ Leah sah zu der Notarin auf. Ein Lächeln im Gesicht ihres Gegenübers ließ sie selbst lächeln, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Es war befremdlich, in einer ihr unbekannten Umgebung aufzuwachen. Ihr wurde bewusst, dass sie unendlich weit von zu Hause entfernt war. Am liebsten hätte sie sich Frau Dittmer in die Arme geworfen und eine Runde geheult. Noch nie in ihrem Leben war sie so weit von zu Hause weg gewesen. Sie hatte Heimweh. Allerdings musste sie zugeben, dass ihr die viele Arbeit im Haus ihres Bruders überhaupt nicht fehlte. Das einzige, nach dem sie sich wirklich sehnte, war die idyllische Landschaft. Die Ruhe dort und die Einsamkeit. Gestern auf dem Hamburger Flughafen war ihr fast der Schädel geplatzt. Lärm, die unterschiedlichsten Gerüche, Hektik. All das hatte die Kopfschmerzen verschlimmert. Daran würde sie sich nicht gewöhnen können.
„Darf ich?“ Die ihr immer noch fremde Frau zeigte mit der Hand auf die Bettkante. Offensichtlich wollte Frau Dittmer sich mit ihr nicht von oben herab unterhalten. In ihrer Umgebung gab es niemanden, der darauf achtete, mit ihr auf gleicher Höhe zu reden. Nicht, dass das einfach war, denn sie war groß gewachsen und überragte selbst ihren Bruder. Dennoch hatte sie manchmal das Gefühl, sogar kleinere Männer wären ihr haushoch überlegen, weil sie bei den Amischen diejenigen waren, zu denen man aufsah. Eine Frau hatte ihnen gegenüber unterwürfig zu sein. Frau Dittmer war die erste Person in ihrem Erwachsenenleben, in deren Gegenwart sie sich gleichwertig fühlte. Sie hatte Rücksicht genommen, als Leah ihr von ihren starken Kopfschmerzen erzählt hatte. Statt sie gleich mit dem Thema Erbe zu überfallen, hatte sie für Leahs Wohlergehen gesorgt. Das hatte bisher niemand getan, nicht einmal Lilian, die meist die Feinfühligste in der Familie war. Leah seufzte und nickte.
„Das muss alles sehr fremd für Sie sein, Frau Stoltzfus.“ Frau Dittmer setzte sich auf die Bettkante und legte Leah eine Hand auf den Arm. Die Geste fühlte sich warm und beruhigend an. Leah nickte noch einmal und sah dankbar in Frau Dittmers Richtung.
„Könnten Sie mich Leah nennen und du sagen, bitte? Alle Leute zu Hause nennen mich so. Die ganze Gemeinde duzt sich untereinander“, erklärte Leah.
„Aber nur, wenn du mich Finn nennst.“
Leah lächelte. Finn machte einen sehr netten Eindruck, aber der Name kam ihr merkwürdig vor. Hatte sie auf dem Brief nicht den Vornamen Josefine gelesen?
„Ist das nicht ein Name für einen Mann?“, sprach sie ihren Zweifel laut aus.
„Wenn man nicht weiß, dass ich eigentlich Josefine heiße und diesen Name ganz furchtbar finde. Deshalb entstand in der Schule der Spitzname Finn, den ich einfach in mein Erwachsenenleben übernommen habe.“
Leah nickte. „Ich finde Josefine nicht so schlecht, kann aber verstehen, dass du dir Finn besser gefällt. Ich habe lange damit gehadert, dass Leah im Hebräischen ´Wildkuh´ heißt. Das finde ich wenig schmeichelhaft. Zum Glück spricht niemand bei uns in der Gemeinde Hebräisch.“
„Woher weißt du, was dein Name bedeutet?“ Finn hielt noch immer den Blickkontakt. Sie war aufmerksam und interessiert.
„Von Tante Wanda. Sie hatte es irgendwo gelesen.“
Leah sah in Finns wunderschöne braune Augen und verlor sich fast in ihnen. Einen Moment lang sank ihr Blick auf die Kaffeetasse in ihrer Hand, um ein wenig Abstand von der Intensität dieses leuchtenden Brauns zu gewinnen.
Finn nickte. „Mir gefällt übrigens der Klang deines Vornamens. Was er bedeutet, ist doch zweitrangig, oder?“
„Das habe ich auch irgendwann gedacht.“ Leah lächelte und freute sich, dass Finn zurücklächelte. Ihr wurde warm ums Herz. Und sie hoffte, dass sie bei Finn etwas darüber in Erfahrung bringen konnte, warum Wanda damals Hals über Kopf die Gemeinde verlassen hatte. Aber zuerst wollte sie etwas anderes wissen. „Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?“
„Über vierzehn Stunden. Du musst sehr müde und vollkommen erschlagen gewesen sein.“
„Zum Umfallen müde. Den Migräneanfall hatte ich aber sicher auch, weil ich auf dem Flug zu wenig getrunken habe.“
„So einen Anfall hast du also nicht öfter?“, wollte Finn wissen.
„Nur ab und zu. Vor allem, wenn ich zu viel gearbeitet habe und zu trinken vergesse. Mein Tag daheim ist ziemlich vollgepackt.“ Leah nahm einen Schluck aus der Tasse. „Das ist der beste Kaffee, den ich je getrunken habe. Bei uns gibt es nur die Billigvariante, weil mein Bruder zu geizig ist, mehr Geld für Kaffee auszugeben.“
„Ich habe mir schon gedacht, dass du bei deinem Bruder lebst. Am Telefon klang er sehr bestimmend.“
„Da sagst du was. Es ist bei uns Amischen üblich., dass eine unverheiratete Frau im Haus des Vaters, des Onkels oder des Bruders lebt. Auf jeden Fall bei einem männlichen Verwandten und seiner Familie.“
„Das hat Wanda mir erzählt.“
„Du kanntest Tante Wanda näher?“, fragte Leah neugierig.
„Sie war eine Freundin.“ Es war Finn anzusehen, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Eine sehr gute Freundin, trotz des Altersunterschiedes.“
Nun legte Leah ihrerseits eine Hand auf Finns Arm und flüsterte „Es tut mir leid.“ Ein Lächeln, das gequält aussah, breitete sich auf Finns Gesicht aus.
„Schon gut. Immerhin hast du deine Tante verloren.“
„Tante Wanda hat uns vor dreißig Jahren verlassen, und bis heute weiß ich nicht warum. Ihr Weggang hat mir das Herz gebrochen.“ Tränen rannen Leah über die Wangen. „Weißt du etwas darüber?“
„Ja. Ich würde es dir gerne erzählen.“ Finn strich Leah sanft über die Wange. „Aber ich schlage vor, dass du dich erst einmal frisch machst. Ich bereite uns ein leckeres Frühstück zu und erzähle dir Wandas Geschichte, während wir uns stärken.“ Finn erhob sich und zeigte auf eine Tür an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Leah hatte sie noch gar nicht bemerkt. „Du hast übrigens ein eigenes Bad.“
„Danke. Das ist ein großer Luxus.“ Leah war überwältigt. Zu Hause teilte sie sich ein Badezimmer mit vier Personen. Da musste man sich täglich arrangieren. Leah fiel noch etwas ein. „Musst du nicht arbeiten?“
Finn lachte herzerfrischend. „Genau genommen bist du meine Arbeit – zumindest ein Teil davon. Ich habe mir für den Rest der Woche frei genommen, damit ich dir alles zeigen und am Ende die Erbschaftsangelegenheit mit dir regeln kann.“
Leah nickte. Finn machte einen zuverlässigen Eindruck auf sie – und einen ausgesprochen aufgeschlossenen und gut gelaunten. Schließlich stand sie auf und ging ins Bad. Ihr eigenes Bad. Finn hatte Handtücher bereit gelegt. Leah nahm eines in die Hand und roch daran. Ein frischer Zitrusduft kitzelte in ihrer Nase.
In Sams Haus wurde nur gebadet. Eine Dusche war eine Annehmlichkeit, die Leah sehr zu schätzen wusste. Da die Amischen Strom in ihrem privaten Bereich ablehnten, wurde die Badewanne für das wöchentliche Bad nicht einfach aus dem Hahn mit heißem Wasser gefüllt. Das Wasser wurde im Winter mühsam auf dem Herd mit Gas erhitzt. Das war sehr kompliziert und langwierig. Bis die ganze Familie gebadet war, konnte schonmal ein Tag vergehen. Im Sommer war das Wasser kalt. Brrrr. Schon der Gedanke daran schüttelte Leah. Ihre Vorfreude auf eine ausgiebige Dusche mit herrlich heißem Wasser war schier unermesslich, als sie die Duschtür öffnete und hineinschlüpfte.
Leah war viel länger im Bad gewesen als wahrscheinlich üblich und auch notwendig. Aber das Wasser mit der angenehmen Temperatur über ihren Körper rinnen zu lassen und seine tröstende Hitze in sich aufzunehmen waren zu verlockend gewesen. Jetzt fühlte sie sich wunderbar erfrischt. Es prickelte immer noch angenehm auf ihrer Haut. Und die Kopfschmerzen hatten sich endgültig verflüchtigt. Leah betrat ihr Zimmer und fand ein gemachtes Bett vor. Es war Jahrzehnte her, dass jemand für sie das Bett aufgeschüttelt und sorgfältig hergerichtet hatte. Finn musste sich hereingeschlichen haben, um Leah damit etwas Gutes zu tun. Sie lächelte versonnen, als beobachtete sie eine imaginäre Finn beim Bettenmachen.
Als Tante Wanda noch im Haus wohnte, hatte sie stets dafür gesorgt, dass Leahs Zimmer ordentlich und einladend aussah. Und so manches Mal hatte sie Leah dabei geholfen, die Unordnung zu beseitigen. Für ihre Eltern hatte ein gemachtes Bett unbedingt zu einer folgsamen und wohlerzogenen Tochter dazu gehört. Wanda hatte Leah den Trick beigebracht, wie man das Oberbett dazu bekam, nicht aus der Form zu geraten.
Leah unterbrach für den Bruchteil einer Sekunde das Ankleiden und lächelte ob dieses Erinnerungsdetails. Aus der Küche kamen Geräusche, als würde der Frühstückstisch gedeckt. Rasch band sie die Schnürsenkel ihrer flachen Schuhe zu. Im Spiegel betrachtete sie das dunkelblaue Kleid mit dezenten hellblauen Punkten, das so gut zu ihr passte und perfekt saß. Als Leah den Stoff für das Kleid gekauft hatte, war dieses Muster geradezu eine Revolution in der Mode der Amischen gewesen. Nachdem sie außerdem ihre weiße Haube in die richtige Form gebracht hatte, begab sie sich in die Küche, wo Finn soeben Rühreier briet. Es duftete himmlisch. Der Tisch war ansprechend gedeckt. Es fühlte sich gut an, offensichtlich so willkommen zu sein … und so selbstverständlich bedient zu werden. Bis dato etwas gänzlich Unbekanntes für Leah.
„Setz dich doch“, forderte die Notarin sie auf, während sie Leah und sich eine weitere Tasse Kaffee eingoss und auf den Tisch stellte. Leah kam der Aufforderung nach und setzte sich. Sie folgte jeder Bewegung ihrer Gastgeberin, die sie nur von hinten sehen konnte. Finn trug im Gegensatz zu gestern, als sie Leah in einem modern geschnittenen dunkelblauen Hosenanzug vom Flughafen abgeholt hatte, eine eng anliegende Jeanshose. Leah fragte sich, seit wann sie darauf achtete, dass bei Frauen die Hosen eng saßen und schlug sich den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf. Es schickte sich einfach nicht für eine Frau, die Rundungen des Pos einer anderen Frau zu begutachten. Leah errötete und war froh, dass Finn ihr den Rücken zudrehte und nichts von ihrer Bombe mitbekam. Doch statt sich nun zum Beispiel der Einrichtung der Küche zu widmen, glitt ihr Blick etwas höher. Obwohl dieser Blick Leah etwas unverfänglicher schien, weil Finn ein weites T-Shirt trug, das keine Rückschlüsse auf die Beschaffenheit ihres Rückens zuließ, fand sie es immer noch unschicklich, Finn auf diese Weise zu betrachten.
„Magst du Rührei mit Speck?“, fragte Finn mit der Pfanne in der Hand. Offensichtlich hatte sie sich inzwischen umgedreht, und Leah hatte nichts davon mitbekommen. Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, nickte aber geistesabwesend. Finn tat ihr das Rührei auf. Den Rest verteilte sie auf ihrem eigenen Teller. Leah rief sich zur Ordnung und konzentrierte sich auf das Frühstück mit ihrer Gastgeberin.
„Greif zu!“ Finn setzte sich Leah gegenüber. Zwischen ihnen stand ein prall gefüllter Korb mit herrlich duftenden Brötchen. Das ließ Leah sich nicht zweimal sagen. Sie hatte einen Bärenhunger, nahm ein verlockend aussehendes Körnerbrötchen aus dem Korb und legte es auf ihren Teller.
Sie biss in das Brötchen, das sie mit Käse belegt hatte, und nahm eine Gabel dieses köstlich duftenden Rühreis zu sich. Sie schloss die Augen. Eine wahre Geschmacksexplosion entfaltete sich in ihrem Mund. Sie hatte kaum je ein besseres Rührei gegessen. Oder lag es daran, dass sie nicht selbst für das Frühstück verantwortlich gewesen war, dass sie bedient wurde? Sie genoss jeden einzelnen Bissen der Speisen auf ihrem Teller.
„Das ist das beste Frühstück seit Jahren“, lobte Leah. Ihr fiel auf, dass sie heute Morgen schon einmal einen Superlativ benutzt hatte. Sie empfand es genauso, wie sie es gesagt hatte. Es fühlte sich gut an, umsorgt zu werden. Außerdem hatte Leah das Gefühl, dass es Finn Spaß machte, das Frühstück mit ihr zusammen einzunehmen.
„Du frühstückst sonst allein?“, bevor Leah diese für ihr Empfinden viel zu persönliche Frage zurückhalten konnte, war sie ihr schon entschlüpft. Vor Schreck über diese ihr absolut unbekannte Neugier einer Fremden gegenüber hielt sich Leah die Hand vor den Mund.
„Ist schon in Ordnung, dass du wissen willst, ob es da jemanden gibt, den ich näher an mich heranlasse.“ Finn lächelte und sah ihr tief in die Augen. Leah drohte erneut, in dem funkelnden Braun zu versinken.
„Es gibt da niemanden, um deine Frage zu beantworten.“
Leah wunderte sich über Finns umständliche Ausdrucksweise. Sie hätte doch einfach sagen können, dass sie keinen Mann, Freund oder Lebensgefährten hatte. Finn fragte nach dem Flug, und Leah plauderte unverbindlich über alles Erlebte. So redselig kannte sie sich gar nicht, doch sie wusste, dass sie mit ihrem unaufhaltsamen Gebrabbel die Peinlichkeit der Frage von vorhin auszumerzen hoffte.
Irgendwann fragte Leah betont beiläufig: „Weißt du etwas darüber, warum mein Vater Tante Wanda aus dem Haus geworfen hat?“
„Dein Vater hat etwas über sie herausgefunden, das ihm nicht gefallen hat. Ihr blieb keine andere Möglichkeit, als das Feld zu räumen“, antwortete Finn prompt und ohne Umschweife. Sie schien diese Frage erwartet zu haben.
„Aber warum? Diesen Fragen weicht mein Bruder beharrlich aus.“ Leahs Stimme klang verzweifelt. Dass ihr Vater dabei seine Finger im Spiel gehabt hatte, war ihr nicht neu gewesen. Nun ging es darum, etwas über die näheren Umstände zu erfahren, die Tante Wanda dazu veranlasst hatten, so Hals über Kopf nach Deutschland zu gehen.
„Ich kann mir gut vorstellen, dass niemand mit dir darüber geredet hat, was vorgefallen ist. Niemand wollte es laut aussprechen, geschweige denn darüber diskutieren. Dass deine Tante sich in eine Frau verliebt hat, war ja auch ein Tabu bei den Amischen.“
„Was?“, schrie Leah entsetzt auf, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen hatte, um den Inhalt des Satzes zu erfassen. Messer und Gabel knallten auf den Teller. Wütend stand sie auf, so dass der Stuhl umfiel. Sie verstand selbst nicht, warum sie so einen Aufstand machte. Hatte sie nicht tief in ihrem Innern so etwas geahnt? Leah hatte Tante Wanda öfter mit einer Frau gesehen, diese aber einfach als eine harmlose Freundin ihrer Tante betrachtet. Erst heute schien ihre Beobachtung einen anderen Sinn zu bekommen.
Finn erhob sich ebenfalls und stellte sich ihr gegenüber. Leahs Blick ließ sich von Finns durchdringenden Augen einfangen. Leise erklärte Finn: „Wanda wusste schon lange, dass sie Frauen liebte, durfte sich ihrer Familie gegenüber jedoch nicht offenbaren. Die amische Gemeinde wie auch deine Familie akzeptierten die gleichgeschlechtliche Liebe nicht. Im Gegenteil. Sie verachteten Wanda für ihre Neigung. Für deinen Vater war es eine Sünde, wenn eine Frau sich zu einer Frau hingezogen fühlte. Eine Sünde, die seine Schwester zu einer verachtenswerten Frau machte. Für Wanda hatte bis dahin keine Notwendigkeit bestanden, sich zu outen, weil es keine Frau gab, in die sie verliebt war.“ Finn wartete einen Moment, bevor sie fortfuhr.
Leah hatte sich mittlerweile beruhigt und hörte aufmerksam zu. Hier war endlich jemand, der das Jahrzehnte lang gehütete Geheimnis entschlüsselte. Tante Wanda hatte also ein Tabu gebrochen. Warum auch sonst hätte ihr Vater Wanda aus dem Hause jagen sollen?
„Als Wanda ihre Mittagspause in einem der Cafés in Shipshewana verbrachte, traf sie die Frau wieder, die ihr bereits bei der Führung durch ein typisch amisches Wohnhaus aufgefallen war. Du weißt, dass deine Tante dort so eine Art Museumsführerin war?“
Leah nickte stumm. Sie hatte ihre Tante ein paar Mal begleitet und wusste, wie lebendig sie den Touristen von dem Leben in der amischen Gemeinschaft erzählte, dass sogar Leah fasziniert war von ihrer eigenen Lebensweise.
„Jedenfalls fragte die Frau, ob sie sich zu Wanda an den Tisch setzen dürfte. Die beiden unterhielten sich blendend, bis Wandas Pause beendet war. Sie verabredeten sich nach ihrem Dienst. Wanda verliebte sich Hals über Kopf in die andere. Sie hieß übrigens Julia. Jede freie Minute verbrachten sie miteinander bis zu Julias Abreise. Julia hatte sich ebenso heftig in Wanda verliebt und fragte sie, ob sie mit ihr nach Deutschland kommen würde. Wanda war klar, dass sie ihre Liebe niemals bei den Amischen würde leben können und willigte ein. Dazu kam, dass dein Vater längst herausgefunden hatte, mit wem seine Schwester die Abende und manches Mal die Nächte verbrachte. An dem Abend, an dem Julia sie gefragt hatte, ob sie mitkommen wollte, ließ dein Vater die Bombe platzen und verwies Wanda des Hauses. Es war ein großer Schritt für deine Tante, ihre Heimat zu verlassen und in die Fremde zu gehen. Doch wenn sie mit Julia glücklich sein wollte, musste sie ihr folgen. Sie empfand es als Fügung, dass Julia sie mit nach Deutschland nehmen wollte.“
„Aber hat sie denn nicht daran gedacht, dass sie den Menschen, die sie bedingungslos liebten, einen Stich ins Herz versetzte?“ Leah war den Tränen nah. „Hat sie nicht an mich gedacht? Wenn Tante Wanda und ich etwas unternahmen, war ich frei, wenn ich nur mit ihr zusammen war. Heute bin ich die Sklavin meines Bruders.“ Ihre Stimme klang bitter. Bisher hatte sie sich stets nach den Wünschen des Bruders gerichtet. Doch in dieser Sekunde fiel ihr auf, wie eingeschränkt ihr Leben in seinem Haus war, wie wenig sie nach ihren eigenen Wünschen leben konnte. Sie beneidete und bewunderte Wanda zugleich für ihren Mut, Shipshewana zu verlassen. Neid hatte nie zu Leahs Eigenschaften gehört. Warum zeigte er sich ausgerechnet jetzt?
„In deiner Familie hatte niemand Verständnis für sie. Dein Vater hat sie aus dem Haus gejagt, Es hat ihn nicht interessiert, dass sie ihr Glück gefunden hatte. Für ihn zählte allein die Schande, die Wanda über die Familie gebracht hatte. Entgegen aller Regeln der Amischen hatte Wanda gehofft, er würde sie verstehen und ihr seinen Segen geben. Doch er tobte, schlug und beleidigte seine Schwester. Dein Vater hat sie regelrecht aus dem Haus geprügelt. Die einzige, um die es ihr wirklich leidtat, warst du. Sie hat jeden Tag geweint, weil sie wusste, dass sie dich nie wieder sehen würde und dir beim Kampf gegen deinen Bruder nicht beistehen konnte. Ihre Schuldgefühle dir gegenüber waren ihr lebenslanger Begleiter.“
„Warum hat sie es dann getan? Das Leben ohne Tante Wanda war die Hölle für mich. Durch sie hatte ich Freiheiten, die mir zuerst mein Vater und später mein Bruder entrissen, als sie weg war. Ich trauerte jeden Tag um sie.“ Leah schluchzte auf. „Und jetzt ist sie tot. Jetzt habe ich wirklich einen Grund zu trauern.“
Leah, die noch immer Finn gegenüber stand, spürte Finns starke Arme sich sanft um sie schließen. Leah spürte, dass Finn ihr Schutz und Halt bot. Sie wehrte sich nicht und war froh, dass sie jemand auffing in diesem Augenblick des entsetzlichen Verlustes und dieser unendlichen Einsamkeit. Sie ließ sich in die Umarmung fallen. Seit vielen Jahren hatte sie niemand mehr in seinen Armen gehalten. Finns Wärme tat ihr gut, und sie merkte, wie ihr heftiger Herzschlag in Finns Armen auf eine normale Frequenz sank. Und sie wurde ruhig. Leah spürte die Wärme von Finns Händen, als diese ihr sanft über den Rücken strichen. Das war ein schönes Gefühl, trotz all der Trauer, die sie viele, viele Jahre begleitet hatte und nicht erst durch den Tod der Tante ausgelöst worden war.
Leah wurde augenblicklich kalt, als Finn ihre Arme vorsichtig löste und sie eine Schritt zurücktrat. Leah wünschte sich Finns Nähe zurück.
„Lass uns ins Wohnzimmer gehen!“, schlug Finn vor. „Dort erzähle ich dir den Rest.“ Finn stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Wohnzimmertisch und zauberte eine Packung Papiertaschentücher von irgendwoher. Leah lächelte und setzte sich neben Finn auf die Couch.
„Julia war eine sehr reiche Frau. Sie war die letzte ihrer Familie. Es gab also keine anderen Erben als deine Tante. Selbst wenn es Verwandte gegeben hätte, hätte sie Wanda einen Großteil ihrer Besitztümer vererbt. Wanda und sie lebten weit über fünfundzwanzig Jahre in Julias Haus zusammen als Paar. Wanda war sehr glücklich mit Julia und Julia mit ihr. Aber Julia war wesentlich älter als Wanda. Als sie vor zwei Jahren starb, brach für Wanda eine Welt zusammen. Es war, als rutschte der Boden unter ihren Füßen weg. Ohne ihre Julia war sie nur noch ein halber Mensch. Wanda hat Julias Tod nie verkraftet. Sie selbst war ja noch gar nicht so alt. Aber ohne Julia empfand sie das Leben als nicht mehr lebenswert. Sie starb vor drei Monaten in meinen Armen an tiefer Trauer und gebrochenem Herzen.“
Erneut rannen Leah die Tränen aus den Augen. Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände und schüttelte sich. Sofort spürte Leah Finns Hände sie erneut in ihre Arme zu schließen und sie festhalten.
Langsam beruhigte sich Leah. „Wie kam es dazu, dass du in Wandas letzten Stunden bei ihr warst?“ Sie nahm eines der Taschentücher und putzte sich die Nase, wodurch sie sich von Finn lösen musste.
„Sie hatte mich darum gebeten. Sie wollte nicht allein sein in der Stunde ihres Todes.“
„Sie wusste, dass sie stirbt?“, fragte Leah erschrocken.
„Ja.“ Finn sprach sehr leise. Leah konnte sehen und spüren, dass auch Finn bewegt von Wandas Tod war. Leah berührte Finn am Arm. Finn erwiderte die mitfühlende Geste mit einem leichten Nicken und einem kurzen Blinzeln.
„Warum hast du mir nicht früher Bescheid gegeben? Ich hätte mich noch von ihr verabschieden können, dir dabei helfen können, sie zu begleiten, hätte an ihrer Seite sein können, als sie starb.“ Leah konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. Ihr Vater hatte Wanda des Hauses verwiesen, und am Ende starb sie einsam und verlassen. Nein, das stimmte nicht. Finn, eine gute Freundin, begleitete sie in ihrer letzten Stunde. Diesen Gedanken fand Leah trotz allen Schmerzes sehr tröstlich.
„Wanda wollte nicht, dass du sie so siehst.“ Finn holte tief Luft. „Leah, sie hat dich sehr geliebt. Es gab kaum einen Tag, an dem sie nicht von dir gesprochen hat.“
Wie lange ihr gemeinsames Schweigen anhielt, hätte Leah nicht zu sagen gewusst. Bis dahin hatte Finns Nähe Leah gutgetan, aber nun musste sie das Gehörte erst einmal verarbeiten. Sie musste allein sein und sagte: „Ich muss mich ein wenig ausruhen.“
„Das kann ich gut verstehen. Du hast alle Zeit der Welt.“ Finn lächelte Leah an. „Ich habe dir vorhin eine Flasche Wasser und ein Glas ins Zimmer gestellt.“
Dankbarkeit lag in Leahs Blick, als ihre Lippen ein stummes „Danke!“ formten. Sie hoffte, dass Finn wusste, dass sie ihr nicht nur für das Wasser dankte. Ihr Dank bezog sich vor allem darauf, dass sie Tante Wanda in der Stunde ihres Todes nicht allein gelassen hatte. Sie bewunderte Finn dafür, dass sie das für Wanda getan hatte. Finn musste eine sehr umsichtige und treue Freundin gewesen sein. Leah seufzte. Wie gern hätte sie von sich gesagt, eine ebensolche Freundin an ihrer Seite zu wissen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie eine wesentlich tiefer gehende Einsamkeit als die, die sie nach Wandas Weggang empfunden hatte, als sie Finns Gästezimmer betrat. Die Tränen, die in Sturzbächen ihre Wange entlang liefen, ignorierte sie. Entschlossen verdunkelte Leah die Fenster, legte sich bekleidet auf ihr Bett und schlief erschöpft ein.