Читать книгу Grenzenloses Glück - Emma zur Nieden - Страница 8
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Als Leah aufwachte, spürte sie heiße Tränen auf ihren Wangen. Ihre Trauer galt sowohl ihrer verstorbenen Tante als auch der verpassten Gelegenheit, sie in ihren letzten Stunden zu begleiten. Wie gern hätte sie die Tante bei sich gehabt. Dass sie eine Frau liebte, war vielleicht für ihre Familie ein Schock, eine Katastrophe, aber für Leah war das nicht weiter beunruhigend, obwohl sie beim Frühstück sehr heftig auf diese Neuigkeit reagiert hatte. Es war einfach ungewohnt, sich Wanda mit einer Geliebten vorzustellen, sie sich überhaupt mit irgendjemandem vorzustellen.
Im Grunde ihres Herzens mochte Leah Frauen selbst viel lieber als Männer. Es gab nur wenige Ausnahmen dieser Spezies, die sie nett fand. Bisher hatte sie sich damit abgefunden, dass sie keinem Mann begegnet war, den sie so sympathisch fand, dass sie ihn hätte heiraten wollen. Und sowieso hatte sie sich mittlerweile damit arrangiert, ohne Mann und Kinder zu sein. Ihr Bruder nannte Leah eine „Alte Jungfer“, doch sie hasste diesen Ausdruck und manchmal hasste sie ihren Bruder dafür, dass er mit solchen Äußerungen ungestraft davonkam, vor allem, wenn er dem ohnehin verletzenden Ausdruck noch das Attribut „vertrocknet“ hinzufügte. In solchen Momenten hätte sie ihn am liebsten grün und blau geprügelt.
Finn hatte ihr erzählt, wie sehr ihre Tante diese Julia geliebt hatte. Das war es, was für sie zählte: Wenn man jemanden liebte, war es vollkommen gleichgültig, was für ein Geschlecht eine Person hatte, oder?
Leah selbst war nicht in der Lage, sich ein Bild von einer solchen Liebe, einer so engen emotionalen wie geistigen Verbindung zu machen. In der amischen Gemeinde, in der sie lebte, war ihr niemand begegnet, der ihr Herz und ihren Geist hätte erobern können, den sie auf Händen hätte tragen wollen oder von dem oder der sie hätte auf Händen getragen werden wollen – weder Mann noch Frau. Sie lächelte. Dass sie so unvoreingenommen sein konnte, hatte sie Tante Wanda zu verdanken. Sie hatte ihr beigebracht, dass man den Menschen vorurteilsfrei begegnen sollte. Das versuchte sie jeden Tag. Wenn sie am Tisch ihres Bruders einen Kunden verteidigte, weil er zum Beispiel eine andere Hautfarbe hatte, erntete sie stets einen bösen Blick von Sam, blieb aber bei ihrer Meinung.
Leahs Gedanken schwenkten zurück zu ihrer Tante. Sie war in dem Bewusstsein gestorben, dass sie jemanden geliebt hatte und dass sie geliebt worden war. Konnte es etwas Schöneres geben? Leah lächelte. Sie selbst zahlte einen hohen Preis dafür, dass es so jemanden nicht in ihrem Leben gab. Sie arbeitete im Haus ihres Bruders quasi als Sklavin, stand ihm und der Familie rund um die Uhr zur Verfügung. Wie oft hatte sie des Nachts eines der Kinder getröstet, damit Sam und Lilian ihren „wohlverdienten“ Schlaf nicht unterbrechen mussten, um für die Herausforderungen des nächsten Tages gerüstet zu sein. Dass Leah ein ums andere Mal völlig übernächtigt im Laden gestanden hatte, schien niemandem aufgefallen zu sein. Trotz dieser aufwühlenden Gedanken war Leah müde. Sie konnte sich nicht dagegen wehren und schlief vor Erschöpfung ein.
Als Leah die Augen wieder aufschlug, rekelte und streckte sie sich, um ihre Lebensgeister zu mobilisieren. Draußen dämmerte es bereits. Offensichtlich hatte sie den ganzen Tag verschlafen. Sie rieb sich die Augen, erhob sich und richtete ihre Kleidung. Der Rock war durch das Liegen auf dem Bett zerknittert. Doch Finn würde sie dafür nicht zurechtweisen. Leah grinste. Sie fühlte sich sehr wohl in Finns Gegenwart und war abermals froh, dass diese sie nicht in ein unpersönliches Hotelzimmer verfrachtet hatte, in dem sie sich schrecklich einsam fühlen würde. Als Leah die Wohnzimmertür öffnete, saß Finn mit einem Laptop – wie dieses Gerät hieß, hatte sie von Finn erfahren – auf dem Schoß.
„Arbeitest du?“ Leah kam leise auf Zehenspitzen heran.
Finn sah vom Bildschirm auf und lächelte Leah an. Ihr wurde ganz warm ums Herz. Sie fühlte sich in Finns Wohnung willkommener, als sie es jemals in dem Haus ihres Bruders gewesen war. Dabei war Finn eine ihr völlig fremde Person.
„Schön, dich zu sehen. Du hast sehr lange geschlafen. Scheinbar warst du doch noch nicht so fit, um den ganzen Tag durchzuhalten. Hast du dich ein wenig erholt?“ Finns ehrliches Interesse an ihrem Wohlbefinden war etwas völlig Neues für Leah. Es war Balsam für ihre Seele.
„Ich war völlig fertig nach unserem Gespräch.“
„Das kann ich gut verstehen.“ Finn sah Leah mitfühlend an.
„Aber jetzt geht es mir wesentlich besser. Ich könnte Bäume ausreißen.“ Um die Aussage zu bekräftigen, machte Leah eine Faust und spannte ihre Oberarme an.
Finn prustete los. „Na komm, Popeye, setz dich zu mir“, sagte sie, als sie wieder in der Lage war zu sprechen und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.
„Wer oder was ist Popeye?“ Leah stemmte ihre Hände in die Taille, als würde sie hinter diesem Wort etwas Beleidigendes vermuten.
„Das ist eine Figur mit extrem muskulösen Armen aus dem Fernsehen. Ein Seemann, dem nachgesagt wird, dass er durch Spinat so viele Muskeln bekommen hat“, erklärte Finn. „Er tritt manchmal in Spinatwerbung auf und hat stets eine Pfeife im Mund.“ Sie überlegte eine Sekunde und schlug dann die Hand vor die Stirn. „Natürlich kennst du ihn nicht, weil ihr keinen Fernseher habt.“
„Ach so!“ Leah schmunzelte und ließ noch einmal ihre Armmuskeln spielen, um Finns Vergnügen zu verlängern. Schließlich setzte sie sich neben Finn, die das Laptop bereits zugeklappt hatte.
„Ich habe den ganzen Tag nahezu ohne Pause am Laptop gesessen oder telefoniert. Ich muss sagen, ein Tag Homeoffice hat etwas. Doch jetzt habe ich einen Mordshunger.“ Finn legte das Laptop auf den Tisch.
Wie auf Kommando knurrte Finns Magen. Die beiden Frauen lächelten sich an.
„Ich könnte uns etwas kochen“, schlug Leah vor. „Vorausgesetzt, du hast etwas Brauchbares im Kühlschrank.“
„Der ist voll bis oben hin mit Gemüse. Da du mein Gast bist, werde ich etwas für dich kochen. Ich hoffe nur, dass du vegetarische Gerichte magst. Spinat kann ich dir aber nicht anbieten.“
Leah boxte Finn spielerisch auf den Oberarm. „Kein Problem. Bei uns in der Gemeinde werden zwar Rinder gehalten, aber Fleisch gilt bei uns als etwas Besonderes und kommt nur am Sonntag auf den Tisch. Während der Woche koche ich ausschließlich vegetarisch.“
„Du kochst?“ Finn hob überrascht die Augenbrauen.
„Natürlich. Oder hast du gedacht, ich könnte nicht kochen, weil ich nicht verheiratet bin?“ Leah gefiel es, Finn ein wenig zu necken. So ungezwungen zu sein war etwas gänzlich Ungewohntes für sie, und es fühlte sich so wunderbar leicht an.
„Nein, das nicht. Aber du lebst in dem Haus deines Bruders. Ich hatte angenommen, du wirst dort behandelt wie ein Gast und nicht wie eine Köchin.“
„Und wie eine Putzfrau, eine Nachhilfelehrerin, eine Angestellte im Laden meines Bruders, eine Ersatzmutter, ein Mädchen für alles.“
„Das klingt nach Sklavenarbeit.“ Finn zog eine Augenbraue nach oben. Wie süß.
„Es fühlt sich auch so an. Als die Kinder kleiner waren, war ich annähernd rund um die Uhr im Einsatz.“
„Wie hältst du das aus?“ Finns mitfühlende Stimme tröstete Leah, obwohl sie selbst ihre Rolle in der Familie bislang nicht hinterfragt hatte. Es war einfach so.
„Frag lieber nicht. Manchmal fällt es mir schwer. Und mein Bruder ist noch nicht einmal besonders freundlich zu mir. Wenigstens sind Lilian, meine Schwägerin, und die Kinder nett. Dann ist es nicht ganz so schlimm.“ Bislang hatte Leah das Leben in Sams Haus nicht beurteilt. Mit dem räumlichen Abstand wurde ihr erst bewusst, dass die Familie eigentlich ausnutzte.
„Das hört sich ja furchtbar an.“ Finn berührte Leah kurz am Arm. Er kribbelte angenehm. Das fühlte sich nach Mitgefühl an – und nach noch ganz etwas anderem. „Du bekommst hoffentlich einen angemessenen Lohn für all die Arbeit.“
„Kost und Logis sind mein Lohn.“
Finn riss die Augen auf und schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht glauben, dass Leah für die viele Arbeit noch nicht einmal entlohnt wurde. „Und wenn du etwas für dich kaufen willst? Ein Kleid zum Beispiel.“
„In dem Fall bettle ich meinen Bruder um das Geld für den Stoff an, aus dem ich mir ein Kleid selber nähe. Ich entwerfe all meine Kleidung selbst.“
Finn nickte anerkennend.
„Mein Bruder gibt mir erst etwas, wenn ich ihm verspreche, auch ein neues Kleid für Lilian zu nähen.“
Finn sagte kein Wort. Sie schien erschüttert von den Verhältnissen, die im Haus ihres Bruders herrschten. Leah räusperte und erhob sich. Sie konnte Finns Verdruss und die Augen, die sie traurig und mitfühlend ansahen, kaum aushalten.
„Lass uns in die Küche gehen und deinen Hunger bändigen.“ Ein Grummeln war nun auch von Leahs Magen zu hören. Die beiden mussten lachen.
„Und deinen“, sagte Finn.
Leah war froh, dass Finns Traurigkeit sich so schnell vertreiben ließ. Sie hielt ihr eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Finn ergriff sie. Ihre Hand war warm und packte kräftig zu. Ein Stromschlag traf Leah tief in der Magengrube. Sie ließ Finn los und marschierte voran in die Küche, um damit die aufwirbelnden Gefühle loszuwerden.