Читать книгу Sozialstaat Österreich (1945–2020) - Emmerich Tálos - Страница 10

1.4. Ausgestaltung der Sozialpolitikbereiche 1.4.1. Sozialversicherung

Оглавление

Gesetzliche Normen

Die Sozialversicherung regelt die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung. Der Sachverhalt, dass die Inklusion in sozialstaatliche Leistungssysteme entlang von Berufsgruppen erfolgte, spiegelt sich in den einschlägigen berufsgruppenspezifischen Gesetzen wider:

– das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz ist bezogen auf die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung für Arbeiter/innen, Angestellte, freie Dienstnehmer/innen und Lehrlinge;

– das Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz enthält Regelungen betreffend diese beiden Risiken und galt für Dienstnehmer/innen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis;

– das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz regelte die Kranken- und Pensionsversicherung für selbständig Erwerbstätige und Neue Selbständige;

– das Sozialversicherungsgesetz der freiberuflich selbständig Erwerbstätigen war auf deren Pensionsversicherung bezogen;

– das Bauern-Sozialversicherungsgesetz normierte die Kranken-, Unfallund Pensionsversicherung der im land- und forstwirtschaftlichen Bereich Erwerbstätigen und

– das Notar-Versicherungsgesetz die Pensionsversicherung dieser Erwerbsgruppe.

Diese institutionelle Struktur wurde durch das Sozialversicherungsorganisationsgesetz aus 2018 geändert (siehe dazu unten 2.4.3.).

Die soziale Sicherung im Fall der Arbeitslosigkeit ist traditionell durch ein eigenes Gesetz geregelt und wird durch das AMS vollzogen.

Programme

Die Krankenversicherung umfasst Sach- und Geldleistungen: Zu ersteren zählen Leistungen wie die Anstaltspflege/Krankenhausbehandlung, die ärztliche Behandlung (mit einem zwischen den Berufsgruppen unterschiedlichen System von Selbstbehalten), Arzneien, Heilbehelfe und Hilfsmittel (z.B. Brillen, Rollstühle), Zahnbehandlung und Zahnersatz sowie Kuren. Kernpunkt der Geldleistung ist der Ersatz des krankheitsbedingten Entfalls des Erwerbseinkommens (durch Entgeltfortzahlung/Krankengeld) – mit lange Zeit zwischen Arbeitern und Angestellten variierender Dauer. Weitere Geldleistungen sind das Wochengeld für Mütter (acht Wochen vor und nach der Geburt) sowie der Bestattungskosten-Beitrag (im Fall der Bedürftigkeit der Hinterbliebenen). Gesetzgebung und Vollziehung im Gesundheitssystem obliegt dem Bund, die Ausführungsgesetzgebung ist Aufgabe der einzelnen Bundesländer (siehe Tálos/Wörister 1994, 142 ff.; Gottweis/Braumadl 2006, 759 ff.).

Die Unfallversicherung, deren Leistungen auf die Behandlung und Versorgung von Opfern eines Arbeitsunfalls oder einer Berufserkrankung ausgerichtet sind, gewährleistet ebenso Geldleistungen (Rente) wie Sachleistungen (Unfallheilbehandlung und Maßnahmen der Rehabilitation).

Die Arbeitslosenversicherung stellt die zentrale, nicht die einzige Versorgungsinstitution bei Vorliegen dieses Risikos dar. Der Bezug von Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe (als Anschlussleistung) ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Beim Arbeitslosengeld waren bis Ende der 1990er Jahre als Mindestanwartschaftszeit beim erstmaligen Bezug 52 Versicherungswochen in der Rahmenfrist von zwei Jahren, bei unter 25-Jährigen 26 Wochen innerhalb der letzten zwölf Monate vorgesehen. Dieses Erfordernis verringerte sich bei einer weiteren Inanspruchnahme. Die Dauer des Geldbezuges variierte je nach Versicherungszeit zwischen 20 bis 52 Wochen. Die Höhe des Arbeitslosengeldes erfuhr im gegenständlichen Zeitraum einige Veränderungen. Es betrug Ende der 1990er Jahre 58% des letzten Nettolohns. Für den Fall, dass das Arbeitslosengeld unter dem Sozialhilferichtsatz lag, wurde der Differenzbetrag von den Sozialhilfeträgern erstattet. Die Arbeitslosenversicherung kennt in Österreich keinen Mindeststandard, sehr wohl aber eine Anschlussleistung an das Arbeitslosengeld, die sog. Notstandshilfe. Diese ist bis heute an materielle Bedürftigkeit gebunden. Über das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe hinaus sind noch weitere Geldleistungen bei spezifischen Anlassfällen und Problemlagen vorgesehen. So gab es bei Teilnahme an Schulungsmaßnahmen der Arbeitsmarktverwaltung eine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhalts. Die Sonderunterstützung stellt eine Art Vorruhestandsleistung dar. Zu den einschlägigen Sozialleistungen zählen zudem die Sozialhilfe (Länder/Gemeinden) und familienpolitische Leistungen (Familienlastenausgleichsfonds).

Die Alterssicherung wird durch das System der Pensionsversicherung für annähernd alle Erwerbstätigen und das System der Beamtenversorgung gewährleistet. Dabei lassen sich verschiedene Formen unterscheiden: neben der normalen Alterspension gab es bis in die 2000er Jahre vorzeitige Alterspensionen nach verschiedenen Anlassfällen (wegen langer Versicherungsdauer, wegen Arbeitslosigkeit, wegen geminderter Arbeitsfähigkeit, die Gleitpension). Das Alterssicherungssystem weist – vor allem bedingt durch die Berufsgruppenorientierung – eine beträchtliche Differenzierung hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen und der Leistungsgestaltung auf. Die Erwerbsarbeitsorientierung und das Äquivalenzprinzip spiegeln sich im Niveau der Leistungen: Dieses bemisst sich nach Versicherungsdauer (Zeiten der Pflichtversicherung, der freiwilligen Versicherung, Ersatzzeiten wie die Zeit des Bezugs von Arbeitslosengeld, des Präsenzdienstes, der Kindererziehung) und den Erwerbseinkommen im Bemessungszeitraum, nicht zuletzt auch nach dem Pensionsantrittsalter. Die Entwicklung des Systems der Alterssicherung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beinhaltete neben diversen Leistungsverbesserungen auch wiederholte Änderungen betreffend Leistungsdauer und Festlegung des Bemessungszeitraums. So wurde beispielsweise letzterer von 60 Beitragsmonaten (bis 1984) auf 180 Monate (1987) bzw. auf die so genannten besten 15 Jahre (1993) erweitert. Das Maximum von 80% der Bemessungsgrundlage konnte in den 1990er Jahren nach 40 Versicherungsjahren und bei einem Pensionsantritt mit 60 Jahren (Frauen) bzw. 65 Jahren (Männer) erreicht werden. Die letzte „Reform“ vor Antritt der ÖVP-FPÖ-Regierung, die Pensionsreform aus 1997, brachte neuerliche Änderungen: so erste Ansätze einer Harmonisierung der Bemessungszeiträume zwischen Pensionsversicherung und Beamtenversorgung sowie die Kürzung der Leistungen bei Inanspruchnahme einer „Frühpension“ (bis maximal 10 Prozentpunkte). Einen einschneidenden Umbau des Pensionssystems realisierte die erste Schwarz-Blaue-Regierung in den Jahren 2003/04 (siehe näher dazu Obinger/Tálos 2006, 89 ff.; Wöss 2020; 2.4.1. i.d.B.).

Verwaltung durch Selbstverwaltung

Die Durchführung der Sozialversicherung oblag den zuständigen Versicherungsträgern. Deren Zahl betrug Ende der 1990er Jahre insgesamt 28, davon 19 Krankenkassen und 9 Versicherungsanstalten (Tabelle 1.2.). Den weitreichendsten Schritt zur Reduktion der traditionellen Palette von Sozialversicherungsinstitutionen brachte die Schwarz/Türkis-Blaue-Regierung im Jahr 2018.

Tabelle 1.2. Die österreichische Sozialversicherung

Die österreichische Sozialversicherung Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger
UnfallversicherungKrankenversicherungPensionsversicherung
9 GebietskrankenkassenPensions-Versicherungsanstalt der Arbeiter
Allgemeine Unfallversicherungsanstalt10 BetriebskrankenkassenPensions-Versicherungsanstalt der Angestellten
Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues
Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft
Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen
Sozialversicherungsanstalt der Bauern
Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter
Versicherungsanstalt des österreichischen Notariates

Quelle: Soziale Sicherheit 7/8 (1999), 597.

Als Dachverband fungierte der Hauptverband der Sozialversicherungsträger, dem die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen der Sozialversicherung und die Vertretung dieser Träger in gemeinsamen Angelegenheiten zukam. Seit den Anfängen der Sozialversicherung im ausgehenden 19. Jahrhundert gilt in organisatorischer Hinsicht das Prinzip der Selbstverwaltung. Die Vertreter der Versicherten wurden im Unterschied zu Deutschland in Österreich nicht gewählt, sondern im Zeitraum von 1947 bis 1999 von den gesetzlichen Interessenvertretungen, den Kammern, entsandt – wobei traditionell in den meisten Organen die Zahl der Arbeitnehmervertreter/innen überwog. Am Beispiel des Hauptverbandes aufgezeigt: bis 1999 war die Vorstandskonferenz aus siebzehn Vertretern der Dienstnehmer und zehn der Dienstgeber, der Verbandsvorstand aus sechs bzw. vier, das Präsidium aus zwei bzw. einem Vertreter zusammengesetzt. Nur in der Kontrollversammlung gab es mit sieben Vertretern eine Mehrheit der Dienstgeber (gegenüber vier der Dienstnehmer).

Die Verwaltung wurde näherhin von folgenden Organen wahrgenommen: der Hauptversammlung (beim Hauptverband: Verbandskonferenz), dem Vorstand als geschäftsführendem Organ, der Kontrollversammlung sowie von Ausschüssen. Durch eine Reform der Organisationsstruktur mit der 52. ASVG-Novelle (in Kraft 1994) sollte dem Ziel einer verstärkten Versichertennähe Rechnung getragen werden – und zwar mit einer verbesserten Abgrenzung von Geschäftsführung und Kontrollorgan, mit einer deutlichen Verringerung der Zahl der Versicherungsvertreter in den Entscheidungsgremien (von 2701 auf 1017) und mit der Einbindung von Vertretern der Pensionisten und Menschen mit Behinderung (auf dem Weg von Beiräten). Der Hauptverband bestand nunmehr aus vier Organen: der Verbandskonferenz, dem Verbandsvorstand, dem Verbandspräsidium und der Kontrollversammlung. Auf Grund der dem Präsidium bzw. dem Präsidenten übertragenen Aufgaben wurde das Verbandspräsidium organisatorisch verselbständigt. Als Organe der einzelnen Sozialversicherungsträger fungierten die Generalversammlung, der Vorstand, die Kontrollversammlung und Ausschüsse. Einschneidende Veränderungen erfuhr diese Organisationsstruktur der Sozialversicherung unter beiden ÖVP-FPÖ-Regierungen.

Finanzierung

Die Finanzierung erfolgt aus verschiedenen Quellen: Die Aufwendungen der Sozialhilfe werden aus den steuerlichen Einnahmen der Länder und Gemeinden, die der aktiven Arbeitsmarktpolitik in erster Linie aus den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen gedeckt. Die Finanzierung der familienpolitischen Leistungen erfolgt zum Großteil durch so genannte Dienstgeberbeiträge (als Prozentsatz der Lohnsumme), die Leistungen der Pensions- und Krankenversicherung in erster Linie durch Versichertenbeiträge, so genannte Arbeitnehmer- und Dienstgeberbeiträge. Seit der Einführung der Sozialversicherung im späten 19. Jahrhundert bildet die Lohnsumme die Basis für die Dienstgeberbeiträge. Es handelt sich dabei also um einen Lohnkostenbestandteil und nicht um eine zusätzliche Leistung der Unternehmen für die Beschäftigten. Der Bund trägt erst seit der Zweiten Republik maßgeblich zur Finanzierung der Pensionsversicherung bei. Es besteht diesbezüglich eine gesetzliche Verpflichtung.

Die Form der Finanzierung ist die des Umlageverfahrens: die laufenden Ausgaben einer Periode werden durch die laufenden Einnahmen aus derselben Periode gedeckt. Diese Einnahmen werden in erster Linie aus Beiträgen der Versicherten aufgebracht, die damit wieder Ansprüche auf eine zukünftige Altersversorgung erwerben. Die derart institutionalisierten Generationenverhältnisse werden meist mit dem Begriff „Generationenvertrag“ bezeichnet:

„Dieser fiktive Vertrag besteht darin, dass sich die erwerbstätige Generation zur Zahlung der Leistungen an die in Pension befindliche Generation verpflichtet unter der Annahme, dass sie selbst, wenn sie das Pensionsalter erreicht hat, von der dann erwerbstätigen Generation die Leistungen in gleicher Weise finanziert erhält …

Alle eingehenden Beiträge werden im Wesentlichen sofort wieder ausgegeben. Wie man sieht, kann dieses System nur funktionieren, wenn die erwerbstätige Generation in der Lage ist, die Pensionen für die Leistungsempfänger zu finanzieren. Offensichtlich ist diese Art der Finanzierung stark von der Altersstruktur der Bevölkerung abhängig …

Ändert sich die Altersstruktur in Richtung einer Überalterung der Bevölkerung, dann geht dies bei einer Finanzierung der Pensionsversicherung nach dem Umlageverfahren zu Lasten der Erwerbstätigen“ (Wolff 1989, 120).

Dieser „Generationenvertrag“ stellt einen Umverteilungszusammenhang zwischen dem überwiegenden Teil der erwerbstätigen und ehemals erwerbstätigen Personen dar. Gegenstand dieses Generationenverhältnisses (siehe Kaufmann 1997, 19 ff.) ist ein intergenerationaler Ausgleich. Ein intragenerationaler Ausgleich wird damit nicht bewirkt.

Der „Generationenvertrag“ fußt traditionell auf einem hohen Maß an Beschäftigung sowie auf der Akzeptanz der Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen für die Sozialleistungen durch Beiträge der versicherten Erwerbstätigen und ihrer Arbeitgeber, zum kleineren Teil auch durch Zuschüsse aus dem staatlichen Budget. Die Sicherung des Generationenzusammenhalts ist damit an Bedingungen geknüpft, die in den Nachkriegsjahrzehnten weitgehend gegeben waren.

Sozialstaat Österreich (1945–2020)

Подняться наверх