Читать книгу Grenzenloses Glück - Emma zur Nieden - Страница 6
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Der Tag hatte bereits turbulent begonnen. In Hektik war der Wagen mit den drei Insassen letztendlich knapp vor dem Abflug in South Bend angekommen. Es hatte nicht alles so reibungslos funktioniert, wie Sam es angekündigt hatte. Er und sein Freund hatten Leah mit dem vom Nachbarn geliehenen Trolley – sie hatte nur das Nötigste für höchstens eine Woche eingepackt – mehr schlecht als recht vor dem Terminal abgeliefert. Der Freund konnte entgegen aller Beteuerungen überhaupt nicht Auto fahren, und falls er es mal gekonnt hatte, hatte er es inzwischen verlernt. Es war ein Wunder gewesen, dass niemand sie angehalten und die Papiere des Fahrers verlangt hatte. Leah vermutete, dass er überhaupt keinen Führerschein besaß. Sam und er waren lediglich darauf erpicht gewesen, die horrende Summe, die Frau Dittmer überwiesen hatte, unter sich aufzuteilen. Leah hatte einen Blick auf Sams Kontoauszug werfen können, die er stets auf dem Schreibtisch im Geschäft liegen ließ, bevor er sie in einen Ordner sortierte.
Letztlich war es nur dem Zufall zu verdanken gewesen, dass Leah den Flug noch erreicht und die Fahrt dorthin überlebt hatte. Ihr Bruder hatte den kleinen Koffer aus dem Kofferraum gehoben und vor ihr abgesetzt. Mit einem Grummeln, das man mit viel Wohlwollen als einen Gruß hätte interpretieren können, war er gleich wieder zu seinem Freund ins Auto gestiegen, um nach Hause zurückzufahren. Im Geiste dankte sie ihm für den schönen Flug, den er ihr nicht gewünscht hatte. Als nächstes stand Leah in der ihr riesig vorkommenden Schalterhalle und sah sich um. Sie erblickte den Check-In-Schalter und steuerte samt Trolley darauf zu. Ihr Herz klopfte. In einer solchen Situation vollkommen allein an einem ihr unbekannten Ort war sie noch nie gewesen. Leah reihte sich in die Warteschlange vor dem einzigen Schalter des Provinzflughafens ein.
Das Theater, das ihr Bruder gemacht hatte, als sie bei Ewans & Son in Shipshewana einen Koffer kaufen wollte, kam ihr in Erinnerung. Er hatte sich aufgeführt wie Rumpelstilzchen – dieses Märchen hatte Tante Wanda ihr nicht nur vorgelesen, sondern auch Rumpelstilzchens Tanz um das Feuer aufgeführt, was Leah stets zum Lachen gebracht hatte – das sich diebisch auf seine Beute freute.
„Einen eigenen Koffer?“ Sam hatte einen Fuß in den Boden gerammt. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt gewesen. „Für eine einzige Reise.“ Er hatte ihr einen Vogel gezeigt. „Du hast sie doch nicht alle.“ Als Sam Leah bereits den Rücken zugekehrt hatte, rief er über die Schulter: „Ich gehe zu Paul und leihe einen Koffer. Der ist sicher wie neu. Paul ist ein einziges Mal in seinem Leben geflogen. Sein Trolley dürfte nahezu unbenutzt sein.“
Leah wusste noch, dass sie mit den Schultern gezuckt und gedacht hatte, Sam hätte recht: Sie würde ihn nur ein einziges Mal brauchen. Damals konnte sie noch nicht wissen, wie sehr sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte – wenn auch anders als gedacht.
Als Leah an der Reihe war einzuchecken, lächelte die Dame am Schalter sie an und war ausgesucht freundlich zu ihr, die sich in ihrem Aussehen deutlich von den anderen Passagieren unterschied. Die Freundlichkeit dieser Frau war Leah mehr als willkommen nach all den aufdringlich starrenden Blicken. Leah überreichte ihr die zwei Flugtickets, die die Notarin ihr per Expresspost geschickt hatte.
In Chicago musste Leah umsteigen. Zum Glück würde sie nicht auch noch das Gepäck suchen und neu einchecken müssen, wie die Dame am Schalter ihr erklärt hatte. Es wurde direkt zu dem Flugzeug transportiert, das sie nach Europa bringen würde. Hamburg. Leah wusste überhaupt nicht, wo in Deutschland sich diese Stadt befand, aber ihre geografischen Kenntnisse beschränkten sich ohnehin auf die kleine Welt, in der sie lebte. Dass sie in wenigen Stunden im Flugzeug nach Europa sitzen würde und sie in die große weite Welt unterwegs wäre, konnte sie noch immer kaum glauben. Es war jedenfalls mehr als aufregend.
Als ihr Flug aufgerufen wurde und sie den anderen Passagieren folgte, die ebenfalls nach Chicago wollten, wurde ihr doch etwas mulmig. Sie war noch nie geflogen. Und die Maschine, die nur über das Rollfeld zu erreichen war, sah winzig und nicht gerade vertrauenerweckend aus. Würde sie es überhaupt aushalten können, in einem so kleinen Flugzeug eng mit anderen Menschen zusammenzusitzen? Es war keine Zeit, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Sie fühlte sich wie in einem Wasserstrudel, weil die übrigen Passagiere zum Eingang des Flugzeugs drängten.
Kaum hatte Leah die Maschine betreten, saß sie auch schon auf einem Platz am Fenster. Zum Glück setzte sich eine Frau neben sie. Leah mochte es nicht, wenn Männer ihr zu nahe kamen. Bei einer Frau würde sie es tolerieren, wenn diese aus dem Fenster schauen und sich über sie beugen wollte, um einen Blick auf die Erde oder den Himmel zu werfen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Frau blieb auf ihrem Platz sitzen, las ein Buch und schien sich für die Außenwelt überhaupt nicht zu interessieren. Erleichtert atmete Leah auf. Überrascht stellte sie während des Fluges fest, wie klein doch die Welt von oben aussah. Bis vorhin war sie noch in ihrem kleinen Kosmos verhaftet gewesen, und nun entdeckte sie „die Welt da draußen“, wie ihr Bürgermeister zu sagen pflegte, wenn er bei einem Richtfest die Gemeinschaft lobte, die allein mit ihrer Arbeitskraft und dem Material Holz ein Haus bauen konnten. Weil Leah die Aussicht aus dem Fenster so spannend fand, verging die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes im Fluge, und schon stand Leah im Ankunftsbereich des Chicagoer Flughafens. Er hatte sogar einen Namen: O´Hare International Airport.
Das Umsteigen in Chicago klappte nicht so problemlos, wie Leah es sich gewünscht hatte. Sie kam sich vollkommen verloren vor in der überdimensionalen Ankunftshalle und wusste zuerst nicht, wohin sie gehen sollte, um ihren Anschlussflug zu erreichen. Zudem bemerkte sie die neugierigen Blicke der Menschen, die ihr begegneten. Natürlich wusste sie, dass sie komplett anders gekleidet war als der Rest der Menschheit. Durch die Arbeit im Laden ihres Bruders hatte sie gelernt, dass die meisten Menschen, die als Touristen nach Shipshewana kamen, ganz andere Kleidung bevorzugten als die Amischen. Aber in ihrem Heimatort starrten die Leute sie nicht so an wie hier. Im Gegenteil erntete sie im Laden bewundernde Blicke, wenn sie den Kunden auf Nachfrage erzählte, dass sie ihre Kleider selber nähte. Vermutlich erwarteten die Besucher einer amischen Gemeinde sogar, dass die Einheimischen traditionell gekleidet waren. An einem modernen Flughafen allerdings schien sie nicht nur vollkommen unpassend auszusehen, sie kam sich auch so vor, als passte sie überhaupt nicht in diese ihr so fremde Welt, die viel zu laut und viel zu bunt auf sie einprasselte, dass Leah sich so manches Mal die Ohren zu hielt und die Augen schloss.
Sorgfältig hatte Leah für die Reise ihr schönstes Ausgehkleid gewählt. Es war hellblau und bestand aus etwas wärmerem Stoff, und weil der ausklingende Winter recht kühl war, spendete das Kleid genügend Wärme. Darüber trug sie ihren dunkelblauen, sehr einfachen Wintermantel, den sie nun geöffnet hatte. Dadurch wurde die weiße Schürze sichtbar.
Leah hatte den Eindruck, die Leute glotzten geradezu auf ihre schwarze Haube, die sie am Hals zugebunden hatte, so dass die Schleifen adrett auf ihrem Dekolleté lagen. Als sie sich umsah, entdeckte sie kaum jemanden mit einer Kopfbedeckung. Ab und zu begegneten ihr Menschen mit einem Hut oder einer Baseballmütze auf dem Kopf.
Als Leah zufällig an einem Informationsschalter vorbeikam, fragte sie nach dem Weg zum Flug nach Hamburg. Das Englisch kam ihr akzentfrei über die Lippen. Sie hatte es in der Schule gelernt und perfektionierte es im Umgang mit den Kunden. Die Dame am Schalter lächelte sie freundlich an. Leah sollte ihr die Bordkarte zeigen. Einen Moment kam Panik in ihr auf. Dann erinnerte sie sich daran, die Karte, die sie beim Einchecken erhalten hatte, in ihren selbst genähten Beutel gesteckt zu haben. Kurzes Suchen, und da war sie. Glück gehabt.
Die Dame beugte sich über die Theke, nahm die Karte in die Hand und erklärte ihr die Zeichen, die sich darauf befanden. Außerdem erfuhr Leah, dass sie das Papier beim Einsteigen in das Flugzeug nach Hamburg brauchen würde. Das hatte ihr niemand gesagt. Sie hatte die Karte nur deshalb aufbewahrt, weil Leah sie sich im Flugzeug noch einmal genauer hatte ansehen wollen. Die Dame erklärte Leah, wann sie sich wo einfinden musste und woran sie diese Informationen auf dem Boarding-Pass erkennen konnte. Die Frau an der Info erklärte ihr alles bis ins letzte Detail und war dabei ausdauernd freundlich und geduldig. Dabei erfuhr Leah, dass Frau Dittmer für den langen Flug einen Sitzplatz in der Business Class gebucht hatte und auf welchem Platz sie sitzen würde – auf dem kurzen Flug nach Chicago hatte es freie Sitzplatzwahl gegeben. An der Information erfuhr Leah nun, dass sie mehr Platz in ihrem Sitz haben würde. Dass sie mit American Airlines fliegen würde, hatte sie schon selber herausgefunden. Schließlich stand es dick und fett oben auf der Bordkarte. Und dass es sich dabei wohl um eine Fluggesellschaft handelte, lag auf der Hand.
Nachdem Leah die nötigen Informationen erhalten hatte, begab sie sich umgehend zu dem Flugsteig, von dem aus ihr Flug losgehen sollte. Als sie an der richtigen Stelle saß, fiel alle Anspannung von ihr ab. Sie musste nur noch warten, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Sie atmete tief durch. Ihr Magen knurrte und zeigte ihr an, dass sie seit heute Früh noch nichts gegessen hatte.
Leah kramte in ihrem Leinenbeutel und förderte eine Metallbox mit einem Stapel Butterbroten und einem Apfel zutage. Lilian war so geistesgegenwärtig gewesen, ihr etwas zu essen für die lange Reise einzupacken. Leah selbst war viel zu aufgeregt gewesen, an etwas so Profanes wie die Befriedigung ihres Hungers zu denken. Dankbar schickte sie ein Lächeln gen Himmel zu Lilian und biss genussvoll in ihr Brot. Es schmeckte köstlich. Leah hatte erst gestern noch sechs Brote gebacken, damit ihre Familie die Zeit ohne sie nicht auf die leckere Köstlichkeit verzichten musste. Ein frisches Brot war einfach etwas besonders Schmackhaftes.
Die Zeit wurde Leah gar nicht lang, weil es so viel zu sehen gab. Mehrmals hatten sich Menschen in dem Vorraum des Flugsteiges eingefunden, die zu anderen Destinationen unterwegs waren. Auf der Informationstafel tauchten Orte wie Amsterdam, Kiew oder Marseille auf, die Leah vollkommen unbekannt waren. Insgeheim nahm sie sich vor, sich einen besseren Überblick über die Städte und Länder dieser Erde zu verschaffen. Dank der Dame an der Information wusste Leah, wie sie sich zu verhalten hatte, wenn ihr Flug aufgerufen wurde. Nach bestimmt drei Stunden reihte sie sich in die Schlange vor dem Abflugschalter ein. Auf nach Hamburg.
Bald nachdem sie endlich auf ihrem Sitzplatz in der Business Class saß, wusste sie es zu schätzen, mehr Platz zu haben als die meisten der übrigen Passagiere. Sie hatte einen Blick in den hinteren Teil des Flugzeugs geworfen und gesehen, wie eng die Sitze hintereinander angebracht waren. Bereits in der kleinen Maschine von South Bend nach Chicago hatte sie mit ihrer Größe etwas Mühe gehabt, ihre Beine schmerzfrei unterzubringen. Aber die knappe Stunde hatte sie so gerade aushalten können. Nun genoss Leah die Beinfreiheit, die ihr die Business Class auf dem Flug nach Hamburg bescherte. Immerhin würde sie elfeinhalb Stunden in diesem Sitz verbringen, wenn alles planmäßig verlief. Sie schickte einen stummen Dank nach Deutschland für die umsichtige Platzreservierung.
Als sie es sich irgendwann auf ihrem großzügigen Platz im Flugzeug nach Europa richtig bequem gemacht hatte, kamen ihr die Leute in den Sinn, die sie mit abschätzigen Blicken bedacht hatten. Nachvollziehen konnte sie dieses unangenehme Starren nicht. Sie starrte den Menschen, die sich nicht wie sie kleideten, schließlich auch nicht auf die Hose oder die Bluse. Zu Hause fühlte sie sich in ihrem blauen Gewand und der weißen Schürze mit passender Haube sehr wohl, geradezu schick. Sie war stolz auf die Kleider, die sie allesamt selbst genäht und sogar entworfen hatte.
Bei den Amischen hatten einige Kleidungsstücke eine besondere Bedeutung. Als unverheiratete Frau trug Leah eine schwarze Ausgehhaube, die Bonnet genannt wurde. Sie fand, das Bonnet verlieh ihr ein seriöses Aussehen. Obwohl sie stolz auf ihr langes, dunkelbraunes Haar war, konnte man ihre Haarpracht nicht sehen, die durch die Haube zum größten Teil versteckt war. Unter der Haube hatte sie ihre Haare hochgesteckt. Leah hatte auf dem Flughafen keine einzige Frau gesehen, die eine Schürze trug – einmal abgesehen vom Personal in den Cafés und Bistros. Leah fand es befremdlich, dass die Leute das Andersartige so merkwürdig beäugten.
Für die Reise nach und den Aufenthalt in Deutschland hatte sich Leah zwei neue Kleider genäht, beide wadenlang. Wenn die Frauen, denen sie außerhalb ihrer Gemeinde begegnet war, überhaupt Kleider trugen, waren sie wesentlich kürzer. Dass Frauen auch Hosen trugen, wusste sie von ihrer Arbeit in Sams Laden. Sie fand es trotzdem komisch. Sie selbst hatte eine Hose noch nicht einmal anprobiert. Sie waren schließlich Männerkleidung. Und die Kleiderordnung der Amischen sah für Frauen noch nicht einmal im Ausnahmefall eine Hose vor. Dennoch musste sie zugeben, dass die Frauen in ihren edlen Hosenanzügen außerordentlich gut aussahen. Für sie selbst käme das Tragen einer Hose niemals in Frage. Dafür würde schon ihr Bruder sorgen.
Im Flugzeug hatte Leah den Mantel mit seinen klassischen Haken und Ösen abgelegt, dabei kam ihr Schulterkragen zum Vorschein. Sie hatte alle Accessoires vor der Reise gewaschen, gestärkt und gebügelt, damit sie einen sauberen Eindruck machten. Mit der Tatsache, dass sie trotzdem mit herablassenden Blicken bedacht wurde, hatte Leah nicht rechnen können. Da jedoch alle anderen Personen, die sie gesehen hatte, völlig anders aussahen als sie selbst, hielt sie die Blicke mittlerweile für unvermeidlich, versuchte aber, sich dadurch nicht stören oder verunsichern zu lassen. Außerdem waren die beiden Frauen des Flughafenpersonals wirklich sehr freundlich gewesen. Das entschädigte Leah ein wenig für die unangenehmen Blicke.
Leah saß entspannt auf ihrem großzügig bemessenen Sitz und hatte die Augen geschlossen. Sie versuchte, das laute Geräusch auszublenden, das die Turbinen verursachten. Die Filme, die zur Ablenkung der Passagiere gezeigt wurden, interessierten sie nicht. Im Haus des Bruders wie in der gesamten Gemeinde gab es keinen Strom. Niemand betrieb daher einen Fernsehapparat oder irgendein anderes elektrisches Gerät. Licht erzeugten sie mittels Kerzen und Petroleumlampen.
Die bewegten Bilder, auf die Leah zuerst gestarrt hatte, waren ihr ausgesprochen befremdlich vorgekommen und hatten eine gewisse Unruhe in ihr ausgelöst, weshalb sie die Augen hatte schließen müssen. Schon auf den beiden Flughäfen heute Morgen hatte Leah die blinkenden Werbeplakate und die vielen ineinander übergehenden Geräusche von Menschen und Maschinen als äußerst verwirrend erlebt. Sie hatte sich kaum auf einen dieser äußeren Reize konzentrieren können und war zwischen ihnen hin- und hergerissen gewesen. Am Ende war sie davon ganz erschöpft und froh gewesen, dass die Anzahl der auf sie einströmenden Dinge an dem Terminal, an dem sie gesessen hatte, überschaubar gewesen war.
Obwohl die Amischen ohne Elektrizität lebten, hatten sie der vielen Touristen wegen einige notwendige Ausnahmen für die Geschäftsmeile machen müssen. Es gab eine Klimaanlage, die die gesamte Fläche des Einkaufsareals mit kühler Luft versorgte. Jedes Geschäft verfügte über eine Telefonanlage. Außerdem bezahlte kein Amerikaner beim Einkauf in bar. Deswegen wurden Kreditkartenautomaten betrieben. Eine absonderliche Welt.
Leah schüttelte innerlich den Kopf und sehnte sich für einen Moment in die beruhigende Landschaft zurück, die das Haus ihres Bruders umgab. Kräftig gelbe Weizenfelder wurden abgelöst von tiefgrünen, saftigen Wiesen. Dieser Anblick war stets eine Augenweide für Leah und brachte ihre innere Ruhe zurück, wenn sie sich wieder einmal über ihren Bruder aufgeregt hatte. Im Flughafen hatte sie keinen Fixpunkt gefunden, an dem sie ihren Blick hätte festhalten können und wollen. Deswegen hatte sie ihre Augen die meiste Zeit über auf einen bestimmten Punkt vor ihr auf dem Boden gerichtet.
Das gleichmäßige Geräusch der Turbinen des Flugzeuge wiegte Leah in einen leichten Schlaf. Ein wirrer Traum wirbelte durch ihren Kopf. Sie fuhr im Auto, während Straßen und Menschen in einer irrwitzigen Geschwindigkeit an ihr vorbeirauschten. Auf dem Flughafen stand sie still, während die Menschen auf sie zuströmten und im letzten Moment rechts oder links an ihr vorbeirannten; sie meinte sogar, deren Luftzug zu spüren. Plötzlich stand Leah auf einem Rollfeld, wo ein Flugzeug nach dem anderen im Tiefflug an ihr vorbeiflog. Am Ende musste sie sich auf den Boden werfen, um nicht von dem entstehenden Sog fortgerissen zu werden. Von dem Lärm in ihrem Traum schreckte sie auf und rieb sich durchs Gesicht. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie sich befand und wodurch der Lärm tatsächlich hervorgerufen wurde.
Leah war inzwischen zwölf Stunden unterwegs. Sie hatte nicht richtig geschlafen, obwohl ausreichend Platz vorhanden war. Die ganze Situation war ungewohnt, die Geräusche um sie herum sehr laut, und ihre Aufregung wuchs, je näher das Flugzeug seinem Zielort kam. Sie war hundemüde. Außerdem hatte die gereichte Mahlzeit furchtbar geschmeckt. Sie hatte kaum davon genommen und stattdessen die restlichen Brote verspeist, die Lilian ihr in reichlicher Menge mitgegeben hatte. Dennoch knurrte ihr Magen. Sie sah auf den Bildschirm nach der Uhrzeit. Zu allem Überfluss war auch noch ihre Armbanduhr stehen geblieben, weil sie vergessen hatte, sie aufzuziehen. Der Blick auf den Bildschirm verriet ihr, dass sie noch drei Stunden aushalten musste, bis das Flugzeug in Hamburg landete. Sie hoffte, Frau Dittmer würde pünktlich sein, um Leah in Empfang zu nehmen. Sie hätte in diesem fremden Land noch weniger Orientierung gehabt als in ihrem eigenen.
Leah gähnte, als eine Stewardess sie fragte, ob sie noch etwas zu trinken bringen könnte. Leah nickte. Die trockene Luft hatte ihre Zunge am Gaumen kleben lassen. Sie hatte viel zu wenig getrunken. Die Toilette im Flugzeug war so eng gewesen, dass sie es vermieden hatte, sie öfter aufsuchen zu müssen.
Sie gähnte noch einmal und fiel erneut in einen unruhigen Schlaf, bis sie von dem Druck auf ihren Ohren geweckt wurde. Das Flugzeug befand sich im Sinkflug, der offenbar die Ursache für den großen Druck war, den Leah auf den Ohren spürte. Eine Vorfreude machte sich in ihr breit, aber auch eine gewisse Angst vor all den unbekannten Dingen, die auf sie zukamen und die sie nicht beeinflussen konnte, wenn sie festen Boden unter den Füßen hatte. Wäre ihr Koffer auf dem Gepäckband? Würde Frau Dittmer auch wirklich auf sie warten? Würde sie Leah freundlich empfangen? Zumindest konnte Leah die letzte Frage positiv beantworten. Am Telefon war ihr die Notarin als eine zuvorkommende und freundliche Person erschienen.
Leah hatte am Gepäckband nicht lange auf ihren Trolley warten müssen. Weil sie nach dem Aussteigen aus dem Flugzeug nicht wusste, was zu tun war, war sie einfach den anderen Passagieren gefolgt und hatte beobachtet, wie diese sich verhielten. Fliegen war gar nicht so schwer, dachte sie. Aber so weit weg von zu Hause zu sein schon. Bevor das Heimweh sie übermannen konnte, schloss sie sich einem Ehepaar an, mit dem sie auf dem Flug öfter Blickkontakt gehabt hatte. Sie mochte die beiden, weil sie ihr stets einen aufmunternden Blick zugeworfen hatten. Offensichtlich hatten sie Leahs Unbehagen bemerkt, während die anderen Passagiere ihr gegenüber gleichgültig waren – zumindest mit fortschreitender Dauer des Fluges. Das Ehepaar ging in Richtung des Zolls auf den Schalter mit dem roten Schild zu. Leah merkte im letzten Moment, dass sie den grünen Ausgang nehmen musste. Sie hatte nichts eingepackt, das zu verzollen war. Der nette junge Zollbeamte lächelte und fragte trotzdem, ob sie etwas zu verzollen hätte. Sie lächelte zurück und verneinte. Er winkte sie mit den Augen auf den kleinen Koffer durch und wünschte ihr einen schönen Tag. Diese nette Ansprache auf deutschem Boden schien ihr als ein gutes Omen für ihren Aufenthalt.
Und plötzlich stand sie in der Ankunftshalle des Hamburger Flughafens. Das geschäftige Treiben und die vielen Geräusche, die ihre Ohren durcheinanderwirbelten, verursachten einen stechenden Kopfschmerz. Leah schloss die Augen und rieb sich über die Schläfe. Von weit her rief jemand ihren Namen.
„Frau Stoltzfus! Frau Stoltzfus!“ Leah öffnete die Augen und blickte in zwei dunkelbraun schillernde Murmeln. Schokolade kam ihr sofort in den Sinn. Ein heißer Kakao, der in seiner Tasse dampfte, wäre jetzt gut und würde Leahs Ängste und Unsicherheit vertreiben, sie an zu Hause erinnern. Ihr Gegenüber lächelte und hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin.
„Guten Tag, Frau Stoltzfus“, sagte die großgewachsene Frau, die sich mit Leah auf Augenhöhe befand. „Herzlich willkommen in Hamburg.“ Leah nickte, ergriff die Hand und flüsterte heiser ein „Danke!“
„Ich bin Finn Dittmer“, stellte die Frau sich vor. „Wir haben telefoniert.“
„Leah Stoltzfus“, brachte Leah heraus. Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Wenn sie sich nicht bald hinlegte, würde sie mit einem starken Migräneanfall drei Tage flach und dunkel im Bett liegen müssen.
„Frau Dittmer? Ich habe sehr üble Kopfschmerzen. Können wir gleich in mein Hotel fahren?“
Finn Dittmer hatte Leahs Koffer genommen und führte sie zum Parkhaus.
„Das tut mir leid, Frau Stoltzfus“, sagte sie mitfühlend. Die dunkle Stimme beruhigte Leah ein wenig.
„Es finden momentan viele Veranstaltungen gleichzeitig in Hamburg statt. Ich konnte weder ein Hotelzimmer noch eine Pension ergattern, die Platz für eine Person gehabt hätte. Wenn Sie nichts dagegen haben, fahren wir zu mir nach Hause. Zum Glück ist meine Wohnung mit einem Gästezimmer ausgestattet. Dort können Sie sich ausruhen, bis Sie sich wieder besser fühlen. Ich hoffe, das geht für Sie in Ordnung?“
Leah nickte schwach. Sie musste sich dringend in einen abgedunkelten Raum begeben. Da wäre ihr auch ein Platz in der Besenkammer recht. Insgeheim war sie jedoch froh, nicht allein in einem Hotel der fremden Welt ausgesetzt zu sein. Frau Dittmer schien die Dinge in die Hand zu nehmen. Leah war erleichtert, dass die Notarin die Führung übernahm. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, legte den Gurt an – das hatte sie auf der Fahrt nach South Bend auch tun müssen – und schloss augenblicklich die Augen. Das machte es etwas besser. Und die Behutsamkeit, die Frau Dittmer nicht nur im persönlichen Umgang, sondern auch beim Fahren an den Tag legte, war äußerst wohltuend. Frau Dittmer fuhr sehr vorsichtig, so dass Leah ohne Umschweife einschlief.
Leah spürte einen sanften Druck an ihrer Schulter. „Frau Stoltzfus, wir sind da. Ich wohne im zweiten Stock, aber es gibt einen Aufzug. Bitte kommen Sie. Wenn wir oben sind, schicke ich Sie umgehend ins Bett.“
Leah war sehr dankbar, dass die Stimme geflüstert hatte. Und sie würde sich sofort hinlegen dürfen, ohne noch irgendwelche Fragen beantworten zu müssen. Dem Himmel sei dank!
Nach einer Ewigkeit lag Leah im Bett. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie sie es geschafft hatte, dorthin zu gelangen und in ihr Schlafgewand zu schlüpfen. Vermutlich hatte Frau Dittmer ihr ein wenig dabei geholfen. Solche Erinnerungslücken waren Leah in ihrem Zustand nicht unbekannt. Sie spürte etwas Weiches unter ihrer Zunge und erinnerte sich, dass Frau Dittmer so nett gewesen war, die Tablette aus ihrem Koffer zu holen, die gegen diese elenden Kopfschmerzen helfen würde, wenn sie sich nur lang genug ausruhte und am besten tief und fest schlief. Dankbarkeit durchflutete sie, bevor sie in einen tiefen Schlaf hinüberdämmerte. Sie hörte nicht einmal mehr, wie ihre Zimmertür leise geschlossen wurde.