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1.7. „Goldenes Zeitalter“? Eine gemischte Bilanz

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Ein wichtiges Ergebnis des „Siegeszuges“ des Sozialstaates nach 1945 besteht unstrittig darin, dass – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Erwerbstätige und ihre Familien gegen wesentliche soziale Risiken, wie Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter, abgesichert sind. Die Abhängigkeit vom Markt bzw. von der Integration in den Arbeitsmarkt ist durch Transferleistungen wie Entgeltfortzahlung, Arbeitslosengeld oder Pensionen teilweise eingeschränkt. Die Dominanz der staatlich geregelten sozialen Sicherung im Alter im Vergleich zu anderen, betrieblichen und privat organisierten Formen lässt sich an deren Relation beim Pensionseinkommen zeigen: Ca.93% dieser Leistungen resultierten 1983 aus der gesetzlichen Pensionsversicherung und aus Beamtenpensionen, 4% aus freiwilligen Betriebspensionen und ca. 3% aus privater Eigenvorsorge wie Lebensversicherungen (siehe Busch u.a. 1986, 191). Der Sozialstaat kann das Entstehen von Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit meist nicht verhindern, er bietet allerdings durch Geld- und Sachleistungen Kompensationen für daraus resultierende Folgen. Sozialstaatliche Leistungen tragen damit wesentlich zur Reduktion des Verarmungsrisikos bei (siehe Förster/Heitzmann 2002).

Sozialstaatliche Maßnahmen verringern zudem die in unserer Gesellschaft am Erwerbsarbeitsmarkt strukturell bestehende Schieflage zwischen Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen, wie am Eingriff in die Beziehungen der Arbeitsmarktakteure und an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen ersichtlich ist. Die zeitliche Nutzung der Arbeitskraft ist durch Begrenzungen der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit eingeschränkt.

Um die gleiche Schieflage geht es bei Regelungen des Kündigungsschutzes oder der institutionalisierten Mitwirkungsmöglichkeiten der unselbständig Erwerbstätigen bzw. ihrer Vertretung in den Betrieben. Die mit Kindern verbundenen erhöhten materiellen und zeitlichen Aufwendungen sollten zum Teil durch einschlägige Infrastruktur-, Geld- und Sachleistungen kompensiert werden. Der Sozialstaat Österreich sichert nicht nur – wie im Fall der Arbeitslosigkeit oder des Alters – materiell ab, sondern fördert Arbeitsmarktzugänge. Insgesamt ist damit der Sozialstaat zu einem zentralen sozialen Gestaltungsfaktor geworden.

Bei allem Ausbau, bei aller Reichweite und hohem Niveau verschiedener Leistungen ist im Sozialstaat Österreich jedoch auch eine Reihe von Problemen strukturell angelegt. Diese waren in der Phase der Expansion noch weitgehend verdeckt: Die dominierende Anbindung an den Versichertenstatus durch Erwerbsarbeit bewirkt Ausgrenzung – nämlich all jener, die dieses Kriterium aus Gründen familiärer Arbeit, Behinderung oder Arbeitslosigkeit nicht realisieren bzw. realisieren können. Der Sozialstaat schließt analog dem Äquivalenzprinzip im Leistungssystem das Verarmungsrisiko nicht aus. Das Leistungssystem reproduziert – mit wenigen Einschränkungen – die am Erwerbsarbeitsmarkt bestehenden Einkommensungleichheiten. Die Schieflage zwischen den Geschlechtern wird damit wenig verändert, die ökonomische Abhängigkeit vieler Frauen von den durchwegs höheren Einkommen, auch sozialstaatlichen Transfereinkommen, ihrer Männer wird vielfach fortgeschrieben. Die Ungleichheit im Einkommen und in der Dauer der Integration in Erwerbsarbeit spiegelt sich in ungleichen Leistungen wider. Das heißt, dass der der Pensionsversicherung zugrunde liegende fiktive Generationenvertrag zwar zur Sicherung des sozialen Zusammenhaltes zwischen Erwerbstätigen und Nichtmehrerwerbstätigen beiträgt, die Ungleichheit der Leistungen in der Alterssicherung allerdings nur selektiv – nämlich bei Anspruch auf die Ausgleichszulage – abschwächt.

Die Finanzierung der Sozialversicherung stützt sich auf Beiträge in Form der Arbeitnehmer/innen- und Arbeitgeber/innenbeiträge sowie gesetzlich geregelter staatlicher Zuschüsse. Der Arbeitgeber/innenbeitrag basiert nur auf einem Indikator der betrieblichen Wertschöpfung, nämlich der Lohnsumme. Dieser im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierte Finanzierungsmodus verteuert Arbeit und schafft beträchtliche Ungleichheiten: hohe Belastungen für den personalintensiven Dienstleistungssektor, niedrige Kostenbelastung für hoch rationalisierte kapitalintensive Unternehmen. Diese Problematik wurde bereits im Jahr 1933 – vor dem Hintergrund der verheerenden Folgen der Massenarbeitslosigkeit für die Finanzierung der Sozialversicherung – vom damaligen Bundeskanzler Dollfuß angesprochen (zit. bei Berchtold 1967, 430 f.).2 Die durch den technologischen Fortschritt ermöglichten hohen Rationalisierungspotenziale im Industriebereich und die zeitgleich fortschreitende Tertiarisierung haben diese sektorspezifische Finanzierungsproblematik in den vergangenen Jahrzehnten weiter verstärkt.

Die Anbindung sozialstaatlicher Integration und Leistungen an Erwerbsarbeit bedeutete die Anbindung an eine spezifische Ausprägung der Erwerbsarbeit, die im Begriff des „Normalarbeitsverhältnisses“ gefasst wird. Darunter wird jener Typus von Beschäftigungsverhältnissen verstanden, der durch abhängige, vollzeitige und dauerhafte Beschäftigung mit geregelter Normalarbeitszeit, mit kontinuierlichem Entgelt und sozialstaatlichen Sicherungs- und Schutzgarantien gekennzeichnet ist. Dieser bildet nicht nur die Basis für die Sicherung der materiellen Teilhabechancen der derart Beschäftigten (und vielfach ihren Familien), sondern stellte und stellt für die sozialstaatlichen Regelungen in vielen Ländern, wie auch in Österreich, den dominanten Bezugspunkt dar. Die wesentlichen sozialstaatlichen Schutznormen und Leistungen sind in erster Linie daran orientiert. Dass dieses Arrangement „ewig hält“, daran hegten bereits die politischen Entscheidungsträger bei der Verabschiedung des ASVG im Jahr 1955 Zweifel:

„Die Feststellungen über den neuen Rentenaufbau sollen nun nicht etwa die Tatsache bestreiten, dass auch in Österreich früher oder später eine echte und grundlegende Sozialreform durchgeführt werden muss. Die österreichische Sozialversicherung, die in ihren Grundzügen der so genannten klassischen Sozialversicherung, wie sie in Deutschland ausgebildet wurde, entspricht, blickt immerhin auf ein Alter von nahezu 70 Jahren zurück. Wenn man bedenkt, welche gewaltigen Änderungen in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und demografischen Verhältnissen eingetreten sind, so drängt sich von selbst der Gedanke auf, dass es notwendig wird zu prüfen, in wie weit Sozialversicherung in den überkommenen Formen geeignet ist, der Forderung nach umfassender sozialer Sicherung der Gesamtbevölkerung bestmöglich zu dienen. Nach allgemeiner Auffassung des Ausschusses ist eine umgehende Untersuchung dieser Frage umgehend erforderlich…“ (613 d. B., Sten. Prot. d. NR, VII. GP, 2 f.).

Die dafür Verantwortlichen gingen allerdings keineswegs unverzüglich ans Werk. Das ASVG und seine zahlreichen Novellierungen hielten sich weitgehend im traditionellen Rahmen. Nicht ohne wesentliche Veränderungen verlief allerdings die Entwicklung am Erwerbsarbeitsmarkt: neben dem „Normalarbeitsverhältnis“ finden davon abweichende Beschäftigungsformen in Österreich seit den 1980er Jahren Verbreitung – mit merkbaren Konsequenzen für die soziale Sicherung der derart Beschäftigten.

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1 Exemplarisch dafür ist die ablehnende Position der Vereinigung Österreichischer Industrieller in den 1950er Jahren (siehe Tálos 1982, 348).

2 In den 1980er Jahren wurde eine Änderung des Finanzierungsmodus vom damaligen Sozialminister Dallinger unter dem Begriff „Wertschöpfungsabgabe“ ventiliert.

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