Читать книгу Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1 - Enno Woelbing - Страница 8

Kapitel 5

Оглавление

Kapitel 5

Als sie zu Hause waren, lag das alles so weit zurück. Es gab Neuigkeiten. Aber so neu schienen die nicht zu sein. Eine Angestellte hatte eine größere Summe Geld in einem der Geschäfte veruntreut. Chris regelte das auf seine Weise, so drückte er es aus, und überprüfte zuerst ihr soziales Umfeld. Die junge Frau behielt ihren Job.

Timo hatte sich längere Zeit nicht sehen lassen bei den Mellins. Er wunderte sich, dass keine Einladung mehr von ihnen kam. Dann ging er einfach hin. Linda wollte nicht mit. „Gut, dass du kommst. Linda war schon hier, sie ist öfter hier.“

Cindy verließ das Zimmer.

Timo knurrte: Wieso öfter hier? Sie sagt, sie hätte euch schon länger nicht gesehen.“

„Erzähl ‚ mir von Linda!“

Chris sah freundlich lächelnd auf ihn herab. Er stand am Kamin, und Timo saß im Sessel, die Beine weit von sich gestreckt. „Erzähle, es hört niemand. Eine Ehe steht auf schwachen Beinen, erinnerst du dich? Macht nichts, erzähle.“

Vielleicht war es gut, es herauszulassen. Er erzählte von der schrecklichen Eifersucht seiner Frau, ihren depressiven und aggressiven Stimmungszuständen, deren Wechsel sich in rasender Geschwindigkeit vollzogen und das gemeinsame Zusammenleben oft unerträglich machten. „Am schlimmsten ist diese verdammte, völlig unbegründete Eifersucht auf alles: auf meine Verwandten in Ostdeutschland, auf meine Freunde, meine Arbeit, meine Hobbys Angeln und Schreiben, sogar auf den alten Staubsauer aus meiner anderen Ehe, meine Kinder aus dieser, auf alles, was vor ihr gewesen ist, was jetzt ist und sogar was noch sein wird und sogar, wenn ich meiner kleinen Tochter etwas vorsinge. Verflucht noch mal, außerdem fange ich an zu vergreisen, und ich bin doch erst sechzig Jahre alt. Sie hat zu nichts Lust. Dabei bleibt die Freude auf der Strecke. Meine einzige Freude ist Lis.“ Timo schnappte nach Luft. Dann lächelte er bei dem Gedanken an seine kleine Tochter. Chris stand immer noch.

„Das ist alles nicht neu. Sie will weg von dir.“ Timo sah ihn ungläubig an, doch der Freund sprach schon weiter.

„Sie ist ja oft genug hier. Spreche mit ihr.“

„Ich werde sie fragen.“

Als Timo nach Hause kam, seine kleine Lis ihm fröhlich entgegenkam und Linda ihn freundlich, fast zärtlich begrüßte, fragte er nichts mehr. Und weil er meinte, dass die Gelegenheit günstig war, fasste er sie später im Schlafzimmer von hinten kräftig zwischen die Beine, ganz weit oben, so dass sie erschreckt einen Satz nach vorne machte wie von einer Biene oder Wespe gestochen, von philippinischen, die kannte sie nämlich. Schließlich gab sie seinem fortgesetzten Werben – er konnte es auch noch anders – nach. Hinterher kam Timo sich vor, als wenn er sich vor sich selbst verstecken würde. Er suchte nach einem Fehler, irgendeinen hatte er gemacht, und er wehrte sich gegen seine eigenen Gedanken. Vergebens, einer kam durch. Und das gleiche Gefühl, als sei es erst jetzt geschehen, als er vor einer Reihe von Jahren zu seiner anderen Ehefrau gesagt hatte: „Wir können machen was wir wollen, wir schaffen es nicht, das Ende unserer Ehe kommt so oder so“, tauchte in ihm auf.

„So oder so“, hatte er gesagt.

Und versucht sie zu töten, zu erwürgen im Vollrausch. Es wäre fast gelungen, sie kam schwerverletzt davon. Nur einige wenige wussten es. Seit diesem Tag hatte Timo keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken, bis heute nicht, und das sollte so bleiben. Er besuchte seit Jahren Selbsthilfegruppen und gab seine Erfahrungen an andere weiter. Seine Ehe bestand nach der schrecklichen Tat noch vier Jahre, voller Qual und Quälerei, so oder so – und endete dann für Timo katastrophal. Eine Wiederholung war für Timo undenkbar.

Er betrachtete Lindas Gesicht neben sich im Bett. Sie schlief schon. Ihr Atem ging ganz ruhig, und sie sah ganz ruhig aus. Timo schüttelte sich, so als ob ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief; wenigstens wenn sie schlief, war sie ruhig. Sie würde nie so schön sein wie ihre Tochter, die alle Tribute der Schönheit bekommen zu haben schien. Sie war Eurasierin im nahezu klassischen Dasein. Ihre Mutter galt in ihrer Heimat als hässlich, sie entsprach in keiner Weise dem dortigen Schönheitsideal. Timo hatte es bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch bei ihrer Familie im Süden des großen Inselstaates erlebt und erstaunt zur Kenntnis genommen. Zuletzt hatte er ungehalten auf die sich ständig wiederholende Frage, warum er eine so hässliche Frau geheiratet hätte, reagiert. Sogar der Standesbeamte, der ihre Heirat nach philippinischem Recht vollzog, hatte es gefragt und sein bebrilltes Haupt vornehm und, wie es schien, etwas vorwurfsvoll hin und her bewegt. Aber gelacht hatten sie trotzdem ständig seinetwegen – auch deswegen – wegen nicht vorhandener Schönheit. Für ihn war sie eine gut aussehende Frau. Seine Freunde und Verwandten meinten das auch. Chris nicht. Er meinte sogar, sie sei hinterlistig und falsch.

Sie waren beide beliebt, sehr sogar. Linda wegen ihrer Hilfsbereitschaft, und das vor allem bei Timos schon erwachsenen Kindern und bei seinen Verwandten im anderen Teil des getrennten Deutschlands. Timo mochten sie – am meisten die asiatischen Frauen, weil er ihnen oft frische Fische schenkte, er war ein prädestinierter Angler – und weil er schon fast ein leidenschaftlicher Genießer ihrer Kochkünste war. Bei allen Einladungen aß er zu ihrer Freude am meisten und ab irgendwann hieß es: „Schnell, Timo kommt, seht zu, dass ihr noch genug abkriegt.“ Aber das war nicht böse gemeint. Etwas belächelt wurde er schon, nicht nur von den Asiatinnen, allgemein galt er als ein etwas verschrobener Zeitgenosse, der nicht rauchte und trank und an irgendeinem Buch schrieb. Außerdem war er über zwanzig Jahre älter als seine Frau. Schreiben, das konnte man sagen, war seine Passion.

„Warum schreibst du nicht von mir?“ fragte Chris ihn.

„Von dir?“

„Ja, von mir.“

„Da gibt es doch nicht viel zu schreiben.“

Der lange Lulatsch lächelte über seine randlose Brille hinweg, seine Augen bekamen ihren besonderen Glanz.

„Warte nur ab. Ich habe noch Pläne.“

Die hatte seine Frau auch. Für sie war das nächste Jahr wichtig.

„Ich kann mir diese Einstellung leisten“, dachte sie und dachte dabei auch an die Menschen in ihrem Land. Sie gehörte nicht dazu und die meisten ihrer Familie auch nicht – zu den Armen. Für diese war nur ein Tag wichtig – heute – satt sein.

Sie fröstelte bei diesem Gedanken, sie war reich, wohlhabend, und sie hatte kein schlechtes Gewissen dabei.

Brauchte sie auch nicht.

Sie arbeitete oft Tag und Nacht. Ihr Einkommen sicherte einen Teil ihrer Familie in ihrer Heimat die Existenz und die Ausbildung der Kinder. Für das nächste Jahr plante sie bereits eine Reise mit Chris, auch im Winter, in östliche Richtung dieses Mal, nach Asien und ebenfalls, um einen möglichen Kulturschock für ihn zu verhindern. Danach meinte sie, wäre er fähig dazu, mit ihr in ihre Heimat zu reisen, das alte Haus mit der alten Bäckerei am Rande von Reisfeldern und dem schlechten Weg dorthin, zu besuchen.

In ihrem Haus hier trafen sich immer öfter Freunde und Bekannte aus den besseren Kreisen der Stadt, für Cindy gewohnt, Chris hatte diesen Umgang seit dem Beginn seiner wilden, bewegten Jugend nicht mehr gepflegt. Er hatte ihn auch nicht vermisst, begann sich aber zunehmend darin zu sonnen und sich sicher darin zu bewegen. Schließlich gehörte seine gesamte Familie und deren Verwandtschaft zu eben diesen Kreisen. Geschäftsleute, Ärzte und Anwälte „und so weiter“, pflegte er zu sagen.

„Stelle dein Leben nicht in den Dienst eines anderen.“

Einer der abendlichen Gäste sagte es. Chris hörte es, aber weil es nicht zu ihm gesagt wurde, interessierten ihn die Worte nicht.

„Jeder sein eigenes, sonst funktioniert es nicht.“

Auch diese Worte interessierten ihn nicht. Es war ein französischer Arzt, ein Berufskollege, der es zu Cindy sagte und mit dem sie ein längeres Gespräch geführt hatte. Ihrer beiden Augen begleiteten Chris, dem Mittelpunkt des Abends – ungewollt – sein natürlicher Charme und sein selbstverständliches Selbstbewusstsein machten ihn dazu. Der größte war er sowieso, aber er war der einzige ohne Abendanzug. Dann platzte zur vorgerückten Stunde, angetrunken und die Haare quer vom Kopf, Tittenmolly in die vornehme Gesellschaft. Sie weinte und verlangte nach Beistand: „nach seelischem Beistand“, schluchzte sie. Sie rannte weinend wieder auf die Straße, nachdem sie die vielen Abendgarderoben gesehen hatte, aber Chris fing die laufende Molly wieder ein, legte seinen langen Arm um sie, brachte sie zurück ins Haus und hörte ihr zu. Sie stank wie eine verstopfte Bierleitung, ihre Kleidung war unordentlich und dreckig. Sie brauchte seelischen Beistand.

Ein Neger war gestorben. Er hatte einfach tot in seiner kleinen Wohnung gelegen. Er war der Vater ihrer Tochter, nein, nicht unehelich, sie – Molly – war mit einem deutschen Mann verheiratet gewesen. Der hatte das hübsche Mädchen nach der Scheidung behalten und erzogen, eine junge Dame inzwischen, nach der sich die Männer umdrehten. Molly hatte seinerzeit vergeblich eine vollzogene Vergewaltigung geltend machen wollen. Ihr Mann wollte sie nicht mehr, wohl aber das Kind. Jetzt weinte Molly um dessen Vater. Es war wohl doch keine Vergewaltigung gewesen – seinerzeit.

„War es auch nicht, war es auch nicht, aber das braucht niemand zu wissen.“

Sie weinte, und er ließ sie weinen, etwas mehr oder weniger beäugt von seinen Gästen. Von Cindy nicht. Die machte sich gerade Gedanken darüber, wozu ihr Mann die Kondome mit Himbeergeschmack brauchte, welche sie in seiner Tasche entdeckt hatte. Für Molly jedenfalls nicht, denn er lehnte die angebotene Belohnung für seinen seelischen Beistand – „von hinten und vorne“ – lachend ab. Trotzdem begleitete er sie das kurze Stück zu ihrer Wohnung. Einer seiner Gäste begleitete ihn auf seine Bitte hin mit.

„Man kann nie wissen“, sagte er.

Im Großen und Ganzen betrachtet, brachte ihm diese Begebenheit, ein größeres Ereignis war es ja nicht, Zustimmung vom beifälligen Gemurmel bis hin zu wohltuendem Lob ein. Eine Begebenheit wurde dann zu einem größeren Ereignis.

Es fand an einem der letzten philippinischen Grillabende des Jahres im Garten und im größeren Kreise von deutsch-philippinischen Ehepaaren mit ihren Kindern statt. Da war einer, der war ziemlich wohlhabend, ein etwas älterer Kerl wie ein Baum, nach allen Seiten hin und mit dem größten Auto deutscher Fabrikation. Er war in allen Restaurants bekannt wegen seines gehobenen Anspruchs betreffs der angebotenen Speisen und Getränke und ging täglich essen. Allein. Aber er galt als guter Gesellschafter.

Gut, seine Ehefrau würde nie unter Gewichtsproblemen im Sinne von zu viel zu leiden haben, dafür war sie einfach nicht der Typ. Sie litt unter dem zu wenig, denn sie war klapperdürr – genauso wie ihre zehnjährige Tochter mit den traurigen schwarzen Augen in ihrem kleinen spitzen Gesicht und den langen, schwarzen Haaren. Es war ein offenes Geheimnis: Sie bekamen beide zuwenig zu essen, viel zuwenig. Der Kerl war geizig. Für seinen Hund gab er mehr Geld aus als für die beiden zusammen. Selbst für philippinische Verhältnisse war das Haushaltsgeld, das seine Frau bekam, äußerst bescheiden. Sie aßen sich bei anderen Leuten durch und klagten nicht. Trotzdem wussten es viele, und sie freuten sich und lachten darüber, dass der fette Hund ihn einmal in die Hand gebissen hatte. Heute lachte niemand.

Der Hund und er langten ordentlich zu, mitgebracht hatten sie nichts, und die Peinlichkeit ihres Verhaltens nahmen sie nicht wahr. Er redete, sogar noch mit vollem Mund, und bot seiner Frau und Tochter von den vorzüglichen Speisen an. Speisen aus ihrer Heimat. Alleine ihr unvergleichlicher, wenn auch undefinierbarer Geruch verführte zum Verzehr. Als beide dankend ablehnten – sie wären noch satt – bat Chris um ein Gespräch mit dem Vielfraß, dem Zweibeinigen.

„Gerne, was kann ich für dich tun?“

„Komm’!“

Chris war merkwürdig grau im Gesicht, soweit es nicht vom fein gestutzten und gepuderten Bart verdeckt wurde. Eine steile Falte auf seiner Stirn versuchte durch das Lächeln zu dringen.

„Komm’!“

Er zeigte hinter sich. Und hinter der Hausecke trat er dem anderen mehrmals kräftig in die breite Kehrseite und dann zwischen die Beine von vorne.

„An dir mache ich meine Hände nicht dreckig. Aber zwinge mich nicht, sie zu gebrauchen. Ich weiß, dass du in den rosaroten Kneipen verkehrst. Ich versichere dir: Meine Erfahrungen in diesen sind größer als deine. Versuche erst gar nichts.“

Der andere rief nur nach seinem Hund, und der leckte Chris die Hände, erst die eine, dann die andere. Der Rest des Abends fand ohne den Hund und seinen Herrn statt. Sie gingen. Die hungrige Frau mit ihrem gemeinsamen Kind folgte ihnen. Und Chris lächelte und ihnen mit seinen hellen, grauen Augen über den Rand seiner Brille nach.

Mitten in die Vorbereitungen zur Reise in die östliche Richtung platzte die Nachricht von dem Verschwinden des Mädchens – des ewig hungrigen Mädchens, das so fürchterlich dünn war. Nach einem Tag seit Beginn des Verschwindens beteiligten sich viele Nachbarn, Bekannte und Einwohner der Stadt an der Suche. Der schon langsam beginnende Winter hatte die letzte Wärme des Herbstes schon verdrängt. Die Angst vor einer möglichen Entführung und Missbrauch ging um. Auffällig oft wurde der eigene Vater befragt, später sogar verhört. Der Verdacht einer pädophilen Neigung bestätigte sich nicht, aber ein deutlicher Mangel an Angst um das Kind und an Mitgefühl für seine Frau war nicht zu übersehen und wurde auch von den ermittelnden Polizeibeamten verständnislos bemerkt. Es war irgendwie kurios: Der Vater fiel auf durch seine befremdende Teilnahmslosigkeit und die Mutter durch wiederholtes groteskes Lachen, welches ihre Angst und Angespanntheit sichtbar machte, für viele unverständlich.

Chris beteiligte sich mit vielen anderen und zuletzt übermüdeten Leuten an dieser entsetzlichen Suche rund um die Stadt, in Gräben, Gebüschen und Wäldern. Er hatte sich von seiner geschäftlichen Arbeit ein paar Tage frei genommen und trug in der Tasche eine Tafel Schokolade bei sich, Schokolade gegen Hunger – nicht seinen, er kannte keinen Hunger – dem des Mädchens, das er zu finden hoffte.

Endlich wurde es gefunden, unversehrt, aber weit von ihrem Zuhause, welchem es zu entfliehen versucht hatte, entfernt. Es war auf der Straße völlig entkräftet und unterkühlt am dritten Tag seiner Flucht zusammengebrochen liegen geblieben und aufgefunden worden.

Chris brachte die Schokolade ins Krankenhaus, streichelte das Mädchen, das ihn mit großen, dunklen Augen ansah und nichts sagte – auch nichts, als der große Mann seine grauen Augen strahlen ließ. Ihr Kopf mit dem kleinen, spitzen Gesicht, umrahmt vom schwarzen Haar, verschwand fast im weißen duftenden Kissen ihres Bettes und fand Schutz darin und Wärme.

Das Mädchen kam nicht wieder in die Obhut ihrer Eltern – zuerst in ein Heim, dann zu guten Pflegeeltern – und Cindy war stolz auf ihren Mann. Sie beobachtete ihn, wie er vor dem Spiegel stand, sich betrachtete und zulächelte. Ja, er war schön, ihr großer Junge, schön wie der Hirtenjunge aus der griechischen Mythologie.

„Chris, worauf freust du dich? Auf unsere Reise?“

Cindy freute sich darauf, sie würde ihn behutsam näher an ihre Heimat heranbringen. Seine Antwort verblüffte sie, denn sie stand in keinem Zusammenhang mit ihrer Frage. Er drehte sich nicht weg von seinem eigenen Spiegelbild.

„Das ist kein Kabinettstückchen. Was glaubst du? Wird sie, wenn sie satt wird, auch lachen können? Du bist doch Kinderärztin, Herzi.“

Ihre Freude, die eben noch so schön gewesen war – dahin – im Strom des Nichtverstehens.

„Sie muss Hilfe bekommen, zum Glück ist sie nicht missbraucht worden. Ich glaube, ihr fehlt Liebe.“

Und Cindy dachte bei sich: Mein Gott, öfter glaube ich, sie fehlt mir auch.

Die Kluft zwischen ihrer beider Berufe war groß. Chris hatte einmal sogar von einer geistigen Unebenheit gesprochen. Ihr Intellekt, auf ihren täglichen Umgang und auf ihre Arbeit bezogen, war grundverschieden von dem des anderen. Es schien ihr, dass diese Kluft durch Intelligenz nicht oder nur schwer zu überbrücken war. Heilen und verkaufen, welch ein Gegensatz. Sie lebte lange genug hier, sie konnte mit beiden Kulturkreisen umgehen, den des Westens und dem des Ostens. Bei diesem Mann war sie oftmals überfordert. Das hatte nichts mit ihrem Denken als Frau zu tun, da war sie sich sicher. Sie kannte sich genau, ihren Körper, ihren Geist und hatte großen Einblick in ihre Psyche. Ihre Seele hatte Hunger. Ihr Körper war schön, und ihr Geist war sauber. Sie wusste es genau: Das Überfordertsein war eine eigenartige Form von Hilflosigkeit, die ihr in Bezug auf Männer nicht gänzlich unbekannt war, von der sie aber angenommen und gehofft hatte, dass sie nicht mehr vorhanden sei. Dieser Gedanke machte sie jetzt unsicher – ein Schwebezustand wie auf einer Schaukel, mal hinten, mal vorn, aber ihre Midlife-Krise hatte noch nicht begonnen.

Dann erlebte ihr Chris eine Überforderung; Cindy entdeckte zum ersten Male eine Unsicherheit bei ihm und freute sich darüber. Sie sollte noch später oft darüber lachen.

Es war eins der wenigen Male, das sie zusammen in einem Zug fuhren, erster Klasse, extra für Chris. Die einfache Klasse wäre besser gewesen. So gerieten sie in ihrem Abteil mit ihrer Hündin Nina an eine kleine, weißhaarige und, weil sie schon sehr alt war, äußerst zerknitterte Dame. Alles an ihr war zerknittert: ihr grüner Rock, ihre blaue Jacke, die weiße Bluse darunter, ihre Hände und ihr Gesicht, sogar der kleine Mund mit den schmalen, etwas zu rot geschminkten Lippen. Doch das war nur äußerlich so. Ihr Haar war nicht zerknittert. Es umgab den Kopf wie ein weißer Helm. Eine einzige Strähne versuchte von der Stirne aus in die Höhe zu gelangen wie eine kleine Antenne. Ob es nun diese Antenne war oder das kleine schnuppernde Näschen, auch schon reichlich zerknittert – die Dame witterte einen Arzt und duldete keine Widerrede, als sie ihn in Chris vermutete. Und dann legte sie los. Es gab keinen Grund, ihr Einhalt zu gebieten.

Sie war Krankenschwester gewesen im zweiten Weltkrieg, vom ersten Tag an, gleich hinter der Front, zuerst in Frankreich und dann in Russland. Ihre Augen sprühten, es funkte und blitzte in ihnen – wie an der Front, dachte Chris und lächelte charmant. Die Augen waren jung geblieben, ihr Verstand und ihr Gedächtnis auch. Nach mehreren amputierten Gliedmaßen, versorgten Bauch- und Kopfschüssen, nicht mehr behandelbaren zerfetzten Geschlechtsteilen unter der Leitung von Herrn Sanitätsrat soundso – sie wusste Orte und zum Teil die Daten noch – verlegte sie ohne erkennbare Vorbereitung und ziemlich ordinär ihre Fronterfahrung auf eine Randerscheinung bei der Behandlung der verletzten Soldaten. Sie ließ die Worte an Herrn Doktor Mellin mit wippender Haarantenne hervorsprudeln aus ihrem kleinen zerknitterten Mund und duldete keine abwehrende Geste des ihr gegenüber sitzenden vermeintlichen, zuerst amüsierten, danach fassungslosen Doktors.

„Die meisten hatten Hämorrhoiden, sage ich Ihnen, so groß und noch größer. So!“

Sie machte eine Bewegung mit ihrem faltigen Daumen und ebensolchem Zeigefinger.

„Die schnitten wir gleich mit ab und dachten uns oftmals unser Teil, weil da oftmals noch mehr Großes war. Bis eines Tages der Herr Obersanitätsrat soundso ordinär rief: ‚Schwester nun gucken Sie sich das an: Noch so jung und schon so ein großes und ausgeleiertes Arschloch!’ Das ließen wir so, aber ein Bein amputierten wir.“

Die alte Frontlazarettschwester holte neue Luft in ihre schmale Brust und sprach ihr Gegenüber direkt an. Nina lag vor ihr auf dem Boden und schlief.

„Was hätten Sie gemacht, Herr Doktor? Einmal ausgeleiert – immer ausgeleiert. Der Herr Obersanitätsrat wusste Bescheid. Und Sie wissen es auch, Sie wollen es nur nicht zugeben.“

Ihre Augen sprühten ihn an.

Chris erhob sich, zu einer leichten Verneigung reichte es noch, dann verließ er das Abteil und kam nicht zurück. Die verschlafene Nina zog er an der Leine hinter sich her. Cindy lachte in sich hinein und sah ihre Berufskollegin fast zärtlich an.

„Aber es stimmt doch, er war wirklich noch ganz jung und hatte ein so großes und …“ Sie verstummte, sah sich ihres verständigen Gesprächspartners beraubt und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Sie bedeckte sich mit ihrem aufgehängten roten Mantel und verschwand hinter ihn in seinen Schutz. Der Mantel war genau wie ihr weißes Haar mit der kleinen nach oben strebenden Strähne – auch nicht zerknittert.

Als Cindy das Abteil verließ, schien die kleine alte Dame, die so viel erlebt und gesehen hatte, zu schlafen. Und das hatte sie sich auch redlich verdient. In ihren Armen waren mehr junge Männer gestorben als ein Pfarrer in seiner Amtszeit insgesamt zu Grabe trug. Sie hatte jahrelang in jeder Minute ihres Lebens die Finsternis des Elends und der Schmerzen erlebt und doch immer einen Schimmer von Licht gefunden, der sie aufrecht erhalten hatte. So wie eben, oder auch anders.

Und genau in diese Stimmung hinein platzte der Fund, den Cindy machte. Sie fand, als sie sein Gepäck vervollständigte, verschiedene Heilpräparate, Gewürze und einige Stimulanzien, die sie als Ärztin entsetzt und schlichtweg als Drogen einordnete. Ihre Kenntnis hierüber war umfangreich und ihr viele Male bei ihrer Arbeit von Nutzen gewesen.

„Sind das die Illusionen, die du verkaufst? Wenn das bekannt wird, gibt es einen Skandal. Und ich bin Ärztin, die Menschen helfen soll.“

Ihr schönes Gesicht war grau. Chris blieb ganz ruhig. Er sah sie über seine Brille an.

„Diese Situation spricht gegen mich, aber wir sollten von der Wahrheit doch genug übrig lassen. Ich verkaufe nichts davon und benutze es selbst schon lange nicht mehr. Das tun nur Leute, die sich für besonders intelligent halten, oder sie trinken, ich meine: saufen. Ich bin intelligent.“

Er lächelte.

„Hörst du, Cindy. Ich – bin – intelligent!“

Sie spülte alles durch die Toilette, es wollte nicht gleich weg, sie musste mehrmals spülen. Später, als er mit Nina vom abendlichen Spaziergang zurückkehrte und auch ins Bett ging, sagte er zu der noch nicht schlafenden Cindy zwei Sätze, mit denen sie nichts anfangen konnte und nur halbwegs zur Kenntnis nahm.

„Du kennst nicht die Angst und Schmerzen vieler Deutschen, die entsteht, wenn der Winter sein Kommen ankündigt.“

Das war der eine Satz. Der andere Lautete:

„Kannst du nicht auch verkaufen?“

Am nächsten Tag flogen sie nach Thailand, dem hinterindischen Königreich.

Als sie zurückkamen, waren sie in der Vorbereitung auf die erste gemeinsame Reise in ihre Heimat weiter entfernt als je zuvor. Cindy überlegte und dachte nach. Ihr Verstand unterlag ihrem Gefühl – sie trennte sich nicht von ihrem Mann. Der war wieder nicht zum Tauchen gekommen in dem schönen fernöstlichen Land, und sie hatte ihn von einem Tempel in den anderen geschleppt, indem sie alle kulturellen Angebote ihres luxuriösen Hotels wahrnahm. Die einheimische Frauenwelt interessierte ihn zu sehr, umgekehrt war es genauso gewesen. Sie hatte alle Anstrengungen unternommen und war kaum zum richtigen Schlafen gekommen, doch es war ihr gelungen, sämtliche Kontakte zur Bevölkerung zu verhindern. Ihr hatte es noch einige gute Trinkgelder gekostet und ihm die Freude an dieser Reise.

Die Disharmonie zwischen ihnen blieb ihrem großen Freundes- und Bekanntenkreis nicht verborgen. Cindy weinte oft, und Chris sprach von einer momentan instabilen Situation. Seltsamerweise waren es nur der französische Arzt und Timo, die ihre Hilfe anboten, vorsichtig, aber doch deutlich und mit wohlüberlegten Worten. Genauso deutlich, ob wohlüberlegt oder nicht, sagte Chris jedem der beiden dasselbe.

„Ich kann keinen Tempel und keinen Buddha mehr sehen. Eine Venusstatue wäre mir lieber, aber in ihrem eigenen Land.“

Timo, aber auch der Arzt fragten sich, ob er damit das Land der Göttin oder das Land seiner Frau gemeint hatte.

Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1

Подняться наверх