Читать книгу Sozialstaat Österreich (1945–2020) - Emmerich Tálos - Страница 11
1.4.2. Armenfürsorge – Sozialhilfe
ОглавлениеEbenso wie die Sozialversicherung und das Arbeitsrecht bewegte sich die Armenfürsorge nach 1945 in jenen Bahnen, die im ausgehenden 19. Jahrhundert grundgelegt wurden. Das Reichsheimatgesetz aus 1863, das in den nachfolgenden Landesgesetzen näher konkretisiert wurde, steckte die formalen und inhaltlichen Konturen der Armenfürsorgepolitik ab – nämlich die Einbettung in die Zuständigkeit der Länder und Gemeinden bei Orientierung am Subsidiaritäts- und Individualisierungsprinzip.
Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 traten an Stelle der österreichischen die deutschen fürsorgerechtlichen Vorschriften. Diese blieben nach 1945 bis zur Neugestaltung der einzelnen Rechtsgebiete als österreichische Rechtsvorschriften in vorläufiger Geltung. Bis 1948 nahm der Bund seine nach der Verfassung von 1920 vorgesehene Grundsatzkompetenz nicht wahr. Die reichsdeutschen Fürsorgevorschriften traten als Bundesgesetz außer Kraft und die Bundesländer erlangten wieder Gesetzgebungskompetenz. Diese wurde von den Bundesländern nach 1948 nur in der Weise genutzt, dass sie die reichsdeutschen Vorschriften als Landesgesetze übernahmen.
Seitens des zuständigen Innenministeriums wurden in den 1950er/ 1960er Jahren Entwürfe für ein „Fürsorgegrundgesetz“ vorgelegt, die auf Widerstand bei den Bundesländern stießen. Auch zwischen den Bundesländern gab es in wichtigen Punkten (wie Vereinheitlichung der Richtsätze, Verhältnis zwischen privaten und staatlichen Institutionen) keine Einigung. Letztlich verzichtete der Bund 1968 auf die Erlassung eines Bundesgrundsatzgesetzes über die öffentliche Fürsorge. Den Ländern wurde empfohlen, neue Ländergesetze ohne Rücksicht auf ein Bundesgrundsatzgesetz zu erlassen.
Seitens der Sozialhilfereferenten der Landesregierungen wurde nunmehr ein „Musterentwurf“ erarbeitet, ohne dass damit die unterschiedlichen Positionen in bestimmten Fragen beseitigt werden konnten. Die einzelnen Bundesländer verabschiedeten zwischen 1971 und 1976 ihre jeweiligen Landessozialhilfegesetze. Diese unterschieden sich teilweise hinsichtlich der organisatorischen Ausgestaltung, im Leistungskatalog, in der Finanzierungsverteilung (zwischen Land und Gemeinden) oder in Punkten wie der Regelung der Zumutbarkeit des eigenen Arbeitskräfteeinsatzes.
Die Landesgesetze gingen über den traditionellen Hilferahmen des Armenwesens hinaus und beinhalten drei Leistungsbereiche (siehe Dimmel 2003, 125 ff.): 1) Hilfe zur Sicherung des Lebensbedarfes (mit Rechtsanspruch) – mit Geld- bzw. Richtsatzleistungen, Hilfen für Wohnen, Krankenhilfe; 2) Hilfe in besonderen Lebenslagen (ohne Rechtsanspruch) – mit Hilfen zur Überbrückung außergewöhnlicher Notlagen, von Unglücksfällen, zur Schaffung und Adaptierung von Wohnraum; 3) Soziale Dienste (kein Rechtsanspruch) – mit Hauskrankenpflege, Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes, Familienbeihilfen und Beratungsdienste. Bereits im Fürsorgerecht vorhandene Leistungen wurden damit mit einem Rechtsanspruch ausgestattet: Für „Hilfen zur Sicherung des Lebensbedarfes“ wurde ein individueller Rechtsanspruch eingeräumt. Anderseits enthalten die Gesetze unterschiedliche Regelungen von Sanktionen im Fall der „Arbeitsunwilligkeit“. Deutlich wird der Unterschied zur Sozialversicherung an folgender Feststellung in den Landtagsdebatten: Es „müssen Grundwerte wie Hilfe zur Selbsthilfe, Eigenverantwortung und Subsidiarität wieder Bestimmungsfaktoren für eine tragfähige, auch mittel- und langfristig finanzierbare Sozialpolitik werden“ (Antalovsky u.a. 1988, 61).