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1.3. Das Profil des österreichischen Sozialstaates

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Das allgemeine Profil des österreichischen Sozialstaates nach 1945 ist im Wesentlichen von fünf Bereichen bestimmt:

– die soziale Sicherung mit ihren beiden „Netzen“ Sozialversicherung und Sozialhilfe,

– die Regelungen der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen (d.h. das Arbeitsrecht),

– die aktive Arbeitsmarktpolitik,

– der Komplex familienrelevanter Leistungen und

– die Versorgungssysteme.

In kompetenzrechtlicher Hinsicht gibt es eine Teilung zwischen Bund und Ländern. Ersterem kommt dabei traditionell allerdings ein merkbar größeres Gewicht zu – ablesbar an den Zuständigkeiten für die Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Pensionsversicherung, die Entschädigungssysteme sowie den überwiegenden Teil des Arbeitsrechts. Nur die Sozialhilfe fällt in die Kompetenz der Länder und Gemeinden. Der Bund hat diesbezüglich die Kompetenz zur Grundsatzgesetzgebung. Die familienrelevanten Leistungen werden in erster Linie vom Bund, daneben auch von den Ländern gewährleistet.

Die nähere Ausgestaltung des österreichischen Sozialstaates ist an folgenden Zielsetzungen und Prinzipien orientiert:

Zugang zum Leistungssystem sozialer Sicherung über Erwerbsarbeit und Ehe:

Die Einbindung in den Erwerbsarbeitsmarkt bzw. die Anbindung an eine Erwerbstätigkeit gilt seit den Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert als zentrale Voraussetzung für den Zugang zu Leistungen der Sozialversicherung. Das damit angepeilte Ziel ist es, Erwerbstätige gegen die mit dem Eintreten sozialer Risiken und Lebenslagen wie Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit verbundenen Konsequenzen, vor allem des Entfalls von Erwerbseinkommen, abzusichern. Durch die Anbindung an Erwerbsarbeit bleibt ein Teil der Bevölkerung von einer eigenständigen sozialen Sicherung ausgeschlossen: Frauen, die familiäre Arbeit leisten und nicht berufstätig sind, sind ebenso wie Kinder nur mittelbar als „Mitversicherte“ und „Hinterbliebene“ in die Sozialversicherung integriert. Dies bedeutet, dass der soziale Schutz nichterwerbstätiger Frauen sehr wesentlich von der Stabilität der Ehe abhing bzw. zum Teil heute noch immer abhängt. Zugleich sind andere Formen des Zusammenlebens im Hinblick auf die soziale Absicherung (z.B. in der Pensionsversicherung) mit der Ehe (noch) nicht insgesamt gleichgestellt. Nur in Teilbereichen sozialstaatlicher Leistungen (Familienbeihilfen, Gesundenuntersuchungen, Pflegegeld) wird die gesamte Wohnbevölkerung erfasst. Durch Möglichkeiten der freiwilligen Versicherung ist das System der Sozialversicherung teilweise für alle offen (de facto vor allem in der Krankenversicherung).

Äquivalenzprinzip und Lebensstandardsicherung:

Mit der Erwerbsarbeitsorientierung korreliert das Prinzip der Äquivalenzrelation zwischen der Höhe sowie Dauer der Beitragsleistung und der Höhe der Sozialleistungen. Dieses Prinzip dominiert bei Geldleistungen in der Krankenversicherung, beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe sowie bei Alterspensionen. Deren bestimmendes Ziel ist die materielle Statussicherung. Die Sozialversicherung als dominante Form sozialstaatlicher materieller Absicherung reproduziert dabei die Einkommensungleichheiten (siehe z. B. Wetzel 2003) und die unterschiedliche Dauer der Arbeitsbiografien von Erwerbstätigen – und damit insbesondere die geschlechterdifferierende ökonomische und soziale Ungleichheit. Die durchschnittlich ungleichen Versorgungsniveaus von Männern und Frauen sind Beispiel dafür. Ausgenommen hiervon sind im Wesentlichen nur Sachleistungen (z.B. medizinische Versorgung), die Familienbeihilfen sowie (seit 1993) das Pflegegeld. Daneben wurde auch das Karenzgeld, obwohl es sich dabei eigentlich um eine Versicherungsleistung handelte, pauschal ausgezahlt. Ungleiche Niveaus der finanziellen Sozialleistungen resultieren über die Einkommensungleichheit hinaus aus den für verschiedene Gruppen lange Zeit bestehenden unterschiedlichen Regelungen (siehe Steiner/Wörister 1990). Im Unterschied zu den skandinavischen Ländernhatte die Idee einer materiellen Grundsicherung in Form von Mindeststandards (Grundpension, Mindestleistungen, feste Grundbeträge) in Österreich für die Gestaltung der Sozialversicherung auch nach 1945 wenig Gewicht. Statussicherung zielte in der Pensionsversicherung auf Lebensstandardsicherung. Darüber hinaus gibt es innerhalb dieser ansatzweise eine Grundsicherung, die so genannte Ausgleichszulage, mit welcher sehr niedrige Pensionen, d.h. also bei Notlage, auf einen gewissen Richtsatz angehoben werden.

Berufsgruppenspezifische Fragmentierung:

Seit ihren Anfängen in der Monarchie variiert die soziale Sicherung nach Berufsgruppen. Dies war bzw. ist ablesbar an eigenen Sozialschutzsystemen und arbeitsrechtlichen Normierungen für Angestellte und Arbeiter (mit Sonderregelungen für den Bergbau), Landwirte, Selbständige und den öffentlichen Dienst. Damit gingen unterschiedliche Sozialleistungen, Schutzrechte und Finanzierungsmodi einher. Diese berufsgruppenbezogenen Unterschiede sind zwar im Laufe der Zeit verringert, aber nicht gänzlich eingeebnet worden.

Subsidiarität staatlicher Hilfe:

Staatliche Hilfeleistung im Falle individueller Notlage – organisiert im Rahmen der Fürsorge- bzw. Sozialhilfepolitik (siehe Pfeil 2000; Dimmel 2003) – sollte nur dann in Anspruch genommen werden können, wenn es für die Hilfesuchenden keine anderen Möglichkeiten der Sicherung des Unterhalts gibt. Anders gesagt: Sozialhilfe ist nachrangig gegenüber dem Einsatz der eigenen Arbeitskraft, eigenen oder familiären materiellen Ressourcen sowie bestehenden gesetzlichen Leistungsansprüchen. Die Berücksichtigung familiärer Ressourcen, hier vor allem des Partnereinkommens, führte unter anderem dazu, dass insbesondere Frauen – etwa bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und im Alter – in hohem Ausmaß auf den Unterhalt durch den Partner angewiesen sind.

Schutz der Lohnabhängigen im Arbeits- und Produktionsprozess:

Der traditionelle Schutzgedanke, der Schutz der unter kapitalistischen Produktions- und Arbeitsverhältnissen strukturell ökonomisch Schwächeren, ist im Lauf der Entwicklung der Sozialversicherung zunehmend von der Option staatlich geregelter Risikenvorsorge für alle Erwerbstätigen und ihre Familien überlagert worden. Dieser Schutzgedanke ist nach 1945 allerdings weiterhin eine der Grundlagen für die Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen.

Versorgungsprinzip:

Unabhängig von eigener Beitragsleistung und Erwerbsarbeitszeiten kommt dieses ursprünglich auf Staatsbürger beschränkte Prinzip bei Schädigungen in Zusammenhang mit einer staatlich auferlegten Pflicht (z.B. Präsenzdienst, Impfpflicht bzw. Impfempfehlung) oder staatlichen Versagens (z.B. Verbrechensopfer, Opfer von Gewalt in Heimen) zur Anwendung. Es findet sich in den Kriegsopfergesetzen, dem Heeresentschädigungsgesetz, dem Verbrechensopfergesetz, dem Impfschadengesetz und zuletzt dem Heimopferrentengesetz aus 2017.

Während die drei ersten Zielvorstellungen und Gestaltungsprinzipien dominant die Sozialversicherung, das Subsidiaritätsprinzip die Sozialhilfe und das Schutzprinzip den Komplex arbeitsrechtlicher Regelungen fundieren, prägt das Versorgungsprinzip die Palette der einzelnen Entschädigungssysteme.

Mit diesem Profil an Zielsetzungen und Gestaltungsprinzipien zählt der österreichische Sozialstaat, vor allem dessen System der Sozialversicherung und der Familienpolitik, zu den konservativen Wohlfahrtsstaatsregimen (siehe Esping-Andersen 1990; Manow 2019): Die Leistungen sind in erster Linie an Erwerbsarbeit gebunden, sie sind berufsgruppenspezifisch organisiert und differenziert gestaltet. Sie dienen im Wesentlichen dem Statuserhalt bzw. der Kompensation des Erwerbseinkommens im Fall des Eintretens der Risiken Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter.

Die Finanzierung der Leistungen des ASVG erfolgt überwiegend aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, in der Pensionsversicherung seit der Zweiten Republik auch aus staatlichen Zuschüssen. Subsidiär zu den Leistungen der Sozialversicherung steht die Sozialhilfe. Die traditionelle Familienkonstellation mit ihrer geschlechterdifferierenden Arbeitsteilung spiegelt sich in der mittelbaren Einbindung von Familienmitgliedern in Teile des Systems sozialer Sicherung.

Sozialstaat Österreich (1945–2020)

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