Читать книгу Keiner wird als Held geboren - E.R. Greulich - Страница 8
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ОглавлениеUnablässig horchte Anton unter den Kunden Höhlers herum und entdeckte die für ihn ideale Firma. Ihr Inhaber, Herr Sendler, trug das Parteiabzeichen immer schön sichtbar, aber er hasste die Nazis. Vor dreiunddreißig hatte er nie einer Partei angehört, sich aber immer für einen Demokraten gehalten. Später sollte Anton erleben, dass das, was der Mann von sich nur sehr ungefähr glaubte, präzise stimmte. Drei Wagen seines Unternehmens hatte er bei Höhler zu stehen, und Anton bediente ihn besonders akkurat, nachdem er an manchem scheinbar leichthin gesagten Wort erfühlt hatte, wie Sendler wirklich dachte. Sehr bald hatten sie kurze Unterhaltungen in jener zeitgemäßen Sprache, die dem Wissenden alles sagte, aber zu keiner Belastung ausgereicht hätte. Hauptsächlich für sich privat benutzte Herr Sendler den Ford. Den Horch vermietete er für Überlandfahrten, und der Framo war begehrtes Aushilfsgefährt für eilige Transporte. Fahrer des Letzteren zu werden, betrachtete Anton als die Gelegenheit.
Nachdem er mit Herrn Sendler bekannt genug war, machte er eine entsprechende Andeutung. "Hm", sagte der mittelgroße Mann mit der Hornbrille und sog überlegend an der Zigarre, "Sie sind zuverlässig. Aber einer Sympathie zuliebe kann ich keinen Fahrer auf die Straße setzen."
"Nein, so nicht", bekräftigte Anton. "Ich wollte Ihnen nur für den Notfall andeuten ... "
"Schade", unterbrach Herr Sendler, "dass mein Laden keinen Privatchauffeur trägt, sonst würde ich Sie sofort für den Ford einstellen. Es ist immer gut, einen Menschen um sich zu haben ... "
"... der nicht quatscht", vollendete Anton.
"Und einen, der weiß, was uns nicht guttut." Ehe Sendler einstieg, murmelte er wie im Selbstgespräch: "Neue Wagen sind jetzt rar, unsere Führung scheint allerhand vorzuhaben."
Aus dem heruntergekurbelten Fenster grüßend, sagte er leise: "Ich behalte das im Auge." Sanft glitt der Wagen aus der Garage.
Einige Zeit später wurde Erich Balusik eingezogen, der Fahrer des Horch. Balusik war SA-Mann. Nach allem, was er erhofft und nicht erlangt hatte, reichte seine Begeisterung gerade noch für die großen Staatsfeiertage mit Flaggen Tamtam und Freibier. Unter dem Eindruck der soeben erhaltenen Einberufung suchte er Trost bei den Dreien in der Werkstatt. Die verhehlten ihre Schadenfreude nur schlecht. Anton kam hinzu, als Emmerich Kohsel gerade dozierte: "Politik bringt eben nichts ein. Da bist du marschiert, hast auf Versammlungen gesessen, hast schießen gelernt, und nun musst du los!"
"Quatsch", entgegnete Balusik ärgerlich, "wenn du mein Jahrgang wärst, müsstest du auch."
"Aber meiner ist nicht dran", beharrte Kohsel, "und bis es soweit ist, nutze ich die Zeit mit Fachschulbesuch."
"Die Fachschule nützt dir einen Dreck, wenn du im Schützenloch hockst."
"Der Führer will keinen Krieg", erinnerte Ehmsen sanft.
"Jawoll", bestätigte Barkereit, "und zwei Jahre Dienstzeit sind für einen jungen Mann nicht das schlechteste. Keine Sorge ums Essen, Schlafen, Taschengeld. Frische Luft und Gymnastik - das hält gesund."
"Da solltest du dich freiwillig melden", knurrte Balusik.
Barkereit feixte. "Würde ich, wenn ich nicht zwei Kinder hätte und wenn ich in der SA wäre."
Balusiks Seele war voll Weltschmerz. "Und für so was hält man nun den Kopf hin."
"Jede Kugel trifft nicht - immer gleich den Kopf", ergänzte Anton eins der dümmsten Worte jener Tage doppelsinnig.
Balusik nahm es für echten Trost. Er sah Anton dankbar an und bekräftigte: "Genau, Kamerad. Und ihr könnt euch drauf verlassen, dass ich meinen Kopf immer recht schön unten halten werde."
Mit diesem Gelöbnis, das den andern nicht ganz im Einklang mit SA-Heldenmut zu stehen schien, verließ er die Werkstatt und bestieg zum letzten Mal den Horch. Etwa einen Monat später war er tot. Er fiel bei der Eroberung von Warschau. Es war keine Kugel, die ihm das Lebenslicht ausblies, und es war auch nicht sein schlauer Schädel, der getroffen wurde. Den hatte der brave Balusik getreu seinem Vorsatz tief unten gehalten, als er von seinem Fouragewagen in den Chausseegraben retiriert war. Der Splitter eines Granatwerfergeschosses zerfetzte ihm die Gedärme. Und ehe das qualvolle Ende kam, hatte sein heil gebliebener Kopf noch Zeit, viel zu viel entsetzliche Zeit, darüber nachzudenken, dass eine winzige Kugel nur eine der tausend Möglichkeiten darstellt, vom Krieg getötet zu werden.
Gegen Abend fuhr Sendler seinen Ford in die Garage. Ohne viel Worte wurde Anton mit ihm einig, und Sendler sagte abschließend: "Sie wissen, dass ich Ihnen vertraue. Aber auch dem besten Fahrer kann ein Verkehrsunfall zustoßen."
Anton verstand. "Wenn einmal", fuhr Sendler fort, "dann bitte möglichst so, dass ich dabei nicht mit unter die Räder komme."
Anton drückte ihm die Hand. Jedes beteuernde Wort hätte den Eindruck bei Sendler nur abschwächen können.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erkannte Anton, dass sich die Dinge des Berufs - auch im Hinblick auf künftige illegale Arbeit - schneller geregelt hatten als der Anschluss an die Partei. Vor zehn Jahren hatte er noch einen großen Bekannten- und Freundeskreis in Berlin gehabt. Darunter gab es kommunistische Reichstags- und Landtagsabgeordnete, mittlere und höhere Parteifunktionäre, Kommunalpolitiker und Gewerkschaftsleute. Die saßen jetzt in Konzentrationslagern, Zuchthäusern, hatten emigrieren müssen oder waren umgebracht worden. Es blieben Antons Angehörige und damals weniger hervorgetretene Genossen. Die Mutter war tot, Schwester und Schwager kamen nicht in Betracht. Alle früheren Bemühungen Antons, aus der Schwester eine Genossin zu machen, waren fehlgeschlagen, und dem Mann, den sie dann heiratete, mangelte es ebenfalls an Klassenbewusstsein. Damals wie heute lebten beide kleinbürgerlich "unpolitisch". Bei ihnen vorerst zu wohnen und gemeldet zu sein, war günstig. Aber der Schwesternliebe und seiner Sicherheit wegen musste Anton dort den "Vernünftiggewordenen" spielen. Der Vater hatte Verbindung zu einer Gruppe gehabt, durch die er hin und wieder Material bekam. Nach einer Verhaftung war der Kontakt jäh abgebrochen, und es blieb ratsam für Emil Born, sich nach dieser Seite hin tot zu stellen. Jetzt hatte der Vater auf die Bitte Antons begonnen, systematisch und vorsichtig all jene Genossen unter die Lupe zu nehmen, von denen er annehmen konnte, sie hätten noch Verbindung zur Partei. Bisher ohne Erfolg. Bei einigen war es ihm ähnlich ergangen wie bei der Suche nach Elsbeth, einige waren passiv geworden, und vom Rest stand Endgültiges noch aus, weil es oft Tage brauchte, ehe es gelang, ihnen an einem sicheren Ort unter vier Augen "auf den Zahn zu fühlen". Unter diesen Umständen war es für Anton tröstlich, an Nitte zu denken.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich sehr sputen musste, wollte er den vor dem Kino wartenden Nitte nicht enttäuschen. Er kam dennoch zu spät, und sie versäumten die Wochenschau. Als sie nach der Vorstellung durch die abendlichen, still werdenden Straßen gingen, war Nittes Groll über die Verspätung seines Freundes längst verraucht. Anton setzte - immer die Handlung des Films zum Ausgangspunkt nehmend - die politische Schulung des Jungen fort, die er vor Kurzem begonnen hatte. Nitte, ein dankbarer Zuhörer und kritischer Frager, wuchs hinein in politische Einsichten. Er wäre erstaunt gewesen, hätte ihm jemand gesagt, er erhalte Unterricht im Abc des Marxismus, ohne die von den Nazis gehassten marxistischen Termini zu hören. Sie hätten den Unerfahrenen bei irgendwelchen Zufällen nur in Gefahr gebracht. Auch in dieser Hinsicht hätte er kaum einen besseren Lehrer finden können. Sechs Jahre hinter Mauern für die Partei wirkend, hatte Anton gelernt, "die verfluchte Sklavensprache" zu gebrauchen.
An diesem Abend spürte Nitte, dass sein älterer Freund weniger konzentriert antwortete als sonst.
"Schon 'n paar tausend Jahre", räsonierte Nitte, "und warum haben's die vielen nich erkannt?"
"Welche vielen?" Anton fuhr auf aus seinem Grübeln.
"Die nischt haben."
"Was nicht erkannt?"
"Dass sie von den wenijen, die allet haben, unten jehalten werden!"
"Ich hab' dir doch von Spartakus erzählt und vom deutschen Bauernkrieg."
"Na ja, aber meistens haben sie's nich erkannt."
"Zwei-, dreitausend Jahre sind für die Weltgeschichte ein Jahr, ein Menschenleben ein Tag. Wissen wächst langsam."
"Aber nu weeß man's doch endlich, und immer noch sind die Meisten so dämlich."
"Unwissenheit hat viele Wurzeln, man kann sie sogar züchten."
"Kapier ick nich."
Anton vergaß das Grübeln. "Wovon lebt Höhler?"
"Vom Beschiss."
"Höflicher ausgedrückt, hauptsächlich von der Unwissenheit jener Menschen, die Auto fahren, aber keinen Dunst von einem Motor haben."
"Ein Glück, sonst wär'n wir alle arbeitslos."
"Lass die Witze. Wenn alle Autofahrer mit dem Motor Bescheid wüssten, müssten trotzdem Autos repariert werden, aber die Höhlers könnten sie nicht mehr so übers Ohr hauen."
"Stimmt."
"Warum kümmern sie sich also nicht um die Gesetze der Mechanik und Explosionskraft und lassen sich lieber betrampeln?"
"Weil's bequemer is."
"Da hast du selber die Antwort auf deine Frage, warum so viele nichts wissen über die Politik, das heißt Staatskunst. Sie sitzen im Wagen und scheren sich den Deubel, woher er kam, warum er fährt, wohin er fährt. Der Fahrer, heute genannt Führer, wird schon lenken. Der lenkt auch, bloß nicht für die vielen im Wagen, sondern für die Wenigen vorn erster Klasse, die ihm zuflüstern, wohin die Reise zu gehen hat."
"Hm", Nittes Stirn bekam mehrere Falten, "also die Bequemlichkeit ist schuld."
"Das ist eine Ursache. Es gibt noch tausend andere."
"Sag mal eine."
"Zum Beispiel reden die Erster-Klasse-Herren denen hinten dauernd ein, lenken sei so schwer, das könnten nur Auserwählte wie sie und ihr Führer."
"Das is nu aber gar nich dämlich."
"Eben. Würden nämlich die Dritter-Klasse-Brüder fahren lernen, möchten sie sich womöglich ans Steuer setzen und selbst bestimmen, wohin die Reise gehen soll."
Dieses zwar primitive, aber für einen Autoschlosserlehrling handgreifliche Bild bereitete Nitte Vergnügen. "Nu kommt mir ooch 'n Ahnismus, weshalb Se mir schon die janze Zeit immer so viel ausnanderklamüsern."
Anton knuffte den Jungen freundschaftlich. "Pass auf, Nitte, wir gehen jetzt Richtung Heimat, ich hab' noch allerhand zu überlegen, weil ich morgen kündigen will."
"Nee." Der Junge war stehen geblieben und sah den Älteren verstört an.
"Ich bleib' auf dem Hof", begütigte Anton, "werde an Stelle Balusiks Sendlers Horch fahren."
"Denken Se, Sendler beschubst nich?" bockte Nitte.
"Möglich", stimmte Anton zu, "aber wenn du mehr verdienen könntest, würdest zu verzichten?"
Nitte knurrte und schnuffelte enttäuscht. Es zeigte Anton, wie stark der Junge sich ihm verbunden fühlte. Man muss ihm etwas Gutes sagen, dachte Anton. "An unseren Kinobesuchen und Unterhaltungen wird sich nichts ändern, Nitte. Im Gegenteil, wir werden noch bessere Freunde."
Nitte schaute skeptisch.
"Hand drauf, und von jetzt ab sagst du nicht mehr Sie, wenn wir unter uns sind."
Anton hatte sich von Nitte getrennt, um die Kündigung zu überdenken, statt dessen beschäftigte ihn nun der Junge. In kurzen Wochen waren keine überzeugten Klassenkämpfer zu erziehen. Und da waren Millionen Nittes. Nitte war noch ein günstiger Fall. Von systematischer Verseuchung durch Jungvolk und Hitlerjugend konnte bei ihm kaum die Rede sein. Seine Misere des Umhergestoßenseins instinktiv ausnützend, hatte sich der Junge der NS-Dressur meist zu entziehen gewusst. Außerdem war Anton mit Nitte durch die Arbeit zusammengekommen, der günstigste Boden auf dem Freundschaft, Vertrauen und Überzeugung wachsen. Wie viel schwieriger war es schon bei den Dagmars. Ärgerlich spürte Anton, wie ihn diese Überlegungen nervös machten.
Hoffentlich verlief mit der Kündigung alles reibungslos.
Höhler würde nicht davon erbaut sein, noch weniger Frau Bräutigam. Was sie für ihn getan hatte, war nicht für den ehemaligen KZler Born geschehen. Sie hatte einen Blick für fähige Leute, und er hatte sie nicht enttäuscht. Wurde die Bräutigam verärgert, konnte sie ihm Schwierigkeiten bereiten. Wie musste er sich verhalten, um friedlich mit ihr auseinanderzukommen?
Am andern Morgen ging Anton gleich nach Arbeitsbeginn ins Kontor.
"Raten Sie mir, was ich tun soll", sagte er zu Vera Bräutigam, "ich kann mich verbessern."
Sie war gekränkt. "Ich habe Ihnen geholfen, den Führerschein zu behalten, und sie verlangen die Flebben."
"Für Ihre Gefälligkeit bin ich Ihnen dankbar und habe auch immer eine saubere Arbeit hingelegt."
Sie wollte nicht kleinlich erscheinen und bemühte sich um einen freundlicheren Ton. "Wo wollen Sie anfangen?"
"Bei Sendler, den Horch fahren. Balusik ist zu den Fahnen des Führers gerufen worden."
"Dem SA-Kacker gönne ich das."
Sie führte ihre Zigarettenspitze langsam an die sehr roten Lippen, stieß ein blaues Wölkchen in die Luft und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Ging es ihm nur ums Geld? Sie sollte ihm die Kündigung nur nicht zu billig machen. "Man verliert nicht gern einen zuverlässigen Arbeiter. So was muss gut überlegt werden."
"Mir eilt es sehr", sagte Anton. "Sendler hat es so eingeteilt, dass ich abends zweite Schicht fahren kann, bis meine Kündigung hier geklärt ist. Aber das ist natürlich kein Dauerzustand." Eine Falte des Missmuts stand zwischen seinen dunklen Brauen.
Was nützte es ihr, ihn zu verärgern. "Na schön, ich werde mit dem Arbeitsamt telefonieren. Vielleicht kriegen wir heute schon Ersatz, dann mache ich Ihre Papiere fertig. Dem Chef werde ich's schon irgendwie beibiegen. Am besten, wenn der Neue da ist."
Anton war freudig überrascht. Erleichtert verließ er das Büro. Anderthalb Stunden später trat der Nachfolger Anton Borns mit vorschriftsmäßigem Hitlergruß ins Büro. Erich Wittig war jünger als Born. Wie er Vera Bräutigam mit seinen schnellen Augen ansah, machte sie unruhig. Einen Führerschein hatte er nicht, erklärte aber flott, das ginge schnellstens nachzuholen, denn fahren könne er. In der SA oder in der Partei war er nicht. Die Art, wie er sie betrachtete, verursachte ihr Prickeln unter der Haut. Wittig scheint ein Windhund zu sein, dachte sie.
Am Samstag, Anton hatte eben den Horch an seinen Garagenplatz bugsiert, kam Nitte geflitzt. "Frau Bräutigam will dich sprechen."
Anton dachte beunruhigt, hoffentlich ist ihr die Kündigungsgenehmigung nicht leid geworden. "Weißt du, was sie will?"
"Nee. Ich soll bloß aufpassen, dass du ihr nicht durch die Lappen gehst. Da kommt sie schon."
Vera Bräutigam war nicht in bester Stimmung. Sie fragte Anton, ob er ihr zuliebe einmal Sonntagsarbeit übernehmen und sie morgen früh nach Karolinenhof fahren würde.
"Doch wohl Sie und den Chef", mutmaßte Anton.
Im Gegenteil, bekannte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Nitte wieder an seine Arbeit gegangen war. Der Höhler mache wieder einmal eine Extratour, weil sie sich wegen der Kündigung gezankt hätten. Er behaupte, sie tue brav, was Born verlange. Und dafür gebe es keine andere Erklärung, als dass sie etwas mit ihm habe. Lächerlich, aber er besuche jedenfalls morgen eine Flamme, obwohl die Fahrt nach Karolinenhof schon verabredet gewesen sei.
"Können Sie segeln?" fragte sie unvermittelt.
"Nein", gestand Anton, war sich aber sofort klar, dass es unklug wäre, die Gefälligkeit abzulehnen. Welche Gründe ihre plötzliche Bitte auch haben mochte, für ihn war es wichtig, sich Vera Bräutigam nicht zur Feindin zu machen. Deshalb lenkte er ein: "Aber es muss großen Spaß machen. Haben Sie ein Boot?"
"Eigentlich gehört es Höhler. Doch wenn ich nicht ab und zu hinausfahren würde, wäre es weggeschmissenes Geld."
"Wenn Sie sich mit einem Laien herumquälen wollen? Von mir aus können wir morgen ganz früh starten."
"Sagen wir um halb sechs", schlug sie vor, "mit dem Horch sind wir in einer guten halben Stunde draußen."
Um fünf Uhr früh lag die Stadt still, atmete aus allen Poren Sonntagsschlaf. Hallende Schritte eines einsamen Fußgängers machten die feierliche Ruhe noch deutlicher. In den Anlagen funkelten tausend kleine Sonnen im Tau. Es roch nach frischem Gras und feuchter Erde. Vera Bräutigam kam durch den breiten Mittelgang des Parks. Anton, der bereits getankt hatte, fuhr vom Garagenhof und wartete an der Bordschwelle. Er begrüßte sie und verstaute ihr Köfferchen. Sie hatte sich fein gemacht. Im Rückspiegel prüfte sie den Sitz der Frisur.
Es fuhr sich gut über die leeren Straßen. Der Asphalt sirrte unter den Reifen. Auf dem Adlergestell fuhren sie eine Weile in gleicher Höhe mit einem S-Bahn-Zug. Er war nur mäßig besetzt. Ein Pärchen schaute eng aneinandergeschmiegt aus einem Fenster, sah hinüber zu denen im Wagen.
In Karolinenhof ließ Anton den Horch auf dem geräumigen Parkplatz ausrollen. Das große, villenartige Haus lag hinter seinem Efeugrün noch im Schlaf. Der Hausvater war nicht zu sehen. Vera Bräutigam schloss im Garderobenraum ihren Schrank auf. Sie bepackte Anton mit Trainingsanzügen, Decken, Luftmatratzen, klemmte sich selbst einiges unter den Arm und ging vor ihm her zum Bootssteg. Dort legten sie ihren Kram nieder und lösten die Persenning des "Albatros".
"Donnerwetter", staunte Anton, "das ist ja ein Boot mit Kajüte."
"Darum heißt's auch Kajütkreuzer", bemerkte sie amüsiert. Sie erklärte ihm, wie das Segel aufzuziehen sei, was dann beide ganz ordentlich zuwege brachten. Bootshaken und Stechpaddeln benutzend, kamen sie ins freie Wasser, und rasch füllte die Morgenbrise fünfunddreißig Quadratmeter weißen Nesselleinens. Vorbei an der Krampenburg steuerten sie östlich ins größere Wasser des Seddinsees. Hier drückte Vera Bräutigam ihrem Begleiter Pinne und Großschoot in die Hand, und während sie die Fock bediente, erteilte sie Unterricht. Bald wusste er, wie man sanft zum Wind hin wendet und ohne zu kentern, scharf vom Wind abhalst. Und ein Tau war ein Ende, das Ende vom Tau der Tampen. Den wickelte man nicht, sondern belegte damit die Klampe. Damit es hielt, schlug man einen Seemannsknoten. Anton erwies sich als ein gelehriger Schüler.
Nach drei Stunden, der Morgenwind begann merklich abzuflauen, steuerten sie eine Landzunge an und glitten in eine stille Bucht. Schilf streifte die Bordwände. Vera Bräutigam warf den Anker.
Sie saßen dann auf Klappstühlen im Kiefernwald und tranken Kaffee. Es war still hier. Fünfzig Meter weiter links leuchtete eine schmale weiße Badestelle. Nur dort lagen noch zwei Paddelboote, deren Besitzer ein Zelt aufgeschlagen hatten. Am Tage würden wohl noch einige Boote kommen, sagte Vera Bräutigam, aber kaum Landratten, denn es gebe nur einen Weg von Müggelheim zu dieser Halbinsel, den wenige kannten.
Dies alles ist gut zu wissen, dachte Anton, man würde sich in Zukunft viel mehr die wald- und wasserreiche Umgebung Berlins zunutze machen müssen, um es der Gestapo schwerer zu machen. Vera Bräutigam suchte die Zigaretten, und er holte eine Schachtel aus dem Boot. Es war erholsam, den blauen Wölkchen nachzusinnen, die in den dunklen Kiefernkronen verschwammen. Das leise Plätschern, der frische Geruch des Wassers, lockten. Anton vergrub seinen Stummel und streckte sich. "Gehen wir schwimmen?"
Verlegen blinzelte sie ihn an. "Ob Sie es glauben oder nicht: Ich kann nicht schwimmen."
Vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf. Faul gähnend rekelte sie sich zu einem Schläfchen zurecht.
Anton stand auf, ein bisschen die Gegend zu erkunden. Der hohe Kiefernwald der Seeseite ging weiter hinten in eine Schonung über, die von einem Jagenweg geteilt wurde. Anton hörte Stimmen, und dann sah er eine Gruppe diesen Weg heraufkommen. Es gab also doch Landratten, die diesen stillen Winkel kannten. Von einer Kussel gedeckt, beobachtete er. Es waren fünf Erwachsene und drei Kinder. Die Kinder liefen zwanzig Meter voraus, sangen, hüpften und waren guter Dinge. Die Erwachsenen unterhielten sich angeregt, es schienen interessante Dinge zu sein, die sie besprachen. Antons Sinn für Menschen und Situationen wurde rege. Die da kamen, schienen im vertraut. Er hätte schwören mögen, es seien frühere Arbeitersportler. War seine Vermutung richtig, durfte er sich durch plumpe Aufdringlichkeit nicht verdächtig machen. Anton zog sich zurück und sah dann, wie die Gruppe am Rastplatz der Paddler freudig begrüßt wurde. Bald spielten sie Faustball mit noch andern Paddlern und Ruderern, die inzwischen angelegt hatten. Irgendeinen alten Bekannten entdeckte Anton nicht. Hinter dem Faustballfeld tummelten sich Kinder, Jugendliche und Frauen beim Völkerballspiel. Deren Gesichter waren nicht klar zu erkennen. Ob ich hinübergehe? überlegte Anton. Doch hätten sie nicht allen Grund gehabt, den vermeintlichen Besitzer des Kajütkreuzers mit Misstrauen zu begegnen?
Vera Bräutigam schlummerte noch immer. Anton ging zum Wasser, schwamm schnell und lange, um seine innere Unruhe zu unterdrücken. Er kam zurück und frottierte sich genussvoll, immer mit einem halben Blick hinüber zu den sommerfrohen Menschen. Dann holte er den Petroleumkocher aus dem Boot, begann das Mittagessen zu bereiten. Er schälte Kartoffeln und lauschte hinüber. Wenn ein Name fiel, war es ein Vorname oder ein Spitzname. Als die Kartoffeln gar waren und das Gulasch appetitlich duftete, weckte Anton Vera Bräutigam. Voll des Lobes über seine Umsicht und Kochkunst, half sie beim Tisch decken. In rosiger Laune entnahm sie dem Kühlbeutel eine Flasche Wein.
Beim Essen sah es Anton. Er zuckte zusammen. Ohne dass er es bemerkt hatte, waren zwei Paddelboote startfertig gemacht worden. Jetzt stieg je ein Paar in die Boote. Die Frau, die sich im rechten Boot eben niedergesetzt hatte und nun das Paddel ergriff, das war ... Die Figur, der Rücken, diese bestimmte Art der Bewegungen ... Aufstehen und rufen, das war Antons erster Impuls. Doch sein kritischer Verstand spottete: Deine Wunschträume gaukeln dir am helllichten Tag Trugbilder vor. Er saß wie gebannt. Ein Halbwüchsiger kam drüben zur Badestelle gerannt, schwenkte etwas in der Hand und rief: "Elsbeth!"
Sie legte das Paddel quer und wandte sich um. Der Halbwüchsige rief lauter: "Dein Kochgeschirr, Elsbeth!"
Gelassen rief sie zurück: "Bring es mir mit!" Dann nahm sie das Paddel wieder auf, und im Takt mit dem Hintermann versuchte sie, das andere Boot einzuholen.
Hastig legte Anton die Gabel hin. Kurz entschlossen kleidete er seinen dringlichen Wunsch in einen Scherz: "Käpt'n, wir müssen sofort in See stechen. Die da vorn schwimmt, ist meine Cousine."
"Freibeuterei ist von der christlichen Seefahrt geächtet", spottete Vera Bräutigam wenig beeindruckt.
"Seit meiner Rückkehr konnte ich sie nicht finden."
Sein Ton ließ sie aufhorchen. Sie sah ihn vielsagend an.
"Interessante Cousine, scheint's."
Anton überhörte die Anzüglichkeit und bat eindringlich: "Können wir?"
Nicht sehr erbaut, willigte sie ein. "Meinetwegen. Weil Sie so gut den Smutje gespielt haben."
Übereilig begann Anton die Sachen zum "Albatros" zu bringen, starrte immer wieder nervös über das Wasser. Die beiden Paddelboote waren unter den vielen Wasserfahrzeugen nicht mehr auszumachen. Als sie den Anker gehievt hatten, fluchte Anton innerlich über die Flaute. Aus der Bucht hinaus mussten sie den Kajütkreuzer mühselig staken.
"Wohin sind sie, in Richtung Grünau oder Schmöckwitz?" fragte Anton.
"Reines Glücksspiel." Vera Bräutigam sagte es nicht ohne Schadenfreude. Ein lauer Wind fächelte aus Osten, und so kreuzten sie auf Schmöckwitz zu. Unaufmerksam bediente Anton jetzt die Fock, aufmerksam suchten seine Augen die Wasseroberfläche ab.
Die Brücke am Gasthaus "Zur Palme" in Schmöckwitz war für den Mast des "Albatros" zu niedrig. Sie wendeten und kreuzten nun entgegengesetzten Kurs. Anton wahrte äußere Gelassenheit, in seinem Kopf jagten die Gedanken. Konnten sie schon so weit nach Grünau hinein sein? Wie viel Kilometer legte man pro Stunde in einem Paddelboot zurück? Wer war der Mann im Boot? War Elsbeth etwa wieder verheiratet? Weit hatte er diese Befürchtung immer von sich geschoben, heftig sprang sie ihn jetzt an.
Sie segelten bis nach Grünau hinein - ohne Erfolg.
"Und nun?" fragte Vera Bräutigam ein wenig triumphierend.
Anton gab die Hoffnung nicht auf. "Zurück", sagte er. Als sie nach gleichem Misserfolg wieder auf den Seddinsee zuhielten, schlug sich Anton gegen die Stirn. "Ich Esel. Die Leute an der Badestelle werden ihre Adresse wissen."
Sie warfen dort Anker. Anton watete an Land und ging auf eine Gruppe Männer zu, die auf der Böschung saßen und friedsam dem Treiben auf dem Wasser zuschauten.
"Verzeihung, weiß jemand, wo die Elsbeth wohnt, die vorhin hier losgepaddelt ist? Ich bin ein alter Bekannter von ihr."
Sie sahen ihn an, prüfend und schweigend. Einer räusperte sich. "Die schlanke Blonde?"
Anton bejahte erfreut.
"Tscha, so oft ist die nicht hier. Wir kennen sie bloß vom Sehen."
Die Männerrunde bestätigte mit Kopfnicken.
Anton eilte weiter. Den Halbwüchsigen mit dem Kochgeschirr musste er finden. Er war nicht mehr da. Vor einer halben Stunde mit zwei Freunden losgezogen, erfuhr Anton. Frauen, Jugendliche und Kinder fragte Anton, überall erging es ihm ähnlich wie bei den Männern. Ein junges Mädchen erinnerte sich dunkel der alten Adresse, wurde aber von ihrer Mutter korrigiert, dass Elsbeth weggezogen sei. Wohin wusste niemand.
Traurig kletterte Anton auf den "Albatros".
"So was von Cousin lobe ich mir", sagte Vera Bräutigam, "hoffentlich weiß Ihre Cousine das zu schätzen."
Anton zwang sich zur Heiterkeit, obwohl er die Hoffnung für heute aufgegeben hatte. "Falls wir sie doch noch treffen, müssen Sie es ihr selbst sagen."
Während Antons Suche hatte Vera Bräutigam in der Kombüse Kaffee aufgebrüht. Sie tranken ihn an Bord und segelten dann nach Karolinenhof. Vera Bräutigam wollte sich von der Abendflaute keine ermüdende Paddeltour aufzwingen lassen. Anton brachte sie mit dem Wagen bis vor die Wohnung. Kokett über die Schulter winkend, trippelte sie davon. Er fuhr den Wagen in die Garage und ging in verbissener Melancholie zur Hochbahn. Für heute blieb nur ein Trost, er wusste nun, Elsbeth lebt in Berlin.