Читать книгу Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1 - Enno Woelbing - Страница 9

Kapitel 6

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Kapitel 6

Den typischen nasskalten Winter und den größten Teil des folgenden Frühjahrs, das schon mit beginnender Wärme und Helle anfing, für die vergangenen Monate zu entschädigen, verbrachten sie viel gemeinsam, Chris und Cindy. Sie sahen glücklich und zufrieden aus und scheinbar passte alles zusammen.

Wer glücklich ist, dem sieht man es an. Es gibt Menschen, die ihrem Glück ständig oder auch nur zeitweise hinterherlaufen und es nicht zu greifen bekommen. Es sah aus, als wären sie der instabilen Situation, von der Chris gesprochen hatte, entronnen und würden den jetzigen Zustand genießen. Der große Mann und seine kleine Frau strahlten. Aber Cindy fühlte sich nicht wohl. Doch am Gerüchtemarkt innerhalb des Freundeskreises wurden sie nicht mehr gehandelt. Zu seiner Familie bestand ohnehin kaum ein Kontakt.

Cindy hatte einen Wunsch, einen geheimen Wunsch und das schon längere Zeit. Nina lag zu ihren Füßen, als sie freudig durchs Fenster das Zaunkönigpärchen im Garten entdeckte – beim flatternden Liebesspiel, hören konnte sie nichts. Nur Nina wackelte ein paar Mal mit ihren Ohren und hob lauschend ihren Kopf. Sie drehte sich auf den Rücken, als ihre Herrin sie streichelte und kraulte.

„Nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung. Ich habe mir schon jetzt alle meine Wünsche erfüllt, allein. Für diesen Wunsch brauche ich ihn, den kann nur er mir erfüllen. Hörst du, Nina, ich brauche ihn, und wenn ich nicht bald wieder einmal anständig, so nach allen Regeln dieser Kunst, und möglichst eine ganze Nacht …“

Sie schloss die Augen und atmete tief die Luft in sich hinein, tief, ganz tief.

Nina knurrte voller Wohlbehagen, und der Zaunkönig flatterte immer noch auf seiner Königin herum – im Garten, an der Mauer im Gebüsch. Schließlich war sie Ärztin, und Liebe geht durch den Magen. Dieser Spruch hat überall Gültigkeit. Es gelang ihr nach wenigen Tagen, ihm ihre Gefühle aufzuzwingen, eine Vergewaltigung war es nicht gewesen, und nach einem berauschenden Finale – es standen auch ein paar leere Sektflaschen neben dem Bett – hatte sie sich einen Wunsch erfüllt, ihm nicht. Sie schlief, selig und zufrieden lächelnd mit geröteten Wangen, und die grauen Augen sahen auf sie herab – gleichgültig, und irgendwie war das für Chris unangenehm – wie eine vorübergehende Begeisterung. Er würde nicht über sie nachdenken, auch nicht über seine Empfindungen.

Cindy hielt in der schon wärmenden Sonne im Garten Ausschau nach dem Zaunkönig und seiner Königin. Sie waren nicht da. Sie reckte sich und freute sich an der Wärme der Sonne, die sie mit ihren Strahlen umwerben wollte und das ihr entgegengehaltene Gesicht streichelte. Das hatte gut getan, sie seufzte. Etwas fehlte, nicht nur das Königspaar, und die Strahlen der Sonne waren nicht mehr so warm.

Gut, sie war nicht mehr die Jüngste, aber es machte immer noch Spaß, umworben zu werden – in jeder Beziehung – das hatte gefehlt.

Es war Tittenmolly, seltsamerweise, und sie war sogar nüchtern, als sie es ihr sagte.

„Du bist verheiratet mit ihm. Warum?“

„Ja! Warum nicht?“

Tittenmolly, sie schielte ein bisschen, aber nicht immer, kratzte sich ganz ungeniert am unteren Bauchende.

„Er wird öfter weg sein, er ist auf der Suche. Ich habe in seine Augen gesehen. Passe auf, dass daraus keine Jagd wird – aus der Suche, meine ich.“

„Molly, er hat das Jagen nicht nötig, er hat alles, was er braucht, sogar noch mehr.“

Molly kratzte sich immer noch. „Das hatte ich auch – und noch mehr.“

Einige Zeit später lag ihr Fahrrad fünf Tage in der Hecke schräg gegenüber von Cindys Haus, ziemlich ramponiert, und sie selbst war es auch. Sie war von einem kräftigen Mann, mit dem sie gezecht und geschlafen hatte, gewaltig verprügelt worden, trotz kräftiger Gegenwehr, und beide nahmen nach fünf Tagen Cindys ärztliche Hilfe in Anspruch. Das Fahrrad blieb noch fünf Tage in der Hecke liegen. Mit dem kräftigen Mann blieb Molly ebenfalls liegen, sie zechten, und sie bekam keine Prügel, denn sie hatte endlich seinem Wunsche nach „von hinten, aber richtig von hinten, hat er gesagt“, nachgegeben und gut dabei verdient.

Dann war Chris tatsächlich weg für ein paar Tage, und das wiederholte sich mehrmals, bis es zur Gewohnheit wurde, gut getarnt als Teilnahme an irgendwelchen geschäftlichen Terminen oder berufsbildenden Lehrgängen.

Cindy freute sich, wenn er wieder da war, pünktlich zur angegebenen Zeit. Es tat ihr leid, dass sein Beruf und seine Geschäfte ihn so sehr beanspruchten und er anfing, von Anspannung und Hektik zu sprechen. Doch er sagte auch: „Wer nicht weggeht, kann auch nicht wiederkommen.“

Diese Aussage konnte sie nicht einordnen, sie erregte sie und machte sie unsicher, und als Chris von Stress sprach, tat er ihr unsagbar leid. Sie begann für ihn und um ihn zu leiden. Und sie litt noch mehr, als sie seinen schlechten Appetit beim Essen bemerkte. Dass seine Geschäfte im Augenblick schlecht gingen, tat er als eine weitere momentane instabile Situation ab, er behielt recht damit, und Cindys Leiden wurde wieder geringer. Seine hellen Augen sahen über die inzwischen in Gold gefasste randlose Brille auf sie herab, und es genügte ein einziges kurzes Strahlen – sie liebte ihn über alles, mehr als ihr eigenes Leben. Den Gedanken an eine andere Frau wies sie entsetzt und sich schüttelnd vor einem Gefühl des Ekels zurück. Sie umarmte ihren Mann und drückte ihn so fest sie nur konnte.

„Chris, ich liebe dich. Weißt du das?“

„Ja, das weiß ich.“

Er spürte ihre Unruhe und streichelte über ihr Haar. In seinen Augen glänzte es, sie sahen über sie hinweg. Aber Cindy war glücklich.

Vor wenigen Tagen war in einer anderen Stadt eine junge Frau nach einer zärtlich und stürmisch begonnenen Liebesnacht entsetzt und angeekelt davongelaufen, nachdem sie etwas über sich von einem blonden, bärtigen Hünen hatte ergehen lassen müssen, das sie nicht gewollt hatte. Sie hatte nur ein wenig glücklich sein wollen. Zurückgeblieben waren Kondome mit Himbeergeschmack.

Die hellen Augen sahen immer noch über die schöne Frau hinweg, die Hand streichelte nicht mehr.

„Kannst du nicht auch verkaufen, Herzi?“

Sie hatte nichts zu verkaufen.

„Hast du das nicht schon einmal gefragt?“

Cindy war sich nicht sicher. Doch – er hatte diese Frage schon einmal gestellt. Was sollte sie verkaufen?

„Ich verstehe deine Frage nicht, uns geht es doch gut, mein Junge.“

Er wollte aus einer gesicherten Position heraus das Leben erleben und sprach von einer zukunftsweisenden Entwicklung. Das letztere verstand sie nicht.

„Die Zukunft entwickelt sich von selber, und in gesicherter Position befinden wir uns. Warum was ändern?“

Sie sagte es noch einmal:

„Uns geht es doch gut.“

Es ging ihnen auch gut, in allen Belangen, im Bett, na ja, es könnte öfter mal sein. Bei ihm schien sich ein altersbedingtes Unvermögen einzustellen – schließlich war sie Ärztin – irgendwann verabschiedete sich die Kraft der Jugend. In der folgenden Zeit, langsam – fast schleichend langsam – verabschiedeten sich, aber in größeren Abständen zueinander, die Freunde aus den so genannten, aber existierenden, besseren Kreisen der Stadt von den Mellins. Das heißt, sie hielten sich von ihnen freundlich entschuldigend fern. Der Arzt und Timo nicht. Sie waren da, wenn sie gebraucht wurden und kamen auch so. Der Arzt lebte mit seiner großen Familie in geordneten Verhältnissen: „In jeder Beziehung, auch im Bereich der Emotionen und als Franzose in Deutschland.“ Das sagte er oft, und seine deutsche Ehefrau wusste, dass es so war. „Voila.“

Es wurde dies geredet, es wurde das geredet. Genaueres wusste oder sagte keiner.

„Timo, du bist doch sein neuer Freund, was ist eigentlich los mit Chris? Weißt du etwas?“

„Wieso ich? Du bist doch Ärztin, ist er nicht gesund? Er sieht aber sehr gesund aus. Blendend würde ich sagen, wenn ich sein Äußeres beurteilen müsste.“

Cindy meinte nicht das Äußere. Das erkannte sie auch. Sie meinte das Innere.

„Frau Doktor, muss ich dich aufklären? Wenn ich seine Gedanken kennen würde, ja, dann, Gedanken sind Kräfte, lerne seine Gedanken kennen.“

Timo sah sie nachdenklich an und versuchte ein Lächeln. Cindy auch. Sie spürten, dass sich ihr gemeinsames verunglücktes Lächeln auf halbem Wege zu treffen versuchte; sie hatten beide das gleiche Problem, eine schwer zu lösende Aufgabe. Ihre Schwierigkeit bestand darin, auch das war gleich, dass sie es beide nicht so recht wahrhaben wollten.

Timo schob seine Müdigkeit auf einen Wetterumschwung. In Wirklichkeit begann er langsam müde zu werden, sich mit Lindas ständigem Meckern und ihrer schrecklichen Eifersucht auseinandersetzen zu sollen.

‚Verteidige dich!’

‚Es gibt nichts zu verteidigen.’

‚Du warst nicht angeln. Bei welcher Frau warst du?’

‚Ich war bei keiner Frau!’

Dann nur noch Toben und Schreien.

Ihr letztes Toben und Schreien war noch ganz frisch in Erinnerung, auch ihre tiefe Niedergeschlagenheit mit vielen Tränen danach. Er schüttelte sich und knurrte was von hinterlistig und falsch.

„Timo, das hat Chris auch gesagt. Ich glaube, er hat Recht. Glaubst du, dass er auch so ist?“

Er wusste es nicht. Er wusste von sich nur, dass alle seine Frauen, mit denen er zusammengelebt hatte – bis auf eine einzige, sie war anders gewesen – so ähnlich wie Linde gewesen waren. Ein inneres Spiegelbild seiner Mutter.

„Er ist doch meine große Liebe, aber ich bin nicht seine. Kennst du das mit der großen Liebe, Timo?“

„Hm, ha, hm hm! Hm hm! Ich kenne es, Cindy, ich kenne es und glaube mir, ich fühle mich oft so, als hätte ich mir einst selbst mein Leben gestohlen. Bevor Cindy weiter fragen konnte, sagte er schnell:

„Nein, du kennst sie nicht. Keiner meiner Freunde kennt sie. Es ist zu lange her. Außerdem habe ich von meiner Schwester geträumt, und das ist ein ganz schlechtes Zeichen, denn ich habe nie aufgehört, sie zu lieben, die Schwester.“

Es wusste jeder, der ihn kannte, dass er jegliche Beziehung zu ihr beendet hatte, und es würde von seiner Seite aus auch zu keiner Annäherung wieder kommen. Es sollte etwas mit mehreren Fällen von Schädigung zu tun haben, wurde erzählt und von nicht wiederherstellbarem Vertrauen.

Aber das wiederum schien Chris zu Timo zu haben. Sanft und mit warmer vertrauter Freundlichkeit umarmte er ihn. So hatte sich Timo als Kind, auch später noch, immer einen Bruder gewünscht, genauso mit dem gleichen anziehenden Blick.

„Ich brauche dich.“

„Du brauchst mich.“

„Ich suche sie.“

„Du suchst sie.“

Timo dachte zuerst an den Theatertechniker und dann an den Theaterpädagogen. Wie hieß er doch noch? Er kam nicht darauf.

„Die Vielseitigkeit deiner Aussagen überrascht mich. Ich habe unsere Gespräche anders in Erinnerung. Hilfst du mir?“

Chris blickte ernst und fremd über seine goldene Brille herab – fremd und eiskalt. Aufpassen, Timo, aufpassen! Es roch nach einer Vorstellung auf einer … Timo konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen und aufzupassen gab es einfach nichts.

„Ich brauche Venus.“

Und noch einmal.

„Ich brauche Venus und finde sie nicht. Ich komme zu kurz. Das Geben und Nehmen funktioniert nicht, und ich ekele mich vor mir selber, wenn ich daran denke, bis zu meinem fünfundsechzigsten Lebensjahr arbeiten zu wollen oder zu müssen.“

„Hm!“

Es ging schon weiter.

„Ich habe mein Verhalten auf den Prüfstand gestellt, mehrmals. Unter Erfahrungen sammeln lässt sich das nicht mehr einordnen, ich …“

Timo dachte an Cindy, er dachte an sich, sie waren alle auf einem Prüfstand. Auf welchem eigentlich, fragte er sich.

„Chris, langsam, ich komme nicht so schnell mit. Was ist das? Was heißt das? Das, was sich nicht …, wie sagtest du?“

„Mehr einordnen lässt.“

Chris erwartete, dass Timo ihm helfen würde. Sie gingen zusammen auf der hölzernen Uferpromenade des Stadthafens, Nina lief vor ihnen her. Es war kalt, und bald würde es noch kälter werden – die Zeit der Angst und Schwermut rückte näher. Daran änderte auch der Anblick eines herrlichen klaren Sternenhimmels nichts. Beide kannten sie dieses scheußliche Gefühl – weg wollen und es nicht können. Chris versuchte es noch einmal und fragte wegen Hilfe. Es blieb nicht bei diesem Versuch. Dreimal verlangte er Hilfe. Wenn nur nicht seine eiskalten Augen gewesen wären und die stolze Haltung des Körpers in seiner ganzen Länge. Er konnte ihm nicht helfen, und das sagte er ihm auch.

„Ich weiß nicht, was du willst. Weißt du es denn? In dem, was du willst, zeigt es sich, wie du bist.“

Ganz wohl fühlte Timo sich nicht bei dieser Antwort, und er war froh, dass ihnen ein paar Spaziergänger entgegenkamen, die seinen Begleiter kannten und mit denen er ein paar freundliche Worte wechselte. Nina und der Hund der Bekannten beschnüffelten sich solange gegenseitig. Dann gingen sie alle weiter in verschiedene Richtungen. Chris wies mit einem ausgestreckten Arm zu den Sternen. Sein Arm beschrieb in der Luft eine große Runde.

„Es zeigt sich, wie ich bin? Einer von diesen vielen Sternen ist sie – Venus – und die will ich. Einen strahlenden Stern.“

Timo versuchte ihm klarzumachen, dass es dabei weit und breit nichts zu helfen gab, nein, auch zu kämpfen gab es nichts. Weit und breit war ebenso kein Feind in Sicht. Ein Gegner? Doch wohl nicht Cindy, diese gute Frau. Irgendwann wollte Chris angreifen.

„Ja, ich greife an, irgendwann.“

„Und dann? Du musst aber gewinnen oder siegen. Ich weiß nicht, gegen wen du kämpfen willst, aber diese Person, wenn es denn eine ist, braucht den Kampf nur zu überstehen, und der Verlierer bist du.“

Das wusste Chris auch. Sie traten den Heimweg an und gingen den gleichen Weg zurück. Ihre Frauen waren zusammen in Cindys schönem großem Haus und erwarteten mit völlig unterschiedlichen Gefühlen für sie, die Heimkehr ihrer Ehemänner. Chris hatte keine Hilfe bekommen, und er schien auch nicht mehr daran interessiert zu sein. Er fragte nach Timos erster Reise in die Heimat seiner Frau. Und Timo erzählte ihm von der großen Zuckerrohrinsel, die je zur Hälfte eine abendland-christliche und eine morgenland-islamische Kultur besaß. Die letztere Hälfte war für ihn auf Anordnung von Lindas Familie wegen Sicherheitsbedenken für seine Person nicht zugänglich gewesen. Und dass sein Schwiegervater bei seiner Ankunft damit gedroht hatte, Eintritt zu nehmen, wenn noch mehr Leute zur Begrüßung seiner Tochter mit ihrem weißhäutigen und langnasigen Ehemann kommen würden. Es schien, als drängte sich das halbe Dorf, am meisten Kinder, um seine Hütte – ein Haus aus Bambus, Brettern und Palmenblättern.

„Waren sie hübsch? Ich meine die Kinder?“

„Chris, ich habe nirgends so viele schöne Menschen auf einem Haufen gesehen.“

„Ist es wirklich ein Eldorado von Schönheit, Jugend und Abenteuer?“

„Ja, aber auch für Tränen, viele Tränen.“

Mit Linde konnte Timo nicht über die Mellins sprechen. Sie würde mit ihrem lockeren Mundwerk in der ganzen Stadt und darüber hinaus für Unruhe sorgen und es mit der Wahrheit auch nicht so genau nehmen. Er schrieb einen Ausspruch, der einem großartigen, chinesischen Philosophen zugerechnet wurde, auf ein Blatt Papier. Es würde niemanden kompromittieren. Tat es auch nicht, als er es zu Chris und Cindy brachte.

„Seht mal, was ich zufällig gefunden habe, eine interessante Möglichkeit für jeden Menschen. Ich probiere sie aus.“

Die so gepriesene und zufällig gefundene Möglichkeit hob sich handschriftlich und schwarz deutlich vom weißen Papier ab:

„Der Mensch hat dieserlei Wege klug zu handeln:

Erstens durch Nachdenken, das ist der edelste, zweitens durch Nahahmen, das ist der leichteste, drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.“

Unten drunter stand – Konfuzius.

Timo erfuhr erst Jahre später, dass und wie sich sein neuer Freund damit beschäftigt hatte. Das zweite Jahr nach dessen erster Asienreise hatte begonnen, es war kein Angriff erfolgt, nicht einmal eine Vorbereitung war zu erkennen gewesen. Es blieb das ganze Jahr ruhig in jeder Beziehung bei Mellins. Freundlich und ruhig, zu ruhig für Cindy. Sie unternahm zahlreiche Verführungsversuche nach allen Regeln der Kunst, sogar der viel gepriesenen asiatischen, und manchmal hatte sie Erfolg. Mit dem Einsatz ihres immer noch schönen Körpers, dem klugen Erkennen und Ausnutzen der günstigen Gelegenheit und der Zuhilfenahme ihres Wissens als Ärztin war sie – sie verdrehte ihre Augen und stöhnte leise – hin und wieder erfolgreich. Sie war überhaupt erfolgreich, ihr ganzes Leben lang – doch, auch mit ihren Männern – sonst sowieso, aber oftmals blieb die Freude auf der Strecke. Auch mit ihren Männern.

Cindy war ehrlich zu sich selber. Viel fehlte nicht mehr, und sie würde das erfüllte Leben einer Nonne führen. Sie konnte sich diesen Vergleich leisten, denn sie war täglich in der Klinik mit Nonnen zusammen. Diese gaben ihre Liebe, oder was immer sie darunter verstanden, weiter an andere. In ihrer Abteilung waren das die Kinder, die diese Liebe bekamen, und sie schien eine besondere Art von Glück entstehen zu lassen. Für Cindy war es schlimm, sie konnte ihre Liebe nicht loswerden. Sie konnte so viel geben, doch es wurde so wenig genommen.

„Lasse mir etwas Zeit. Ich weiß. Es wird sich ändern.“

Aber es änderte sich nichts.

Chris war weiterhin viel geschäftlich unterwegs, und Tittenmolly sagte zu ihr:

„Du, Ehefrau und Ärztin, dein Mann ist gewaltig im Stress. Und den Stress kenne ich.“

Sie war sogar wieder einmal nüchtern, wie es schien, auch ihre Haare standen ihr nicht ganz so quer vom Kopf wie sonst meistens.

„Du bist immer gut und hilfsbereit zu mir, Ärztin. Ich weiß, dass ich nicht mehr für voll genommen werde. Aber ich weiß auch, dass Glück eine Grundlage braucht und dass du nicht glücklich bist.“

Jetzt schielte sie wieder ein bisschen, und bevor sie sich wieder ungeniert kratzen konnte, schlug Cindy ihr auf die Finger.

Im letzten Licht des Tages, sie war früher als gewöhnlich vom Dienst nach Hause gekommen, versuchte sie im Garten in irgendeinem schon blattlosen Strauch die Zaunkönige zu entdecken. Sie stand am Fenster, Nina sah sie von unter her an. Es war kein Zaunkönig da. Eine Schar Spatzen flatterte auf dem Rasen und in den Sträuchern herum. Ihr fröstelte, die Wärme des Sommers war lange dahin, das Haus musste schon gewärmt werden. Sie brauchte nicht lange zu analysieren und an einer Diagnose herumzudoktern – sie wusste, was ihr fehlte – Wärme, die Wärme, die durch Zärtlichkeit entsteht. Gut, die Zärtlichkeit und Rücksichtnahme, die einer werdenden Mutter entgegengebracht wurde und von der sie wusste, weil täglich beobachtet, diese würde sie nicht bekommen. Aber, ja, aber was und wie? Pünktlich einmal im Monat kommt das Erlebnis der großen Enttäuschung und der Mangel an Befriedigung. Cindy wusste nicht, ob sie es laut gesagt oder nur stumm gedacht hatte: Sie wollte in kein großes Loch fallen, nicht wieder, sie kannte es von früher. Sie kannte aber auch den Spruch, dass nur derjenige das Glück bekommt, der seinen eigenen Wünschen und seinem Herzen folgt. Und das wollte sie tun.

Als Chris nach Hause kam, war es schön warm im ganzen Haus. Aus der Küche roch es gut, und Cindy duftete besonders gut. Sie sah auch besonders gut aus. Nach dem Essen tranken sie Wein und hörten Musik, Lieder ihrer Heimat. Chris hörte sie gerne und genoss die heimelige Stimmung des Zusammenseins an diesem späten Abend. Er saß zurückgelehnt mit geschlossenen Augen im tiefen Sessel, Nina lag daneben, und Cindy kniete vor ihm, seine Knie umklammernd. Er ließ sie schmusen, sich streicheln und begann zu träumen als sie seine Beine auseinanderdrückte und seine Hose öffnete. Er träumte, und ein Lächeln spielte um seinen Mund, von einem Stern, der irgendwo da draußen am Nachthimmel strahlte und drückte mit einer Hand auf das herrliche, schwarze Haar seiner Frau zu den rhythmischen Bewegungen ihres Kopfes in seinem Schoß, mit der anderen Hand streichelte er den Hund.

Cindy tat, was sie im Herzen spürte und ersehnte, sie folgte ihren Wünschen – aber sie bekam kein Glück. Sie folgte viel mehr seinen Wünschen. Reden konnte sie mit ihm, sie hatten sich sogar viel zu sagen, doch ihre Herzen berührten sich nicht. Was, ja was, fragte sie sich schon fast verzweifelt, was sollte sie davon halten, dass er sie fragte:

„Hast du keine beste Freundin zum Ausweinen? Du zweifelst an meiner Zuverlässigkeit. Du wünschst dir einen Mann mit breiten Schultern zum Anlehnen und einen Mann mit ordentlichen Zukunftsperspektiven. Beides habe ich. Du vermisst mein partnerschaftliches Denken, das ich nur bedingt besitze und das von bestimmten Voraussetzungen abhängig ist. Du vermisst auch gemeinsame Unternehmungen und sei es nur bei der Hausarbeit, und wie Sex ist, weißt du oft längere Zeit nicht. Ändern! Leben heißt auch ändern.“

Cindy hatte keine beste Freundin in der Nähe, sie hatte überhaupt keine mehr. Luzie war in Amerika. Venus war verschwunden, müsste aber noch im Lande sein. Sie beschloss sie zu suchen und bat Chris, ihr dabei zu helfen. So einfach war das. Chris verzog keine Miene.

„Venus? Meinst du, dass du sie brauchst? Sie zu finden wird nicht einfach sein. Ich kenne nicht ihren neuen Familiennamen.“

Es wurde auch nicht einfach. Diesem legitimen Auftrag, dieser Bitte oder Aufforderung nachzukommen, bedeutete eine zusätzliche Belastung – reisen, fragen, immer wieder von vorne beginnen, auch wenn die Arbeit für die Geschäfte etwas vernachlässigt zu werden begann. Die Ehrlichkeit spielte keine große Rolle, das Verstecken der Suche war nicht mehr nötig, denn wenn Chris etwas nicht mochte, waren es Lügner und Schleimer.

„Ich hasse Lügner und Schleimer.“

Das hatte er einmal einem befreundeten Geschäftsmann gesagt, der seine Frau schlug, betrog und beides für gut und richtig hielt. Als der ihn frage, „und wen liebst du?“, hatte er die Freundschaft beendet. Die Betonung hatte auf dem Wort ‚liebst’ gelegen. Es war eine Situation, in der eigentlich nichts geschah trotz der herbeigeführten Spannung, und Cindy kam es vor, als ob sich ihr Mann absichtlich in Stress begab, um nicht sexuell erregt zu werden. Ja, eine Situation, in der nichts geschah. Chris’ fröhliche Freundlichkeit war mehr und mehr verschwunden. Zwei Jahre waren seit ihrem letzten Urlaub vergangen. Noch länger ließ sich eine Reise in ihre Heimat nicht hinauszögern. Cindy kam sich vor wie auf der Flucht, auf einer Flucht vor etwas, was noch gar nicht stattgefunden hatte. Ihr war das Kuriose dieses Gedankens durchaus bewusst, sie kannte ihre Heimat, und sie glaubte Chris zu kennen. Nicht alle Männer, die in ihre Heimat fuhren, waren wie Timo, Linda wusste überhaupt nicht, was für einen treu sorgenden Ehemann sie hatte. Ein möglicher und von ihr befürchteter Kulturschock war nicht der Grund ihres ständigen Hinauszögerns dieser Reise gewesen. Es war ihr eigener möglicher Schock durch eine mögliche Untreue. Wie gesagt – Cindy kannte ihre Heimat, und Chris würde sie auch kennen lernen – kennen lernen – aber wen?

Ihr Vorschlag zu dieser Reise überraschte ihn freudig. Sie sah es ihm an, und andere sahen es auch. Die ständige Anspannung bei ihm ließ nach, seine Augen strahlten wieder, wenn auch noch nicht so oft wie früher, über die Brille von oben herunter, auch auf Cindy. Sein in letzter Zeit fast ständig viel zu niedriger Blutdruck im Wechsel mit gelegentlich viel zu hohen Werten hatte nicht nur zu schrecklichen Stimmungsschwankungen geführt. Cindy befürchtete bei länger anhaltendem Verlauf dieser gefährlichen Unregelmäßigkeit eine Störung der Harmonie in der Wechselbeziehung des Körpers und der Psyche, bis hin zu einer möglichen Veränderung des Charakters. Schließlich war sie Ärztin. Obwohl sie das letztere befürchtete … gut, gut, sie würde alles, was während des Aufenthaltes in ihrer Heimat zu tun hatte, genau beobachten, und schließlich hatte sie auch Brüder. Und in ihre gedankliche Vorbereitung kam ihr ganz unvermittelt eine Idee. Sie kam, als sie sich ihren kleinen dünnen Vater vorstellte, wie er neben Chris stehen würde.

„Chris, mein Junge, wie war dein Vater, wie sah er aus? Erzählst du mir von ihm?“

Die Frage überraschte ihn, doch ihr Interesse an einem Mitglied seiner Familie war ihm angenehm, wie es schien. Er lächelte.

„Ich habe nicht nur einen Teil seines Vermögens, ich habe auch seine Intelligenz geerbt.“

Chris lächelte immer noch.

„Nach meiner Kenntnis als Medizinerin ist Intelligenz das einzige geistige Erbgut, welches genetisch weitgehend festgelegt ist. Bei Charaktereigenschaften kann es so nicht gesagt werden.“

Cindy hätte sich nach dieser gelehrten Aussage am liebsten auf die Zunge gebissen, aber es war gesagt. Sie hatte beileibe nicht daran gedacht, ein Verhör zu beginnen. Aber genau das empfand ihr Mann. Er lächelte nicht mehr und als sie unsicher lehrhaft fortfuhr, „das hängt auch weitgehend von der Prägung in der frühen Kindheit ab“ und weitersprechen wollte, „dein Vater …“, da unterbrach er ihre Ausführungen. Mit diesem ernsten Gesicht, fast starr mit zusammengezogener Stirn und schmalem Mund hatte sie ihn noch nie gesehen. Bisher war er ihr oft eher etwas infantil erschienen. Seine Augen waren kaum unter den Wimpern zu erkennen, als er antwortete:

„Ich bin nicht mein Vater, und nach meinen Kenntnissen lässt sich ein Mensch nicht nach seinen Genen beurteilen, sondern nach seinem emotionalen Fluidum. Wer gab dir die Idee zu diesem Verhör?“

„Chris, ich …“, sie wusste nicht weiter.

„Ich habe seine Intelligenz ganz legal von ihm geerbt, meinetwegen auch übernommen, und ich bin stolz darauf, ohne ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit überprüfen zu müssen.“

Au ha! Sie sah ihn überrascht, mehr als nur das, sie sah ihn fast ungläubig und erstaunt an.

„Es so zu sagen, hast du mir nicht zugetraut.“

Sein Gesicht wurde wieder freundlicher.

„Zuletzt war er ein müder alter Mann, aber er war zeit seines Lebens ein begehrter Mann, bei vielen Frauen gewesen und öfter verheiratet als unser Freund Timo. Aber ganz bestimmt aus anderen Gründen. Er mag ein Narziss gewesen sein, aber niemals ein Autist.“

Chris grinste – ein Gesichtsausdruck, den viele als ein besonderes Lächeln bei ihm ansahen. Er wusste genau, dass er ganz persönlich davon profitierte, da Cindy keine Kinder hatte – er war ihr großer Junge, und Cindy hatte sich ihre Vorbereitung auf die Riese anders vorgestellt. Ihre Idee war wohl doch nicht so gut gewesen. Sie verspürte stärker als bisher eine plötzlich auftretende Unruhe, die eine längere Zeit anhielt und deren Ursache sich nicht erklären ließ.

Sie hielt an bis zum Sommer, bis zu dem Tag, an dem ihr Chris eröffnete:

„Es ist aus!“

„Aus!“ Cindy fragte ganz ruhig. „Aus?“

„Ja, es ist aus. Ich wähle jetzt den Weg des Konfuzius, den Timo uns empfohlen hat. Ich gehe den leichtesten, auch wenn es nicht so aussieht.“

Chris war pleite, zahlungsunfähig, alle seine Geschäfte gingen in den Konkurs. Im Bekanntenkreis hatte vorher lediglich das Wort „Unregelmäßigkeiten“ die Runde gemacht, doch es war Cindy verborgen geblieben. Von der Familie hörte man nichts, kein Bedauern, kein Hilfsangebot, für Cindy unverständlich und unvorstellbar, dafür war sie noch viel zu sehr Asiatin und würde es immer bleiben. Sie empfand tiefes Mitleid mit ihm, sie würde ihn nie fallenlassen oder verlassen.

„Das stehen wir zusammen durch. Ich helfe dir.“

Er lehnte ihre Hilfe ab.

„Da hältst du dich heraus. Das ist meine Sache und die erledige ich selbst!“

Er erledigte seine Sache selbst mit einer Mischung aus Frechheit und Charme einerseits oder beide einzeln nacheinander – so herum oder so herum – andererseits und wenn es nötig war, mit regungsloser Kaltschnäuzigkeit und ohne Rücksicht auf irgendwas und irgendwen. Er nutzte alle gesetzlichen Möglichkeiten, und ohne jegliche erkennbare Regung leistete er einen Offenbarungseid, korrekt und präzise. Nur diejenigen, die ihn sehr gut kannten, hätten seine Geringschätzung allen anderen Beteiligten gegenüber erkennen können, aber die waren nicht dabei. Ihm wurde eine ordentliche Abwicklung des Konkursverfahrens bescheinigt, sogar von einer Richterin, und Cindys Unruhe war wie weggeweht. Sie würde für ihren Mann sorgen.

Der ging freundlich lächelnd und grüßend mit Nina in der Stadt und am Hafen spazieren, hörte Musik zu Hause, beschäftigte sich viel mit seinem Computer, fuhr mit einem großen Auto, das nicht mit in den Konkurs kommen konnte, umher und hatte einen Plan. Er bat darum, die Reise nach den Philippinen um ein Jahr zu verschieben und sprach von einer sich abzeichnenden zukunftsweisenden Entwicklung aus einer gesicherten Position heraus.

„Was sagst du dazu, Herzi?“

Das hatte sie schon lange nicht mehr gehört, das mit der Entwicklung und Position kam ihr bekannt vor.

„Du meinst, dass wir das schaffen?“

Zustimmung und Skepsis hielten sich die Waage.

„Ich hoffe es. Lass’ mir Zeit.“

Er schaffte es tatsächlich, noch im Verlauf des nächsten Jahres, aber anders, als er es sich erhofft und errechnet hatte.

Sein Großvater starb. Er war zeit seines Lebens ein erfolgreicher Geschäftsmann und Viehhändler gewesen. Wenige Wochen vor seinem Tod hatte er Cindy im Krankenhaus aufgesucht – ein weißhaariger alter Herr mit gepflegtem, schneeweißem Bart und von ungewöhnlich aufrechter Haltung für sein hohes Alter – ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, wie aus einem Modejournal entnommen. Er stellte sich ihr mitten im Flur ihrer Kinderstation formvollendet vor, begrüßte sie mit einem Handkuss, legitimierte sich freundlich und bat höflich aber stimmt um ein sofortiges Gespräch. Solange sie lebte, würde sie dieses Gespräch und diesen Herrn in lebender Erinnerung behalten. Er hatte sie zu einer reichen, zumindest zu einer sehr wohlhabenden Frau gemacht nach seinem Tod.

Cindy bezahlte Chris’ Schulden beim Finanzamt und bei seiner Bank. In ihrer Heimat würde sie sich ein großes Haus bauen und Land kaufen – ihre Familie würde niemals hungern. Chris auch nicht, das hatte sie seinem Großvater versprochen. Sie würde sich immer um ihn kümmern.

Es nützte Chris nichts, dass er alle denkbaren Mittel anwandte, auch die Drohung des Verlassens: Seine vielen und großen privaten Schulden bezahlte sie nicht. Sie war zu sehr Asiatin und ließ sich diese unverhoffte, einmalige Chance für ihre Familie nicht entgehen. Er musste weiterhin, wenn er spazieren ging, Nina zu seinem persönlichen Schutz mitnehmen. Das würde nicht ewig so sein, alles braucht Zeit. Mit ihrem Mann würde es einen völlig neuen Anfang geben. Sie sah eine neue Chance dazu geboren, und sie würde darauf achten, dass es keine Fehlgeburt sein würde.

„Mein Junge“, sagte sie, „du wirst an allem teilhaben, was ich besitze. Unser Leben kann sehr schön werden.“

Das dachte der Junge auch und hatte einen neuen Plan, schließlich waren noch andere Erbschaften von Seiten seiner Familie zu erwarten.

Aber es wurde nicht schön, nicht für sie. Sie hatten jetzt mehr Zeit füreinander, doch sie lebten aneinander vorbei. Manchmal stritten sie sich. Am Ende des Jahres begann Cindy in eine gedrückte, niedergeschlagene Stimmung zu fallen, und sie musste aufpassen, dass keine Depression daraus wurde. Ihre beginnende Menopause war nicht die Ursache. Das bestätigten ihr auch einige ihrer Kollegen. Doch die Anzeichen für eine beginnende Depression verstärkten sich: Müdigkeit in Zeiten, in denen sie ihr bisher fremd gewesen war, sie weinte oft und hatte eine unerklärliche Angst, und immer öfter empfand sie ihr eigenes Leben als Last. Als sie langsam begann, daran zu denken, sich von dieser Last zu befreien, nahm sie die Hilfe eines erfahrenen, befreundeten Kollegen in Anspruch.

Nein, es lag nicht an der Jahreszeit, grau in grau bei Nieselregen und an fehlender Sonne. Heimweh? Nicht so sehr. Sorgen? Auch nicht so sehr. Sie sollte es mit den nötigen Vitaminen versuchen und „finde dich damit ab, du hast niemanden, dem du deine Brust geben kannst zum Stillen. Du hast kein Kind geboren.“

Chris war nicht sehr in Sorge. Er beobachtete das Geschehen um sich herum sehr aufmerksam. Cindys Zustand entging ihm nicht, doch er sprach nicht davon, und sie war um Glauben, dass er ihn nicht bemerken würde.

„Herzi, lasse uns eine Party geben.“

„Eine Party?“

„Ja, wir geben eine Party!“

Fast alle geladenen Gäste kamen, einige Freunde, nähere Bekannte und sogar Leute, die bisher nicht als Gäste bei ihnen in Erscheinung getreten waren. Cindy freute sich nicht, sie war unruhig und angespannt, eine nach innen gekehrte, schlechte Gastgeberin. Sie vermied weitgehend Gespräche und Berührungen und war häufig in der Küche – wegen der Speisen, wie sie sagte. Ganz das Gegenteil ihr Chris: Er war es, der diese Feier beherrschte, auf die Leute zuging und sie mit seiner Heiterkeit erfreute. Ihm entging nichts, spontan, gut orientiert und jeder Situation gewachsen, setzte er dabei zusätzlich seinen Körper ein. Sein Flair und seine Bewegungen als Ausdruck eines Könners in der Beherrschung der Körpersprache und ihrer Anwendung machten ihn schier unwiderstehlich, und er wusste es. Gut, er trank ein bisschen mehr als sonst, aber Cindy beneidete ihn, und er ließ sich beneiden. Nicht nur von ihr. Timo war es, der ihr sagte:

„Da, guck’ ihn dir an – dein großes Kind.“

Ob das große Kind ihrer ständigen Fürsorge müde wurde oder ob ihm der Tag mit Nina einfach zu langweilig wurde – nach einem ruhigen Weihnachtsfest und einem ebenso ruhigen Jahreswechsel, begann Chris sich nach einer geeigneten Arbeitsstelle umzusehen. Wegen seines vergangenen geschäftlichen Misserfolges war das nicht unproblematisch bezüglich eines angemessenen Gehalts und dessen Auszahlung an ihn. Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, und nach mehreren Experimenten befand er sich in einer, für seine Situation in Bezug auf seine privaten Gläubiger, guten und gut bezahlten Position außerhalb seiner Heimatstadt im Außendienst seines erlernten Berufes, und das Sozialamt kam ohnehin nicht für ihn in Frage. Sein großes Auto – Cindys Auto – war das größte der Angestellten bei der Firma, die ihn beschäftigte. Das Auto durfte Cindy nicht fahren. Er traute ihren Fahrkünsten nicht, obwohl sie mit ihrem Wohnmobil vorher schon durch das halbe Europa gefahren war. Chris arbeitete gut und zuverlässig und schien dem Erwachsenwerden ein schönes Stück näher zu kommen. Seine Frau nahm es erleichtert wahr. Sie würde ihn nicht mehr als ihren kleinen Jungen ansehen, das nahm sie sich vor, und ihre beginnende Depression verschwand.

Viel Zeit hatten sie nicht mehr füreinander, sie stritten sich fast nie, ihre gemeinsamen Gespräche waren freundlich. Aber beide waren unzufrieden und sagten es nur sich selbst. Ihre Einladungen blieben oft, zu oft, ohne Echo. Beide vermissten Freunde. Auch das sagten sie nur sich selbst. Ein Leben, welches nur ihr gefallen konnte. Sie war ehrlich zu sich: Solange ihr Mann zu keiner anderen Frau ging, genügte ihr das Leben so mit ihm – obwohl …na ja, aber es genügte. Ihm scheinbar auch. Ihr fast durchsichtiges, intimes Negligé hing ganz hinten im Kleiderschrank. So sah es aus. Bis Timo kam.

Es war ein schöner Frühlingstag, die Zeit des blühenden Flieders. Sein Duft erfüllte Mellins kleinen, gepflegten Garten. Vor dem noch kühlen nördlichen Wind durch eine hohe Mauer und Hecken geschützt tranken sie draußen Tee, das Nationalgetränk dieser Region. Mit Kandis und Sahne – der Tee. Timo deutete auf den Flieder.

„Wie in meiner Heimat. Wenn ich ihn rieche, verspüre ich irgendeine Sehnsucht. Ich bin dann auf der Suche nach etwas, was ich nicht habe und auch nicht finden kann.“

Cindy fragte ihn:

„Ist es zu Hause ruhig, oder streitet sie immer noch und weint von morgens bis abends?“

Dann ließ sie die beiden Männer alleine.

Chris sah jetzt ganz ernst aus, seine Fröhlichkeit, mit der er den Freund noch empfangen hatte, war verschwunden als Cindy gegangen war.

„Wir haben beide einen Traum, und ich werde mir meinen Traum erfüllen. Meine Sehnsucht ist nicht der Flieder dort an der Mauer. Ich kenne auch keine Mauer, die meine Sehnsucht nach meinem Traum trennen kann oder umgekehrt. Timo, ist Sehnsucht ein Traum, oder ist der Traum eine Sehnsucht?“

„Meine Sehnsucht hat viele Träume. Wenn ich darüber nachdenke, und das tue ich oft, kommt es mir vor, als wären sie ein Schlaraffenland in meinen Gedanken.“

Jetzt lächelte Chris wieder, er war wieder der freundliche, große Mann mit der goldenen Brille und den grauen, strahlenden Augen.

„Mein Traum und meine Sehnsucht sind Venus – mit allem was zwischen ihnen ist.“

Er schnüffelte in Richtung Fliederstrauch und freute sich.

„Irgendwann finde ich sie, und dann wird sich alles ändern.“

Nicht lange nach diesem Gespräch änderte sich in Chris’ Verhalten zum Erstaunen seiner Frau, der vielbeschäftigten Kinderärztin, und gerade besonders ihr gegenüber, einiges. Er wurde überall wieder der charmante und gerngesehene Mittelpunkt, besonders bei den Frauen. Sogar Cindy bekam als Aufmerksamkeit wiederholt Zärtlichkeiten und Blumen geschenkt. Manchmal wünschte sie deshalb, dass sie nicht so viel zu arbeiten hätte und dafür mehr Zeit für ihn. Dann brauchte er auch nicht nur mit Nina zusammen ausgehen.

Einmal fragte er sie wieder:

„Kannst du nicht auch verkaufen?“

Bevor sie ihn fragen konnte nach dem Sinn dieser schon öfter geäußerten Frage, sagte er schnell:

„Wir sprechen ein anderes Mal darüber.“

Und sie fragte nicht weiter. Als er sagte, „Herzi, komm, wir fahren in deine Heimat“, stimmte sie freudig zu. Sie beachtete nicht die Worte von Tittenmolly. Wozu auch? Nur weil sie es gut zu meinen schien und tatsächlich wieder einmal nüchtern war?

„Fahre nicht mit ihm in deine Heimat. Er ist ein Jäger.“

Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1

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