Читать книгу Keiner wird als Held geboren - E.R. Greulich - Страница 4
DIE ZEIT VORHER
ОглавлениеKein Mensch kann sich seines ersten Schreis erinnern. Doch was Eltern und Verwandte erzählen, prägt sich ihm ein, als hätte er es wissend erlebt.
Wir schreiben das Jahr 1903. Geburt in nasser Kellerwohnung. Der Schwamm gedeiht, die Familie vegetiert. Der Erstgeborene kränkelt. Ein Jahr alt, packt ihn eine Lungenentzündung. Arzt, Medikamente, kräftige Nahrung? Nichts davon - entweder das Wurm des arbeitslosen Schneiders beißt sich durch, oder es stirbt. Klarer Fall im Kaiserreich. Es beißt sich durch, aber es kränkelt weiter. Mutterliebe der Arbeiterfrau gibt nicht auf. Sie bündelt den Knaben und fährt zur Schwester nach Ettersberg bei Weimar. Die gute Thüringer Luft muss helfen. Das ganze Dorf nimmt Anteil. Auch der Schmied. Lobend nickt er und brummt, man solle ihm die Krabbe bringen, da helfe nur die Schmiedekur. Hoffend, voller Lebenswillen für zwei, kommt die Mutter. Der Schmied lacht, krempelt sich die Ärmel höher, badet den Schreienden in einem Trog rostroten Eisenwassers. Dann legen sie ihn ins grüne Gras, dass er trockne. Am nächsten Tag wieder so, vierzehn Tage lang. Und dazwischen badet er in Sonne, isst Möhren, trinkt Milch. Die Mutter fährt mit einem braun gebrannten, gesunden Bengel nach Berlin zurück.
Er wird ein kräftiger Bengel mit wachem Kopf. Der Kopf nimmt viel auf und vergisst wenig. Da sind erste eigene Erinnerungen. Wieder ein Keller. Aber er ist warm und hat keinen Schwamm. Die Mutter macht eine Plätterei auf, tritt dem häufigen Arbeitslossein des Vaters so resolut entgegen wie vorher der Krankheit des Sohnes. Der Sohn kommt heim aus der Spielschule, plappert das erste gelernte Gedicht. Leuchtende Augen der Mutter lesen das Verslein vom Munde des Kleinen. Erste Schultage. Fragen, eifriges Wissenwollen, kurze Mutlosigkeiten und wieder emsiges Lernen. Etwas später erster Verdienst: Frühstück austragen. Barfüßige Beine huschen Stiegen hoch, schliddern auf Linoleumpodesten, eilen über Marmortreppen. Dem Bäckermeister zum Gewinn blanke Silberstücke, dem Barfüßigen Kupferpfennige. Danach im Lederwarengeschäft als Laufjunge. Jeden Tag vier Stunden Pakete schleppen. Für drei Mark die Woche. Der Zehnjährige verdient Vater, Mutter, Schwester die Margarine aufs Brot, zu ihren Pellkartoffeln den Salzhering, Festbraten der Armen. Der kindliche Ausgebeutete wächst heran, arbeitet länger, schafft mehr. Zwölf Mark vom Dreizehnjährigen an jedem Wochenende der Mutter auf den Tisch. Aber was kann man im dritten Kriegsjahr noch dafür kaufen?
Doch da gibt es auch Helles, Kindhaftes. Eines Tages steht der Lachende mit einer großen Kiste vor der Mutter. Was er damit anfangen wolle? Kaninchen halten. Zu einem Einzigen erschmeichelt er die Erlaubnis. In einem Jahr sind es zweiundzwanzig; Kellerzoo der Hinterhauskinder. Alle schaffen Futter heran, alle helfen Ställe zimmern, alle hegen und pflegen. Sie lieben die Tiere und mögen den Karnickeljungen, der hilft und gern schenkt, der gern Spaß macht, um ihnen Spaß zu machen.
Am hellsten schimmern die Stunden mit Vater. Er erzählt, wie er als junger Schneidergeselle aus mecklenburgischer Dorfenge ausbrach, sich Erfahrungen erwanderte, wie er sein Wissen erlangte von der einzigen Kraft gegen die Ausbeutung. An die zehn Jahre ist er in der Partei und ebenso lange ein treuer Gewerkschafter, als der Sohn geboren wird. Vater scheut keine Parteiarbeit. Wird er auf einer Arbeitsstelle entlassen, so bleiben von ihm gewonnene Verbandskollegen zurück. Zwei flinke, stille Hände sind dem Vater eigen, die immer wissen, was zu tun ist. Sie verstehen, Dreiangel fast unsichtbar zu flicken, aus alten Sachen neue Kleider zu zaubern und nähen im Vorbeigehen einen Knopf an, hurtig, fast wie im Märchen.
Der höchste Feiertag der Familie ist der 1. Mai. Geschenk des Vaters: Der Sohn darf zum ersten Mal mit demonstrieren. Krönung des Geschenks: ein Paar neue Schuhe. Zu ihrem Festtag sparte Vater sich die große Ausgabe vom Mund ab. Hand in Hand gehen sie. Die Straßen sind lang, der Tag ist heiß, ungewohnt den Füßen das harte Leder. Blasen, Schmerzen, verstohlene Tränen. Der Kleine mag den Großen nicht enttäuschen. Bis der es merkt, sich lächelnd niederbeugt und die Schuhe ausziehen hilft. Die Schuhe über der Schulter, kommt der Sohn mit dem Vater nach Hause, verstaubt, müde, glücklich. Von Vaters Schultern hat er über ein Meer von Köpfen geblickt, in Gesichter, alle ähnlich dem des Vaters. Und weil Vater gut ist, ist das Meer gut, und es macht stark, wenn man darüber hinschaut, wie es wogt und sich in eine Richtung vorwärts bewegt.
Schulentlassung. Auf drei Mark ist die wöchentliche Arbeitskraft eines Lehrlings veranschlagt, vom Lehrherrn und vom Gesetz. Erstes Lehrjahr, viertes Jahr des Kriegs der großen Räuber gegen die großen Räuber. Auf Verordnung werden den Lehrlingen vom Almosenlohn Zwangsspargelder einbehalten, erpresste Kriegsanleihe von den Kleinsten der Kleinen. Der Eisengebadete muckt auf, höhnt vor den Mitgenarrten über das Zerrbild Vaterland, senkt den Keim der Unbotmäßigkeit in ihre Herzen. Der Lehrherr ermahnt, verwarnt. Umsonst. Hinauswurf aus der Schlosserlehre. Wochenlang läuft der Vater um eine neue Lehrstelle. Der Sohn soll ein ordentlicher Schlossergeselle werden; wer sein Fach beherrscht, steht besser seinen Mann im Klassenkampf. Zweite Lehrstelle, mit etwas milderen Bedingungen. Das Jahr achtzehn bricht an. Erdbeben der Oktoberrevolution rollt um die Welt. Warnung für die Herren Deutschlands: die großen Januarstreiks. Der Reifende saugt die Lungen voll von der Luft, in der Funken kommender Entladungen knistern.
Erlebnis der Novembertage. Nieder der Krieg, nieder der Kaiser - Frieden, Freiheit, Brot! Der Geprügelte, der Gehetzte, der Hungernde schreit es heraus mit Tausenden andern Drangsalierten. Er demonstriert, er denkt und fragt. Der Vater ist an seiner Seite. Klasseninstinkt wächst zum Klassenbewusstsein. Verrat sozialdemokratischer Demagogen macht ihn nicht irre, vertieft seinen Klassenhass. Schreien ist nicht viel, handeln ist mehr. Er tritt in Karl Liebknechts Freie Sozialistische Jugend ein. Je stärker die Linke, desto schwieriger der Verrat für die Rechten. "Der Sozialismus marschiert!" schreiben die an die Litfaßsäulen, aber auf den Straßen lassen sie die Generalssöldner gegen die Revolution marschieren. "Freie Bahn dem Tüchtigen!" sagen sie in den Arbeiterversammlungen, doch in der Wirtschaft verschaffen sie den alten Räubern freie Bahn zu neuer Ausbeutung. Hellwach sieht es der Sechzehnjährige, sieht, wie die Gestrigen wiederkommen, wie die alten Demagogen mit neuer Macht die Feuer der Revolution umzingeln, sie zu ersticken und auszutreten versuchen.
Die Reaktion erhebt überall ihr Haupt. Auch im Fortbildungsschulwesen. Noch immer Unterricht außerhalb der Arbeitszeit, noch immer die alten Lehrer des alten Systems mit den alten Methoden. Chauvinistische Bürgerkunde, vaterländische Lieder, monarchistische Geschichtsklitterei. Was hat die Kriegsmacher in die Knie gezwungen? fragen die Genossen der Freien Sozialistischen Jugend. Also Streik gegen die kaisertreuen Pauker, gegen jugendfeindliche Schulmethoden. Das ist die Waffe. Man muss sie aufheben, damit zuschlagen. Der Sechzehnjährige, einziger Jungkommunist in der Klasse, glüht vor Begeisterung, begeistert seine Klassenkameraden. Sie helfen ihm die Flugblätter vor der Schule verteilen, tragen das Wort Streik in alle Klassenzimmer. Es summt und brodelt in den Schulräumen. In der Pause diskutierende Gruppen, Ansammlungen, Zusammenrottungen. "Los, Anton, du musst sprechen!" Er klettert auf einen Sandhaufen, sieht von oben ihre entschlossenen Gesichter. Lehrer Musiol, Monarchist und übelster Pauker, kommt schnaufend.
"Was wollen Sie da oben, Söhnchen?"
Beklemmende Stille, erwartungsvolle Sekunde. "Zu meinen Schulkameraden sprechen, Vaterken!" Tosender Beifall, Johlen, Pfeifen. Das verknöcherte Herz voller Panik, flüchtet Musiol ins Lehrerzimmer. Beratung des verstörten Kollegiums. Bevor der junge Streikführer zu reden beginnt, schickt er Musiol einen Vertrauten nach. Der dreht zweimal leise den Schlüssel im Türschloss des Lehrerzimmers, bringt ihn triumphierend dem Sprechenden. Dessen flammende Worte reißen auch die Lauen mit, lassen sie den Forderungen der Freien Sozialistischen Jugend zustimmen. Nieder die Lehrlingsdressur und -ausbeutung, hoch die neue Zeit und ihre Arbeiterrevolution! Erlöst quellen sie auf die Straße, jubeln, als der Schlüssel in hohem Bogen ins Wasser des Engelbeckens fliegt, formieren sich zur Demonstration. In den Andreas-Sälen stoßen sie zu den streikenden Lehrlingen anderer Berliner Fortbildungsschulen.
Den Eltern flattern Strafmandate ins Haus. Auf den Scheiterhaufen mit den papiernen Einschüchterungsversuchen! Die Schulreaktion wird kleinlaut, lenkt ein. Wichtige Forderungen werden anerkannt. Die "Rädelsführer" dürfen nicht bestraft werden. Der Junge aus der Kellerwohnung hat das Fegefeuer des Klassenkampfes bestanden. Andere mit ihm. Neueintritte in die Freie Sozialistische Jugend. Die Revolution ist nicht tot, sie organisiert sich. Sie wird noch viele Stationen bis zum Sieg durchlaufen müssen.
Aus Spartakus und anderen linken Gruppen bildet sich in den letzten Tagen des Jahres achtzehn die Kommunistische Partei. Etwas später entwickelt sich ihre Jugendorganisation. Aus der Freien Sozialistischen Jugend geht der Kommunistische Jugendverband hervor. Organisator der Gruppe Südwest ist der Schlosserlehrling Anton. In der Alten Jakobstraße hat die Jugend sich ein Heim ertrotzt. Keine Gardinen, keine Teppiche, keine Sessel - ungehobelte Bänke, rohe Tische, aus Kisten gezimmerte Hocker. Zwei wurmstichige Schränke voller Bücher, herübergerettet aus einem sanft entschlafenen sozialdemokratischen Bildungsverein. Deutsche Klassiker der Poesie und Prosa. Klassiker des Marxismus. Sich die Welt erobern helfen durch das gedruckte Wort. Und bei alledem fröhlich sein, singen, spielen, musizieren. Die Gruppe wächst, erscheint auf Diskussionsabenden der Sozialistischen Arbeiterjugend, des Christlichen Vereins junger Männer, zieht dort die Besten an sich. Unvergessliche Fahrten voller Ausgelassenheit - oder mit zielstrebiger Agitation auf dem Dorf. Es gibt nichts, um das nicht gekämpft werden muss, es gibt nichts, um das nicht mit Elan gekämpft wird: um Herzen und Hirne der arbeitenden Jugend, um das Verständnis der Landbevölkerung, um das Recht auf Versammlung und Redefreiheit, um das Recht auf die Straße zu gehen. Nach allen größeren Veranstaltungen heranpreschende Überfallwagen, blitzende Tschakos, dreschende Gummiknüppel. Fahne vor, Achterreihe, unterfassen! Wenn die erste Reihe steht, steht der Demonstrationszug. Anton ist immer in der ersten Reihe, kennt bald viele Polizeireviere Berlins von innen.
Der Schlosserlehrling lernt aus, der Schlossergeselle ist arbeitslos. Trotzdem sind die Tage nicht lang genug, die Nächte zu kurz. Er stürzt sich auf die Bücher, arbeitet unermüdlich für die Organisation. Er weiß um das Geheimnis des Antäus, wünscht sich stark zu sein wie Herakles und klug wie Odysseus. Dieser Listenreiche scheint unsichtbarer Pate des Arbeiterjungen mit dem verschmitzten Mutterwitz und einem heiteren Gemüt. Tag um Tag im Dienst der Arbeitersache, scheint er alles spielend zu bewältigen, seien es Schwierigkeiten der Organisation, einzelner Jugendfreunde oder die eigenen Sorgen.
Oh, ihr Erinnerungen an die unbekümmerten Streiche! Ob Knubbel noch daran denkt, wie sie im Kopfsprung vom Geländer der Waisenbrücke in die Spree sprangen, hart an der Gefahr vorbei, sich das Rückgrat zu brechen, nur um den Haufen zeternder Zuschauer aufzuregen? Wie sie beide auf dem dünnen Eis der Spree tanzten, zum Gaudium der Freunde und zum Ärger der Polizisten, bis Knubbel einbrach, von Anton ans Ufer gezerrt und dann ins Kino gelotst wurde, damit er dort trockne und die Eltern nichts merkten? Oder die stillen Sonnenstunden auf dem flachen Dach ihrer Mietskaserne, wo sie eifrig das Kommunistische Manifest studierten. Wie viel Sommerabende der Gruppe im Köllnischen Park, mit Liedern, Musik und Hunderten Zuhörern, denen der Unermüdliche stets eine politische Rede aus dem Stegreif obendrauf gibt, bis ein Warnpfiff die nahende Polizei angekündigt. Herrlich, im Lunapark die überschüssige Kraft am Haut-den-Lukas auszutoben, kreischend die Wasserrutschbahn hinabzuscbießen, im bayerischen Bierzelt zu jodeln und zu schuhplatteln, wie er es auf der Walze gelernt hat. Oder die Winterabende auf dem Weihnachtsmarkt. Reizen Raritätenkabinett und Zerrspiegel nicht, Allotria zu treiben? Wo ein leerer Stand ist, stellt sich der Spaßvogel hinter den Ladentisch, bringt wie ein Ausrufer in witzigen Sätzen die Politik der Partei an den Mann. Sein lachendes Publikum bedauert es nur, wenn dem Pseudoausrufer die Puste ausgeht. Ja, so war es, und es ist gut, dass es so war. Lachend kämpft es sich besser, und die Jugend mag jene Grämlichen nicht, die ihre Last sichtbar vor sich hertragen mit der Miene des Märtyrers. Das Leben ist Kampf, das des erwachten Proletariers Klassenkampf. Lebt man ihn vor, überzeugt man; lebt man ihn heiter vor, reißt man mit. Wie kann einer traurig sein, wenn er weiß, dass die Arbeiter siegen! Niemand kämpft, wenn er nicht an den Sieg glaubt, am allerwenigsten die Jugend. Wer ihr das rechte Verhältnis bietet zwischen Lehre und Tat, der ist ihrer Taten sicher, der ist ihrer Treue auch in Niederlagen gewiss. Ja, sie haben manche Schlappe in jenen Tagen eingesteckt, aber gegen jeden Misserfolg stand auch ein Sieg. Nie wird der Besitzer der Oranien-Lichtspiele die Aktion der Arbeiterjugend gegen einen antisowjetischen Film vergessen, die Antons Gruppe organisiert hat. Es wimmelt an diesem Abend in der Flimmerbude von farbenfrohen Mädchenkleidern, von Windjacken und Manchesterhosen und - von Uniformen. Die Polizei hat Wind bekommen. Die Sipos stehen mit heruntergelassenem Sturmriemen vor dem Eingang, am Durchlass und in den Kinogängen. Reklame, Kulturfilm, Wochenschau. Harmlos beginnt das Machwerk, plötzlich kommen die Krallen aus den Sammetpfötchen, unverhohlene Tendenz gegen die Sowjetunion, gegen alles Fortschrittliche. Die ersten Protestrufe, Warnungspfiffe der Polizisten, Gummiknüppelklatschen. Im Kino wird es hell. Die Polizei drischt, eingekeilte Besucher protestieren, Tschakos poltern zu Boden, die Jugend ruft in Sprechchören, die Jugend singt! Auf der Straße Fortsetzung. Jugendliche werden auf die Flitzer gestoßen. Der Haupttrupp marschiert, mehrmals auseinandergeschlagen, mit Gesang über den Oranienplatz; zum Heim in der Alten Jakobstraße. Manch einer hat von den Gummiknüppelhieben Striemen auf Schultern und Rücken, aber alle haben blitzende Augen: "So müssen wir es immer machen!"
Ja, singend widerstehen. Wer vorn geht, muss singen können, und wer immer vorn ist, wird bald bekannt: Anton wird in die Bezirksleitung des Jugendverbandes gewählt.
Arbeitererhebung, Mitteldeutschland zusammengeschossen, Hamburger Aufstand niedergeschlagen. Düstere Zeit der Illegalität. Partei verboten, Jugendverband verboten, Zentralorgan verboten. Die "Rote Fahne" erscheint trotzdem. Der auf Herz und Nieren Geprüfte ist einer von denen, die es möglich machen. Vor der Parteidruckerei stehen die Sipos. Nachts transportiert Anton mit andern Draufgängern die Zeitungspacken über die Dächer. Die Sipo besetzt die Maschinenräume. Druck in einer befreundeten Druckerei. Wie die Stereos aus der Parteidruckerei dort hinbringen? Alle aus- und einfahrenden Gefährte werden kontrolliert. Die Verwegenen binden sich die Platten über den Leib, verlassen das Haus als harmlose Besucher. Auch diese List wird eines Tages entdeckt. In kleinerem Format erscheint das Zentralorgan dennoch. Diesmal hilft der verbotenen Partei ein sympathisierender Druckereibesitzer. Er "weiß von nichts", falls die Sache platzt, überlässt er den Eingeweihten einen zweiten Schlüssel seiner kleinen "Quetsche" auf dem Hinterhof in der Gitschiner Straße. Spätabends huschen dort Schatten durch die Toreinfahrt, die illegale Schicht beginnt. Die kleine Presse spuckt Bogen auf Bogen aus mit einem Inhalt, der sich verteufelt anders liest als der, den sie brav des Tages von sich gibt. Der an Eisen Gewöhnte ist schnell heimisch im Reich der Bleibuchstaben. Sein Wissen um diese Dinge wird ihm noch öfter zustattenkommen. Sechsundzwanzig Zeichen, harmlos und winzig, bergen revolutionäre Sprengkraft - wenn man sie zu den richtigen Sätzen zusammenfügt. Er hilft, wo flinke Hände gebraucht werden: beim Bogenfangen, Abzählen, Abpacken. Vor Morgengrauen erscheinen neue Schatten, lautlos, auf die Sekunde. Kuriere der einzelnen Unterbezirke holen die fertigen Packen. Die "Rote Fahne" erscheint, die Partei lebt!
Eines Nachts ist die Polizei da. "Hände hoch!" Bullen umringen die kleine Schar. Handschellen klicken. "Abführen!" Der Trupp wird über den Hof gejagt, auf den vorfahrenden Flitzer gestoßen. Einer fehlt. Anton ist ein paar Minuten später gekommen und entgeht der Verhaftung. Er alarmiert die Partei, der illegale Apparat kann gesichert werden.
Das ZK des Jugendverbandes weiß, dass Anton gefährdet ist. Er muss weg vom heißen Berliner Pflaster, wird als Kurier nach Bayern geschickt, um gerissene Fäden zu knüpfen. Nach einigen Tagen haben ihn die Häscher. Zufall, Verrat? In Nürnberg bekommt er drei Monate aufgebrummt wegen "Weiterführung einer verbotenen Organisation". Mit zwanzig Jahren ist er Strafgefangener, Verurteilter jenes Klassenstaates, der sich Weimarer Republik nennt. Nach der Entlassung erfragt Anton beim Jugendverband die Berliner Situation. Besser noch fortbleiben, lautet die Antwort, und so geht er mit einem Jugendgenossen auf die Walze durch Bayern und Württemberg.
Endlich kehrt er zurück in die Heimatstadt. Die Gruppe empfängt ihn mit Liedern, Blumen, Musik; die Familie strahlt. Partei und Jugendverband sind noch immer verboten, doch es gibt legale und halblegale Möglichkeiten. Da ist das proletarische Jugendkartell mit seinen Wander- und Sportorganisationen. Ein weites Feld, ein gutes Feld, wenn recht geackert wird. Die Besten sind nicht nur bereit, den Marxismus zu studieren, sie lernen auch begierig das Abc des bewaffneten Aufstands. Es wird wieder eine revolutionäre Situation geben, man muss vorbereitet sein.
Am 21. Januar 1924 stirbt Lenin. Tiefe Trauer in allen Arbeiterherzen. Schmerz wird Ansporn und Tat. Wenn der Größte fällt, müssen tausend andere in die Bresche springen.
Die Sowjetmacht ist in sicheren Händen, das Vaterland aller Werktätigen festigt sich. Noch im Jahre einundzwanzig hat Anton mitgeholfen bei Solidaritätsaktionen für das vom Interventions- und Bürgerkrieg geschüttelte Land. Jene überfüllte Kundgebung im Sportpalast: "Hände weg von Sowjetrussland! - Helft den Sowjetmenschen!", war auch sein Werk. Jetzt wird er eingeladen, ist einer der Delegierten des Jugendverbandes zum V. Weltkongress in Moskau. Voll unvergesslicher Erlebnisse kehrt der junge Delegierte zurück. Er wurde Ehrensoldat eines Schützenregiments. Von nun an betrachtet er sich für immer als Soldat der Roten Armee.
Bald darauf heiratet Anton. Er war ein Arbeiter, und sie hatte auch nichts, umreißt proletarischer Galgenhumor solche Ehestandsgründungen. Aber was tut' s? Gemeinsam kämpft es sich besser. Er wird in die Partei aufgenommen, und an die Stelle des Wirkens unter der Jugend tritt jetzt Gewerkschaftsarbeit und füllt das Leben des Berufsrevolutionärs aus.
Am 1. März 1924 war das Verbot der Partei aufgehoben worden. Die Bourgeoisie fühlt sich stark. Die Beendigung der Inflation ist der Auftakt zur "Epoche der relativen Stabilisierung", wie die Partei es einschätzt. Mit dem Dawesplan fließt amerikanisches Kapital nach Deutschland. Die Betriebe werden rationalisiert, die Ausbeutung wird verschärft. Aber die Reformisten faseln vom "Silberstreifen am Horizont", wollen "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" sein. Anton, einer der jüngsten Kollegen im Deutschen Metallarbeiterverband, enthüllt unermüdlich den Verrat der Bonzen, zerstört die Illusionen vom "friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus". Das Vertrauen der Kollegen entsendet ihn als Delegierten zum Verbandstag. In Bremen, der Stadt stählerner Schiffsleiber, ragender Kräne und rußiger Werftschmieden, hämmert er seine Sätze in den Saal, spricht die Sprache der Männer vom Eisen. Jetzt schlagen die Gewerkschaftsbürokraten zu. Statuten, Mehrheitsbeschluss, parlamentarische Spielregeln? Naives Geschwätz. Demokratie ist, was uns nützt. Diese Demokratie ist für uns und für unsere Partner, die Herren des Stahls. Anton wird gleich vielen Aufrüttlern aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Keine leichte Situation für die Partei. Was soll mit den Ausgeschlossenen geschehen? Man muss sie zusammenfassen für einen neuen Kampfabschnitt, so entsteht die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO). Anton wird im Ruhrgebiet einer ihrer leitenden Funktionäre. Der Talmiglanz des "Silberstreifens" verblasst. Geschürftes Eisenerz rostet, gehobene Kohle türmt sich zum Albdruck eines miserablen Systems. Die all den Überfluss schaffen, der ihr Elend gebiert, murren. Sie murren in den Schächten, vor den Hochöfen, auf den Stempelstellen. Das Murren wird deutlicher, wird Sprache. Wo sie gesprochen wird, spricht die Partei, bekommt sie die Gewalt schlagender Wetter. Diese Sprache heißt passive Resistenz, Massenstreik, Hungermarsch, Verbrüderung mit belgischen und französischen Kumpeln. Ernst Thälmann sagt: Der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse, der die Weltwirtschaftskrise einleitet, ist das Menetekel der kapitalistischen Welt. Die Stimme der Partei ist nicht mehr zu überhören.
Sie hören gut, die Herren von Kohle und Erz. Ihr Gehör ist so empfindlich, wie ihr Gewissen robust ist. Vom Elend der Millionen ungerührt, rührt sie das Elend ihrer Krise ungeheuer. Diesem Elend zu steuern, opfern sie gern fünf Pfennig pro verkaufte Tonne Kohle dem, der raffinierter schwätzt als die alten Quacksalber. Ein Dutzend Jahre auf sein Stichwort wartend, hat Hitler aus allen Zauberkästen der Welt das Schillernde stibitzt, braut benebelnden Weihrauch der Phrasen. Wer aber kommt und ihm nicht glaubt, für den hält er harte Tatsachen bereit: die Stahlrute über den Schädel!
Deutschlands Arbeiterklasse wehrt sich gegen den Würgegriff der unheiligen Dreieinigkeit, gegen die Fürsten der Monopole, ihren braunen Reklame- und Prätorianerchef und dessen abservierte Vorgänger beim Volksbetrug, die, unbelehrbar, noch immer nur eines hassen: die Arbeitereinheit. Anton, der junge Gewerkschaftsfunktionär, einer der zähesten Gegner der Braunen, schenkt sich keine Ruhe, und die Braunen schenken ihm ihren Hass. An manchen Tagen spricht er auf zwei Naziversammlungen als Diskussionsredner. Ihr Geschwafel zu widerlegen, ist nicht schwer, aber sie stellen Bedingungen, befristen die Redezeit, und immer liegt der Totschläger bereit. Dagegen helfen nur antifaschistische Solidarität und Kaltblütigkeit. Die bewahren Anton vor mancher Wunde, verderben ihnen manche Versammlung. So auch im Saalbau Essen. Wie üblich, haben die Braunen für das eingeladene Volk nur die Saalmitte freigegeben, die Seiten sind von SA besetzt, die noch auf Verstärkung wartet. Diesmal misslingt diese Taktik. Der Saalbau ist von der Antifa abgeriegelt worden. Anrückender SA-Nachschub verzettelt sich beim Kleinkrieg in den Arbeiterstraßen. Die Saalmitte erzwingt eine halbe Stunde Redezeit für ihren Diskussionsredner. Überlegen zertrümmert Anton die Demagogie des Referenten, des Herrn Nazigauleiters Kaufmann. Eine halbe Stunde ist wenig Zeit, grundsätzlich abzurechnen. Trotzdem zwingt sich Anton, ruhig und klar zu sprechen. Langsam sickern SA-Verstärkungen in den Saal, die Ersten, die sich durchschlagen konnten. Der junge Kommunist sieht auf die Uhr. Er schenkt ihnen zwei Minuten und stiehlt ihnen den Triumph. Seine Schlussworte lassen nichts anderes zu, als dass alle in der Saalmitte aufstehen und die Internationale anstimmen. Singend verlassen sie den Saal, decken sich gegen die andringende SA durch Stühle und Tische.
Goebbels kauft sich Herrn Kaufmann, kanzelt ihn ab. Ein fünfzehn Jahre jüngerer Kommunist hat ihm eine Niederlage bereitet! Der Herr Gauleiter vergisst es nie. Zwei Jahre später wird er persönlich Rache nehmen.
Solche Erfolge sind bestes Bindemittel der Einheitsfront, die sich von unten anbahnt. Die SPD-Arbeiter hegen manchen Vorbehalt gegen die Kommunisten. Trotzdem, es muss gelingen, Arbeitereinheit heißt Arbeitersieg. Nicht jeder Antifaschist vermag seine Gefühle zu meistern. Die Partei weiß um terroristische und sektiererische Strömungen. Sie verstärkt die ideologische Offensive. Anton liest, studiert, wann er kann, wo er kann. Er ist kein Wunderkind, dem alles zufliegt, er leidet unter dem Zeitmangel und kann nicht ahnen, dass ihm der Gegner bald viel Zeit zudiktieren wird, theoretische Lehrstunden nachzuholen. Zeit ist so knapp, weil die Zeit so viel fordert. Individualisten sagen: die Partei. Verlangt eine gute Mutter nicht das Meiste von ihren besten Söhnen?
Selbstloser Einsatz bringt höhere Verantwortung. Anton wird Organisationsleiter des Bezirks Wasserkante der KPD, arbeitet nun in Hamburg, der Heimatstadt Thälmanns, mit bewährten Genossen wie Edgar Andre, Fiete Schulze, Franz Jacob und Bernhard Bästlein zusammen. Das Meerwasser ist bitter an der Pforte zum Ozean. Verrostende Schiffe, stillliegende Werften, unbewegliche Kräne: Weltkrise des Kapitalismus!
Auch die nicht hören wollen, können die Mahnung der Partei an Bretterwänden und Häusermauern lesen: "Hitler heißt Krieg!" Anton setzt sich ein bis an die Grenzen seiner Kraft, und mit ihm Tausende Genossen. Dennoch, die stickigen Bodennebel der braunen Nacht wälzen sich bereits über Deutschland. Brüning-Notverordnungen sind durch Papen-Notverordnungen übertrumpft; der forsche Herrenreiter wird vom Kanzler-General Schleicher aus dem Sattel gehoben. Dessen Traum, militärischer Ständestaat mit den Gewerkschaften, zaubert die Tatsache nicht hinweg: Nazis bei den Novemberwahlen 1932 an die 500000 Stimmen verloren, Kommunisten etwa die gleiche Anzahl gewonnen! Jetzt hilft den Herren kein sozial mümmelnder General mehr, jetzt hilft nur noch Hitler. Schacher hinter den Kulissen. Auf den Straßen die Stimme der Partei: Generalstreik - Einheitsfront! Da gibt Hindenburg, der Kommisskopf auf dem Präsidentenstuhl, dem schwärzesten Tag der neuen deutschen Geschichte seinen Segen.
Der braune Terror rast in den Arbeitervierteln. Die Partei winselt nicht. Verschleppen, schlagen, foltern. Die Partei widersteht. Regierungslügen, Zeitungslügen, Radiolügen. Die Partei ruft, mahnt, sammelt. Reichstagsbrand. Die Partei entlarvt. Terrorwahlen im März. Die Partei ringt um jede Stimme. Der Braunauer erreicht nicht die parlamentarische Mehrheit. Er kassiert die kommunistischen Mandate. Die bürgerlichen Parteien "ermächtigen" ihn, die Gewerkschaften werden gleichgeschaltet. Die KPD kapituliert nicht.
Anton arbeitet illegal weiter. Ein Soldat der Revolution hebt nicht die Hände. Am Geburtstag Thälmanns, des kurz zuvor Verhafteten, teilt er dessen Geschick. An diesem 16. April übermittelt Anton fünfzig Mark Solidaritätsspende für Rosa Thälmann. Wenige Stunden später ist er von Gestapo-Bullen umringt. Die Hölle beginnt.