Читать книгу Grenzenloses Glück - Emma zur Nieden - Страница 9
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Leah putzte die Möhren, schnitt sie in Scheiben und legte sie in die bereitgestellte Schüssel. Währenddessen setzte Finn das Nudelwasser auf und machte sich an das Putzen und Zerkleinern dreier Stangenselleriestücke. Beinahe gleichzeitig transportierten beide ihre letzte Fuhre Gemüse in die Schüssel. Während ihre Oberarme sich berührten, erschütterte Leah ein zweiter Stromschlag, der dieses Mal durch ihren ganzen Körper lief. Abrupt trat sie einen Schritt zurück. Ihr Puls stolperte, ihre Atemfrequenz war unnatürlich schnell. Sie musste hier raus, damit Finn nichts davon mitbekam.
„Ich bin eben auf der Toilette“, sagte sie und huschte in Richtung des Bades.
„Ist gut. Ich gebe derweil das Gemüse in die Pfanne.“
Leah konnte Finn kaum verstehen, weil sie zum Herd sprach, die Pfanne bereits lautstark brutzelte und sie bereits den Raum verlassen hatte. Sie steuerte auf Finns zweites Bad zu, das näher lag als das an ihr Zimmer angrenzende.
Leah stand vor dem Spiegel und fragte sich, warum ihr Puls raste und dauernd elektrische Ströme durch ihren Körper fuhren, wenn sie und Finn sich unabsichtlich berührten. Sie sah sich selbst in die Augen und beantwortete die Frage damit, dass sie einfach aufgewühlt war vom Tod ihrer Lieblingstante und von all den Dingen, die sie über Wanda erfahren hatte. Und Finn war so mitfühlend und sanft. Sie trauerte genauso um Wanda wie Leah selbst. Ja, das musste es sein. Was sonst sollte diese körperlichen Irritationen ausgelöst haben?
Leah beugte sich über das Waschbecken und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Das war gut. Noch einmal. Ja! Sie legte kurz ein unbenutztes Gästehandtuch auf ihr Gesicht. Schließlich räusperte sie sich und machte sich entschlossen auf den Weg in die Küche, der bereits köstliche Düfte entströmten.
„Bin wieder da“, rief sie.
Finn drehte sich kurz um und lächelte Leah an. Dieses Lächeln machte sie ganz nervös. Dennoch stellte sie sich neben Finn an den Herd. Die Nudeln wirbelten bereits im kochenden Wasser herum. War Leah so lange weg gewesen oder gelang dieses Gericht im Handumdrehen?
„Es riecht wunderbar“, stellte Leah fest, fächelte sich den Duft zu und schnupperte daran.
„Ja, das finde ich auch.“ Finn blieb mit ihrer Aufmerksamkeit auf dem brutzelnden Gemüse. Sie löschte die Möhren und den Staudensellerie mit Weißwein ab, wodurch ein Zischen verursacht wurde. Der Duft des Weines breitete sich in der Küche aus. Schließlich fügte sie noch ein paar Tomaten ohne die Haut hinzu.
„Würdest du bitte einmal die Nudeln umrühren, damit sie nicht aneinander kleben bleiben. Die Gabel liegt auf dem Teller neben dem Topf.“ Finn wies mit ihrem Kopf in Richtung der Nudeln, während sie die Pfanne hin und her schob, damit das Gemüse nicht anbrannte.
Leah rührte die Nudel um. Als der Wecker klingelte, griff sie unwillkürlich zu der Gabel und schnappte sich eine einzelne Nudel damit, um die Bissfestigkeit zu überprüfen.
„Sie sind perfekt“, verkündete sie und schaltete die Herdplatte aus, auf der der Topf mit den Nudeln stand.
„Wärst du so nett, sie abzuschütten? Das Gemüse braucht noch einen Moment. Oder willst du lieber die Pfanne übernehmen.“
„Nein, nein. Ich schütte die Nudeln ab und verteile sie gerecht auf den beiden tiefen Tellern, wenn´s recht ist.“
„Es ist sehr recht.“ Finn grinste Leah an und schaltete gleichzeitig die Herdplatte aus, auf der die Pfanne mit dem Gemüse erhitzt worden war. „Das Sieb steht in der Spüle. Mit der Zange kannst du die Nudeln portionieren. Ich komme mit dem Gemüse hinterher, wenn du die Nudeln aufgetan hast.“
Nachdem Leah die Nudeln portioniert hatte, füllte sie noch schnell zwei Gläser mit Wasser und wartete darauf, dass Finn die Teller servierte. Der Duft, der Leah in der Nase hing, war der Wahnsinn. Dieses Gericht musste grandios schmecken. Leah beobachtete Finn. Jeder Handgriff saß. Sie verteilte das Gemüse mit einer Kelle über die Nudeln und stellte die Teller vor Leah und an ihrem eigenen Platz ab. Leah bedankte sich.
„Guten Appetit!“, wünschten die beiden sich gleichzeitig und lächelten sich an. Erneut geriet Leahs Puls aus dem Rhythmus. Sie konzentrierte sich besser aufs Essen. Leah hatte eine leise Ahnung, wieso ihr Puls an bestimmten Stellen in die Höhe schnellte, verbannte sie jedoch vehement aus ihren Gedanken. Sie hatte im Bad doch schon eine plausible Erklärung dafür gefunden.
Leah und Finn schienen übereingekommen zu sein, während des Essens nicht zu sprechen. Stille breitete sich aus und vermischte sich mit dem Duft des Gemüses. Leah genoss jeden einzelnen Bissen. Es war ewig her, dass sie so etwas Leckeres auf dem Teller gehabt hatte und sie niemand beim Essen störte. Außerdem konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals bekocht worden zu sein. Sie hatte nur wenige Handgriffe zu der Mahlzeit beigetragen. Und es hatte Spaß gemacht, Finn in der Küche zu unterstützen.
Als die beiden etwa zeitgleich die Teller geleert hatten, lehnten sie sich zurück und sahen sich an. Leah blickte in die Augen eines scheuen Rehs, das abwartend auf der Lichtung stand, um zu sehen, was die Menschen taten, die zu nah herangekommen waren. Jederzeit bereit, das Weite zu suchen. Bislang hatte Leah stets die sicher auftretende Notarin gesehen, die für jede Situation eine Lösung parat hatte. Nun sah sie in die Augen einer Frau, die auch eine verletzliche Seite zu haben schien. Leah beschlich ein leises Gefühl, dass nicht viele Menschen dieses zerbrechliche Wesen zu sehen bekamen.
Leah räusperte sich zum zigsten Mal. „Mir hat es richtig gut geschmeckt. Das …“ sie zeigte auf ihren leergeputzten Teller, „… werde ich definitiv nachkochen.“
Finn neigte ihren Kopf zu einer leichten Verbeugung. „Danke für das große Lob. Die Nudeln mit dieser Gemüsekombination sind eine meiner Lieblingsgerichte. Es ist außer der Schnippelei am Anfang ruckzuck fertig und trotzdem ein Geschmackshit, finde ich.“
Leah nickte. „Da bin ich ganz deiner Meinung.“ Sie putzte sich mit der Serviette über den Mund. „Sollen wir abräumen?“
„Das machen wir. Anschließend setzen wir uns ins Wohnzimmer und plaudern ein wenig.“
Leah fragte sich, worüber sie plaudern sollte. Sicher nicht über die viele Arbeit, die sich zu Hause türmen würde, wenn sie wieder heimischen Boden betrat. Sie rechnete nicht damit, dass Lilian auch nur einen Finger mehr gekrümmt hatte als notwendig. So nett sie auch war und so verbunden sich Leah manchmal mit ihr fühlte – zum Beispiel als sie ihr heimlich den Brief aus Deutschland zugesteckt hatte – so faul war sie im Haushalt. Immer blieb die Arbeit an Leah hängen. Gedankenverloren entglitt ihr ein Seufzen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Finn von der anderen Seite des Sofas.
Nach dem Aufräumen der Küche hatten sie inzwischen in einigem Abstand auf der Couch im Wohnzimmer Platz genommen. Finn hatte ein paar Kerzen angezündet. Leah entdeckte vier davon auf der breiten Fensterbank und drei befanden sich auf dem Couchtisch. Eine heimelige Atmosphäre, die Finn offensichtlich auch für sich allein herstellte, denn sie hatten einen dauerhaften Platz in Finns Wohnzimmer.
Der Duft der leckeren Mahlzeit hing noch in der Luft. Leah fühlte sich gar nicht an zu Hause erinnert, obwohl das Haus ihres Bruders ebenfalls voller Kerzen stand, um sie zu entzünden, sobald die Dunkelheit einsetzte. Überhaupt schien ihr Heimweh sich irgendwie in Luft aufgelöst zu haben. Genau genommen fragte sie sich, weswegen sie überhaupt Heimweh haben sollte. Finn war ihr gegenüber voller Respekt und betrachtete sie als Gast in ihrer Wohnung. Sie erwartete nicht, dass Leah bei einer anfallenden Arbeit beteiligte. Finn behandelte sie, als wäre sie mit ihr gleichgestellt. Ähnlich wie in Finns Gegenwart hatte sie sich nur mit ihrer Tante gefühlt.
„Es ist komisch, weißt du.“ Leah blickte in die flackernde Flamme einer Kerze, die vor ihr auf dem Wohnzimmertisch stand „Obwohl zu Hause auch manchmal Kerzen brennen, herrscht hier eine ganz andere Atmosphäre. Wir benutzen die Kerzen, um Licht zu machen. Und du erzeugst eine schöne Atmosphäre damit. Ich habe es bisher nicht erlebt, einfach nur bei Kerzenschein gemütlich in einer Ecke zu sitzen. Es gibt immer etwas zu tun bei uns. Aber hier bei dir merke ich den Unterschied deutlich. Im Haus meines Bruders herrscht keine Gemütlichkeit, sondern Funktionalität.“ Leah nahm einen tiefen Atemzug.
„Wanda hat mir erzählt, dass ihr vollkommen ohne Strom auskommt. Ich kann es mir leisten, die Kerzen einfach anzuzünden, um diese besondere Atmosphäre zu erzeugen. Bei euch hat das Kerzenlicht einen ganz anderen Zweck als bei mir.“ Finn hielt einen Moment inne. „Wie fühlt es sich für dich an?“
Leah hatte den Eindruck, als wollte Finn wirklich wissen, wie es ihr ging, während im Haus ihres Bruders nur im Ausnahmefall Rücksicht auf ihre eigene Befindlichkeit genommen wurde. Sie hatte schon mit hohem Fieber Wäsche von Hand gewaschen, bis sie vor dem Waschbrett zusammengebrochen war und Sam ihr drei Tage Pause gewährt hatte. Besonders freundlich war er trotzdem nicht gewesen. Nach diesem „Urlaub“, wie Sam die Erholungsphase genannt hatte, hatte ihr Bruder sie doppelt und dreifach mit Aufgaben überschüttet. Innerlich schüttelte sie immer noch ihren Kopf darüber.
„Gestern hatte ich noch ganz schönes Heimweh. So weit weg von zu Hause, in einem fremden Land zu sein, das sich vollkommen von meinen Gewohnheiten unterscheidet, hat mir Angst gemacht.“ Aus den Augenwinkeln sah Leah Finn nicken. Das konnte sie offensichtlich nachvollziehen. „Aber jetzt genieße ich die Ruhe mit dir an diesem herrlich heimeligen Ort.“
Leah fühlte, dass ihre Worte genau das sagten, was sie empfand. Eine so tiefe Ruhe war ihr noch nie vergönnt gewesen. Sie war entspannt wie noch nie. Es war ein wunderbares Gefühl, einmal nicht für andere da sein zu müssen, sogar selbst ein wenig umsorgt zu werden. Es gefiel ihr, in Finns Wohnung zu sein und die Nähe ihrer Gastgeberin zu spüren, auch wenn sie so weit voneinander entfernt saßen.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich uns ein wenig klassische Musik auflege?“ Leah sah zu Finn, die aufgestanden war, an einem Regal lehnte und sie fragend anschaute.
„Können wir das ein andermal machen? Ich habe das Gefühl, wenn ich heute noch eine neue Erfahrung mache, explodiert mein Kopf. – Und am Ende will ich gar nicht mehr zurück nach Hause.“ Erschrocken hielt Leah sich die Hand vor den Mund, aus dem sich diese ihr anarchisch klingenden Worte geschlichen hatten, als könnte sie sie durch diese Geste wieder zurückholen. Sie konnte sich nicht erklären, wie diese Flausen in ihren Kopf kamen und zog ihre Schultern zusammen, als erwartete sie einen Schlag ins Gesicht.
Erst als sie Finns warme Hand auf ihrer eigenen spürte, kehrte sie ins Hier und Jetzt zurück. Ihr wurde bewusst, dass niemand sie für diese unerlaubten Aussagen bestrafen würde.
„Lass uns einfach noch ein wenig in der Stille sitzen bleiben. Es ist großer Luxus für mich, einfach nur auszuruhen. Es ist sehr schön.“ Leah drückte Finns Hand, um ihr zu danken. Finns warme Hände lösten eine Hitze in Leah aus, die sie sich nicht erklären konnte. Sie fühlte sich sehr wohl in Finns Gegenwart. Und ihr gefiel, wie Finn wohnte. Leah genoss einfach den Augenblick, ohne an ein Morgen zu denken.