Читать книгу Keiner wird als Held geboren - E.R. Greulich - Страница 5

DIE ENTLASSUNG

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Zuchthausdirektor Larsch hob den Kopf. Einen winzigen Augenblick war Unwillen in seinem glatten Gesicht. Oberkommissar Taege trat ein und sagte aufgeräumt: "Mahlzeit!"

Larsch erhob sich und grüßte vorschriftsmäßig: "Heil Hitler!"

Taege überhörte die Zurechtweisung und warf sich in den Sessel vor dem Schreibtisch.

Umständlich nahm auch Larsch wieder Platz und dachte: Eigentlich hättest du genauso wiedergrüßen sollen. Zum Teufel mit der Korrektheit. Ohne die wärst du längst pensioniert.

Aus den beinahe an Staatsgefährlichkeit grenzenden Gedanken riss ihn die selbstbewusste Stimme Taeges. "Was macht der Vogel?"

"Sie meinen Born? - Der rennt wie ein gefangener Wolf durch die Zelle. Grübelt, ob er entlassen wird oder nicht."

"Großartig. Wenn es nach mir ginge, könnte er noch Tage und Wochen grübeln."

"Immerhin hat er eine rechtskräftige Strafe abgebüßt, und wenn das Reichssicherheitshauptamt die Entlassung verfügt ... "

"Immerhin, lieber Parteigenosse Larsch, immerhin", Taege wiederholte ironisch dieses von Larsch sachlich-beiläufig gedachte Wort, "immerhin ist das eine Verfügung der höchsten zuständigen Stelle."

"Ich halte sie für klug und gerecht."

"So?" höhnte Taege.

"Ja", sagte Larsch unbetont, voll inneren Ärgers. Dieser Mann hielt Zynismus für Witz. Dabei war er so witzlos, dass er jeden seine Macht fühlen ließ.

"Falls Sie meine Auffassung interessiert, Larsch: Diesen Akt unbegreiflicher Milde wird der Bursche schlecht lohnen."

Larsch schob einen Hefter vom Rand des Schreibtischs in die Mitte. "Ich habe seine Akten durchgesehen."

"Na und?"

Vorsichtig! warnte es in Larsch, doch sein Widerwille war stärker. "Soweit ersichtlich, hat er sich während der letzten Strafhaft gut geführt."

"Weiter ist Ihnen nichts aufgefallen?" Taege betrachtete den Direktor lauernd.

"Zum Beispiel?"

"Dieser Born ist ein fanatischer Kommunist."

"Das hebt seine gute Führung nicht auf."

"Beweist aber seine Gerissenheit." Taege grinste schlau.

"Oder hat er eingesehen, dass es unsinnig ist, sich gegen den Nationalsozialismus zu stemmen?"

"Schön geglaubt, aber nicht originell."

"Bei über sechs Jahren Haft?"

"Reichlich milde für einen, der unter anderm im Zuchthaus Sammlungen für die mit lebenslänglich bestraften Herren Genossen organisiert hat."

"Ich hielte es für nützlich, solch einen Fanatismus umzuschmelzen für unsere Bewegung."

Taege lachte amüsiert. "Umschmelzen? - Der hasst uns wie die Pest. Bei der erstbesten Gelegenheit steht er gegen uns."

Larsch zog zweifelnd den Kopf zwischen die Schultern.

"Möglich, dass er uns noch hasst. Aber nach einem Selbstmörder sieht er mir nicht aus. Der bildet sich nicht ein, mit dem Leben davonzukommen, falls er noch ein einziges Mal bei hochverräterischer Tätigkeit gefasst wird."

"Die Sorte hält sich für klüger; die denken, sie werden nicht gefasst."

"Seine bisherigen Erlebnisse müssten eigentlich dagegen sprechen." Er kann dir nichts, trotzte es in Larsch, da ist die Verfügung. Dennoch fragte er beherrscht: "Und warum dann diese ?fast unbegreifliche Milde' des Reichssicherheitshauptamtes, wenn bei Born Hopfen und Malz verloren ist?"

Taege lächelte verletzend nachsichtig. "Die alte Gefühlsduselei aus der Gymnasiastenzeit steckt Ihnen noch immer in den Knochen. Denen im RSHA glücklicherweise nicht. Umerziehung? Humanistischer Kohl."

"Dann wüsste ich wirklich nicht ... " Der vorsichtige Beamte Larsch konnte nun doch eine leichte Erregung nicht verbergen und hielt ein wenig erschrocken im Satz inne.

Ungeniert freute sich Taege seiner Überlegenheit. "Versuchsballon. Unter diesem Gesichtswinkel sind solche probeweisen Entlassungen zu betrachten."

Larsch legte sich nachdenklich in seinen Sessel zurück. "Gewissermaßen ein Katze-und-Maus-Spiel?"

"Gut kombiniert", spottete Taege.

"Dabei ist manchmal schon eine Maus entschlüpft."

"Wenn schon", Taege entfernte liebevoll die Bauchbinde von seiner teuren Zigarre, "der Effekt ist immer für uns."

Larsch unterdrückte den aufsteigenden Ekel und erwiderte höflich: "Welche Gründe das RSHA auch haben mag, ich glaube nicht, dass der Born so unbesonnen sein wird, noch einmal gegen uns zu arbeiten."

"Glaub's der Deibel!" polterte Taege, und sein Ärger war nicht gespielt. "Leider kann ich ihm sein unverdientes Glück erst versalzen, wenn wir ihn wieder geschnappt haben."

Das Telefon läutete. Larsch lauschte in den Hörer und fragte den Oberkommissar. "Kann er kommen?"

Taege nickte. Larsch sagte "Ja" und legte den Hörer auf. Um einen versöhnlichen Abschluss zu finden, wiederholte er: "Ich denke, die sechs Jahre werden ihm eine Lehre sein."

Gerade das reizte Taege, und er sagte mit drohendem Unterton: "Ihr Optimismus grenzt an Defätismus."

"Ich bin Strafvollzugsbeamter. Schließlich hat unser Strafvollzug einen Sinn."

"Jawohl", triumphierte Taege, "kuschen müssen sie lernen."

Larsch flüchtete hinter den schützenden Schild der Verfügung. "Ich verstehe unter der Anordnung, dem Bestraften eine letzte Gelegenheit zu geben, in der Freiheit seine Loyalität zu beweisen."

Taege hielt dem Direktor die Hand hin. "Wetten, dass wir dem noch den Kopf vor die Füße legen?"

Von Taeges plötzlicher Geste erschrocken, zuckte Larsch unwillkürlich zurück. Er hatte viel erlebt; im Dritten Reich viel zu viel. Aber irgendwie war es ihm stets gelungen, alles Unangenehme hinter einem Nebel zu halten. In diesem Augenblick trat ihm das Schreckliche nackt entgegen. Der da wettete um Menschenleben wie spielende Knaben um Murmeln. Larsch lachte hüstelnd. "Sie haben - äh - wirklich - Humor."

Im Genuss echter Vorfreude rieb sich Taege die fleischigen Hände. "Und nun werden wir mal den Burschen ein bisschen zwiebeln. Die goldene Freiheit wird ihm nach 'nem Abschiedsfeuerwerk um so wertvoller sein." Er stand auf, reckte sich und zog die kneifende Hose nach unten.

Larsch schaute von seinem Stuhl aus scheinbar gleichmütig aus dem Fenster. Hast du zu viel gesagt? grübelte er. Wenn es zur Pensionierung reichte, wäre es gut. Kommt es dicker, werde ich mich ducken müssen.


Unfassbar, kaum vorstellbar wäre das. Wieder durch die Straßen gehen. Das Leben sehen, hören, riechen und fühlen. Die Welt, jetzt streng umgrenzte acht Quadratmeter, würde plötzlich weit, so weit sein.

Der Gefangene von Zelle 4 im Block A stand unter dem Fenster und starrte in den Morgenhimmel. Durch das fünfzig Zentimeter hohe, etwa einen Meter breite Fenster sah er das Blau des Himmels. Fünf schwarze, senkrechte Eisenstäbe zerschnitten es in sechs gleichmäßige Felder.

Tag der Entlassung. Nach sechs Jahren Marter, Hunger, Hohn. Würden sie ihn entlassen?

"Haben Sie uns etwas zu sagen?" Nicht nur einmal war ihm die Frage gestellt worden, drohend gebrüllt, erpresserisch gezischt oder säuberlich zu Papier gebracht.

Die Versuchung schlief nie, und Verrat war eine der Säulen dieses Staates. Schon deswegen musste die Antwort jedes Mal lauten: "Nein." Und dafür Marter, Hunger, Hohn. Und deswegen würden sie ihn nicht entlassen.

Er weiß genau, wie es kommen wird. An diesem Vormittag werden sie ihn nach vorn befehlen. Ordnungsgemäße Aushändigung seiner Habseligkeiten, ordnungsgemäßer Umtausch der Gefängniskluft gegen die eigene Kleidung, ordnungsgemäßes Unterschreiben der Entlassungspapiere, und dann - zwei Herren in Zivil werden auf ihn zutreten und sagen: "Kommen Sie mit, Herr Born!" Und alles wird wieder von vorn beginnen: Vernehmungen, Schläge, Brüllen, Foltern, Bunker, Einzelhaft, strenge Isolierung, neue Versuchung und, falls die wieder abgewehrt ist, das Ende: an einem Fleischerhaken aufgehängt, "auf der Flucht erschossen" oder einfach zu Tode geprügelt.

Anton Born atmete mehrmals tief ein und aus. Diesmal nützte es nichts. Sein Körper kam ihm vor wie aus Glas mit zu hoher Spannung. Er begann seinen wohl zehntausendsten Rundgang. Sieben kleine Schritte hin, sieben kleine Schritte zurück. Es war ihm jetzt nicht möglich, Vokabeln zu pauken oder Stenografie zu üben.

Wenn sie ihn nun doch freiließen? Rechtlich durften sie ihn nicht festhalten. Lächerlich, was bedeutete denen Recht und Gesetz. Sie pfiffen darauf, wenn es ihnen hinderlich war, sie machten es zum Fetisch, wenn es ihnen passte, das Volk damit zu blenden.

Wenn es ihnen passte? Konnte dieser Glücksumstand nicht eintreten? Sie schienen auf der Höhe ihrer Macht zu sein, auf schwindelnder Höhe. Jedwede Arbeiterorganisation aufgelöst, zerschlagen, ihre Besten gefangen, umgebracht oder außer Landes. Das Volk draußen schien restlos befriedigt und befriedet. Jeder hatte seine Arbeit, war satt. Und noch mit fünfzig Pfennig Stundenlohn durfte er sich als Angehöriger einer siegreichen Nation fühlen, hatte es doch die englische Diplomatie dem Herrn Kanzler in München ausdrücklich bescheinigt. Österreich, Tschechoslowakei, jeder außenpolitische Coup war ihm bisher geglückt. Schließlich entscheidet der Erfolg, und der war bei den Fahnen des Führers. Wer wollte nicht auf der Seite des Erfolgs sein? Da sollten "kleinliche Kritikaster" lieber schweigen.

Schwiegen alle? Das Weltgewissen schwieg nicht. Die Unbeirrbaren rüttelten es immer wieder wach. Das waren Wermutstropfen im Freudenbecher des Führers. Das kratzte ihm unentwegter in der Kehle als seine Heiserkeit vom Radiogebrüll. Um es nicht mehr zu spüren, war er bereit, dafür zu zahlen. Da ließ man reiche Juden über neutrale Konsulate sich vom KZ-Tod freikaufen, da gestattete man dem Internationalen Roten Kreuz Besuche von Zuchthäusern, ausländischen Journalisten Studienfahrten durch Konzentrationslager. Alles wurde akkurat vorbereitet, und es sah manchmal so aus, als ließe sich das Weltgewissen Sympathien abkaufen - bis dann wieder irgendeine "Gräuelgeschichte" die bieder gekochte Suppe verdarb. Trotzdem gab es der Hitler nicht auf. Seine Ausbaldowerer mussten andere Manöverchen ersinnen, mussten immer aufs neue versuchen, jenen Sand in die Augen zu streuen, die nicht blind zu machen waren, die sehr klar wussten: Ein grundsätzlich schlechtes System ist keiner grundsätzlich guten Tat fähig.

Anton Born blieb stehen. Wenn sie nun auch an ihm ihr Betrugsmanöver ausprobierten? Wenn sie auch ihm gegenüber "Gnade walten" ließen? Durch die Kerkermauern waren Nachrichten gesickert, dass man langjährige Gefangene plötzlich entlassen hatte, einige ehemalige kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und bekannte Gewerkschafter. So wurde das Ausland geblufft und der deutschen Bevölkerung "Großmut" bewiesen.

Wenn er nun einer jener "Begnadigten" wäre? Noch einmal dem Vater die Hand drücken können, die Familie wiedersehen? Dieses fast Unvorstellbare erzeugte eine taumlige Leere im Kopf.

Er ließ leise das Gestell herab und setzte sich kopfschüttelnd auf den Rand des harten Bettes. Gefangen sein ist furchtbar, und wer fragt nach den Motiven, wenn einem der Todfeind freiwillig die Fesseln abnimmt? Frei sein, auch in einem Zuchthausstaat, heißt kämpfen können.

Anton Born ertappte sich bei abermaligem Rundlauf, der beinah ein Dauerlauf war. Wenn sie doch schon kämen, wenn sie endlich kämen! Einmal noch den Vater wiedersehen, der ihn durch sein stilles, selbstloses Beispiel erzogen hatte. Nicht, dass Vater fehlerlos gewesen wäre, aber sein Leben war sauber. Und Tausende waren wie er. In tausend Jahren dieses Höllenreiches würden sie sich keinen i-Punkt ihrer Redlichkeit, ihrer sozialistischen Gesinnung abkaufen lassen.

Anton Born warf einen Blick hinauf zu dem zerschnittenen Stück Himmel. Gleich musste die Morgengeschäftigkeit des Zuchthauses beginnen.

Wie zur Bestätigung des hoch entwickelten Zeitgefühls eines Gefangenen liefen bald darauf Wachtmeister die Gänge entlang und schlossen die Türen auf. Leise stellten die Häftlinge die Kübel hinaus, zogen ihre Tür wieder bis an den Anschlag. Eilig trugen Kalfaktoren die grauen Gefäße in den Spülraum, ihre Lederpantoffeln klatschten auf den blanken Steinen. Eilig wie geholt, wurden die Kübel wieder neben die Zellentüren gesetzt. Lautlos nahmen die Häftlinge sie hinein. Als der Kalfaktor den Krug holen kam, zischte Anton durch den Türspalt: "Wisst ihr etwas?"

Paul, ein Genosse, wusste, worauf sich die Frage bezog. Er sah sich sichernd um und erwiderte mit unbewegten Lippen wie ein geübter Bauchredner: "Nischt, Anton. Aber es wird schon klappen. Lange genug bist du hier. Kann doch nicht ewig gehn."

Die Kaffeebrühe und ein Stück Klitschbrot waren verteilt, die Zellen wieder verschlossen worden. Anton Born zwang sich zu essen. Ging es auf Transport, würde er lange ohne Nahrung sein.

Ähnlich mochte Paul denken. Er hatte Oberwachtmeister Burkert Nachkost für Born abgehandelt, eine Morgenportion Brot, die angeblich zu viel geliefert, in Wirklichkeit von dem Genossen Küchenkalfaktor organisiert worden war. Burkert schloss die Tür auf und tat, als habe er einige Zellen weiter etwas zu regeln. Paul drückte Anton das Brot in die Hand und raunte: "Beim Hausvater machen sie deine Sachen zurecht. Bis jetzt nichts Auffälliges."

"Die Bullen haben auch noch mindestens eine halbe Stunde Zeit."

"Nun spiel man nicht den Schwarzseher", knurrte Paul.

"Hast recht", Anton knuffte Paul freundschaftlich, "wenn sie mir die Flossen in Eisen packen, ist immer noch Zeit, die Zähne zusammenzubeißen."

Paul gab den Puff zurück. "Na also, Anton. Warst doch nie ein Kind von Traurigkeit."

Burkert kam zurück. Paul hob verstohlen die geballte Faust, wandte sich rasch um und drückte die Tür hinter sich zu. "Alles in Ordnung, Oberwachtmeister!"

Anton Born lauschte den Schritten nach und spürte, wie ihm die Unruhe wieder ins Blut stieg. Wie jedem zur Entlassung kommenden Politischen würde man auch ihm den Revers zur Unterschrift vorlegen, dass er sich an keinerlei Aktion gegen das Dritte Reich beteiligen und jede ihm bekannt werdende antifaschistische Tätigkeit sofort der Gestapo melden werde. Die Unterschrift zu verweigern, hätte ein über sich selbst verhängtes Todesurteil bedeutet. Der unterschriebene Revers dagegen blieb die ständig geöffnete Schlinge über der Freiheit. Sollte man nicht lieber gleich untertauchen, völlig illegal leben?

Anton trabte wieder, trabte und überlegte. Der Illegale ist ein Soldat mit Fesseln. Sein Dasein bindet die legal lebenden Genossen, besonders in ihren Kampfhandlungen. Es gab viel zu durchdenken, und endlich entschied er sich, ein scheinbar harmloses legales Leben mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Und wenn sie dann kamen und auf ihren Revers pochten? Sollte man nicht doch lieber die Unterschrift verweigern? Aber ich bin doch ein Mensch im besten Mannesalter, schrie es in ihm, ich muss wieder einmal in einem richtigen Federbett schlafen, über Felder gehen, Menschen lachen und Pferde wiehern hören. Ich muss wieder einmal Benzingestank schnuppern und Tannenduft atmen. Und ich muss noch viel mehr, dachte er und lächelte. Seine Disziplin, die ständigen Geistes- und Körperübungen, die Solidarität der Leidensgefährten hatten ihn die Hölle lebend überstehen lassen. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Elsbeth war wohl ein ebenso starker Halt gewesen. Er war nicht ganz schuldlos, dass sie nach seiner Scheidung nicht zusammengefunden hatten. Unter dieser Schuld hatte er genug gelitten und sich fest vorgenommen, Elsbeth zu suchen, falls er entlassen würde. Ein ferneres Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen, und er hatte kaum je daran gezweifelt, dass sie genauso dachte. Seine Vorstellung von ihr verschmolz in ihm mit dem Symbol der Partei. Wenn er Elsbeth fand, hatte er die Partei gefunden.

Wie immer spürte er, dass der Gedanke an sie ihn zuversichtlich stimmte. Bis dann die dunkle Drohung wieder da war: Aber sie werden dich nicht entlassen! Die ewig gleiche Gedankenkette der letzten Tage begann ihn abermals zu quälen. Da hörte er den Ruf des Verantwortlichen für die Abteilung A. Der Hauptwachtmeister, genannt der Stichling, rief: "Born, mit allen Sachen raus!"

Jetzt kam die Entscheidung. Antons Körper war plötzlich schweißnass. Als die Tür aufging, war er dabei, das kärgliche Zelleninventar übersichtlich hinzustellen.

Paul kam in die Zelle, um es zu übernehmen. Burkert blieb an der Tür stehen. "Na, Kleiner, alles ganz, nichts entzwei?" fragte Paul so laut, dass es Burkert hören sollte.

Brav antwortete der Gefangene ebenso laut: "Alles in Ordnung, wie es sich gehört!"

"Mann, Anton, ich gratuliere!" flüsterte Paul. "Bis jetzt noch keine Bullen da." Er grinste so freudig, dass an der Echtheit seiner Nachricht kaum zu zweifeln war. "Du weißt, wen du alles grüßen wirst", zischelte Paul mehr als Erinnerung denn als Frage.

"Ist doch Sache, Paul", beruhigte ihn Anton.

"Nun mal ein bisschen dalli", polterte Burkert.

"Jawoll, Oberwachtmeister!" besänftigte Paul und trat hinter Born aus der Zelle. Burkert schloss sie ab und ließ den Gefangenen vor sich hergehen. Im "Turm", dem zentral gelegenen Glaskasten des Hauptwachtmeisters, lieferte er Born ab. Als er an ihm vorbei wieder hinausging, räsonierte er: "Und draußen keine neuen Zicken - verstanden?"

Born erwiderte nichts.

"Ich will Sie hier nicht mehr sehen", sagte Burkert lauter, "ob Sie verstanden haben?"

"Jawoll, Herr Oberwachtmeister!" brüllte Anton.

Der Stichling lehnte sich im Stuhl zurück, schob die Halbbrille auf die Stirn und war bemüht, seinem flachen Gesicht den Ausdruck eines strengen Untersuchungsrichters zu geben.

"Herkommen, Born!"

Anton trat einige Schritte näher und blieb in vorschriftsmäßiger Haltung stehen.

"Wie viel Kassiber haben Sie bei sich?"

"Keine, Herr Hauptwachtmeister."

Der Stichling hob die Augenbrauen. Das sollte listig aussehen, unterstrich aber nur komisch die Dummheit seiner Züge. "Ich filze Sie doch, Born. Auch von Ihnen lasse ich mir in letzter Minute keinen Ärger machen. Also ehrlich, legen Sie die Kassiber hierhin. Bestrafung würde ausnahmsweise - wegen Entlassung - ausfallen."

"Ich habe weder Kassiber noch andere unerlaubte Dinge bei mir, Herr Hauptwachtmeister."

Der Stichling kratzte sich hinter dem Ohr und fixierte den Gefangenen mehrere Sekunden. Man sah ihm an, wie diese ihn dramatisch dünkende Zuspitzung seinem Selbstgefühl wohltat. Dann wurde er jovial. "Ihr Glück, Born." Auf seine Kenntnisse über die Taktik der Politischen stolz, setzte er hinzu: "Viel zu gerieben zum Kassibern, im Kopf ist alles sicherer, was, Born?"

Wenn ich nur erst wüsste, wie es weitergeht, dachte Anton, und ich diesen Quatschkopf hinter mir hätte. Fast automatisch schnarrte er: "Jawoll, Herr Hauptwachtmeister!"

Das empfand der Stichling als so außergewöhnliche Frechheit, dass er gnädig blieb. "Na, wenigstens ehrlich. Abhauen!"

Vor dem Hilfswachtmeister Borke marschierte Born hinunter in die Kleiderkammer zum Hausvater, vorbei an Kalfaktoren, die alle plötzlich draußen zu tun hatten. Es war erstaunlich, wie viel Arbeit von wie viel Kalfaktoren jetzt und augenblicklich auf den Gängen zu erledigen war. Geflüsterte Grüße und verstohlene Zeichen begleiteten Anton.

Beim Hausvater lief alles so, wie es Born schon mehrmals erlebt hatte. Sein Zivilanzug war noch warm vom Bügeln, die wenigen Habseligkeiten, im Amtsdeutsch "Effekten" benannt, lagen säuberlich parat. Der Hauptkalfaktor schnorrte Born heimlich um den Rest krümelnder Zigaretten im zerknitterten Päckchen an und bekam sie. Als sich der Lederriemen der Armbanduhr um Antons Handgelenk straffte, überkam ihn das Hochgefühl eines zivilisierten Menschen, der vermittels eigener Uhr, wann immer es ihm beliebt, die genaue Tageszeit abzulesen vermag.

Kurz darauf lieferte Borke ihn bei Larsch ab. In straffer Haltung blieb Anton Born neben der Tür des beinah zivil anmutenden großen Zimmers stehen. Die Augen hinter der randlosen Brille in dem Asketengesicht des Direktors musterten den Gefangenen, und dann kam aus dem dünnlippigen Mund die lakonische Feststellung: "Das ist er."

Taege wandte sich um und rückte bedächtig seinen Stuhl zurecht.

Pauls Nachricht stimmt nur halb, dachte Anton Born sarkastisch, statt der üblichen zwei Bullen ist nur einer erschienen, dafür aber ein ganz schwerer. Das war bildlich und wörtlich richtig. Selbst unter dem vorzüglich geschneiderten Maßanzug ahnte man die Fettpolster des Gewaltigen. Taege verschränkte die Finger und hob sie an das fleischige Kinn. "Sie sind Born, Anton, Emil?"

"Jawohl."

Taege nahm den Hefter vom Schreibtisch, sah hinein und sagte zum Direktor, als sei Born nicht vorhanden: "Letzte Strafe wegen Hochverrat, reichsfeindliche Aktionen. Hat in der vorangegangenen Schutzhaft Sammlungen für die lebenslänglichen Politischen organisiert, eine illegale Trauerfeier für seinen hingerichteten Busenfreund Andre abgehalten und ähnliche Unverschämtheiten mehr. - Stimmt's, Born?" Die Frage schoss er nach wohlberechneter Pause gegen den Gefangenen.

"Jawohl, Herr Kommissar", sagte Born und dachte: Mein Glück, dieser Hochverrat. Nach dem Vierteljahr Bunker damals in Dachau war ich kurz vorm Ende. Wären sie nicht so scharf auf eine "rechtmäßige" Aburteilung gewesen, wodurch ich wieder in die Mühle ihrer "ordentlichen" Gerichtsbarkeit kam, lebte ich heute nicht mehr. Antons Gedankenkette wurde von Taege unterbrochen, der ihn anherrschte: "Oberkommissar bitte, Oberkommissar Taege aus Hamburg und spezieller Freund der Kommune. Wollen Sie sich das hinter die Löffel schreiben?"

"Jawohl, Herr Oberkommissar."

Taege warf die Akte zurück auf den Schreibtisch und fragte liebenswürdig: "Nun, Herr Born, was halten wir denn von der politischen Lage?"

Ein kleiner Sonderspaß, ehe er mich abführen lässt, dachte Anton.

Er hob die Schultern und machte ein unbeteiligtes Gesicht. "Schwer zu sagen, Herr Kom ... , Herr Oberkommissar. Keine Zeitungen, kein Radio - wie soll man da ... "

"Danach fragte ich nun nicht", sagte Taege leutselig, "ihr seid doch besser informiert als mancher draußen."

Born antwortete nicht und gab sich einen Augenblick dem unbändigen Hassgefühl hin: Dem da einmal allein begegnen!

Taege brannte sich genüsslich eine neue Zigarre an. Geschickt schwenkte er das brennende Streichholz, ließ es erst verlöschen, nachdem er die Frage beendet hatte: "Die fortgesetzten Erfolge des Führers schmecken euch nicht, wie?"

Anton Born schwieg.

"Ob sie euch schmecken, will ich wissen!" brüllte Taege.

Anton hatte einige Sekunden Zeit zum Überlegen gewonnen und erwiderte nun treuherzig: "Was man so in der Zuchthausabgeschlossenheit hört, ist erstaunlich, Herr Oberkommissar. Allerdings kennt man die Dinge zu ungenau, um darüber etwas sagen zu können."

"Ach nee." Taege spielte Erstaunen. Dann kniff er die Augen zusammen und fragte scharf: "Sie sind also noch immer Kommunist?"

"Würde ich jetzt mit nein antworten, würden Sie es mir doch nicht glauben, Herr Oberkommissar."

"Unwichtig, Born, ganz unwichtig, was ich glaube", sagte Taege nachsichtig, "ich wollte wissen, ob Sie noch Kommunist sind."

Jetzt aufpassen, warnte sich Anton Born, falscher Heroismus ist ebenso übel wie Anbiederei. "Ich habe natürlich viel nachgedacht in der langen Zeit. Eins weiß ich genau: Es ist gut, wenn die Völker vernünftig miteinander leben; ich bin genau wie der Führer für den Frieden."

"Gerissen, was?" wandte sich Taege an Larsch und schnauzte dann: "Leute wie Sie haben sich überhaupt nicht hinter dem Führer zu verstecken, kapiert?"

"Jawohl, Herr Oberkommissar!" antwortete Anton, und die Frage schoss ihm durch den Kopf: Warum nur ist es so schwer, den reuigen Sünder zu spielen?

Taege fixierte den Gefangenen. Dessen Gesicht verrät nicht, was er denkt. Bestimmt hämmert sein Herz, zittert er innerlich. Aber was ist das schon? Zu dumm, dass sie oben bereits entschieden haben. Von einem auf frischer Tat gefassten Born hätte ich schon die eindeutige Antwort, auf meine eindeutige Frage bekommen. Doch so? Dieser Bursche ist zu hart gesotten. Der Larsch macht auch ein Gesicht, als hätte er Bitterwasser geschluckt. Man muss zum Ende kommen, der Spaß wird ranzig. Taege betrachtete gelangweilt seine gepflegten Fingernägel. "Wir sind großmütiger, als ihr uns einschätzt, Born. Euer Bäckerdutzend ist uns nicht mehr gefährlich."

Komisch, dass ihr dann dafür noch so einen gewaltigen Apparat nötig habt, dachte Anton.

"Wir lassen euch denken, was ihr wollt, wenn ... na, was denn?"

"Wenn wir niemand damit belästigen, Herr Oberkommissar!" schmetterte Anton hinaus.

Verblüfft schaute Taege hoch. Die wasserblauen Augen in dem gut rasierten Gesicht waren weit aufgerissen. Dann schlug er sich auf den fleischigen Schenkel und lachte laut. "Belääästigt - Herrgott noch mal, belääästigt! - Ein Witzbold ist er auch!" rief er Larsch zu, dem es nicht ganz gelang, seinen Unwillen über den hemmungslosen Heiterkeitsausbruch Taeges zu verbergen.

"Nee, mein Lieber", rief Taege, "wenn ihr fein die Schnauze haltet, sauber eure Arbeit macht und die Finger davon lasst, illegal zu kokeln. Außerdem ... ", er winkte vielsagend ab, "das andere werdet ihr schon merken, wenn es soweit ist."

"Jawohl, Herr Oberkommissar."

"Na schön." Taege trommelte mit den Fingern auf der Stuhllehne und fragte den Direktor: "Haben Sie noch Fragen?"

Der Angesprochene verneinte.

"Alsdann, Born: Sie werden jetzt entlassen." Wie ein Chemiker ein Reagenzglas, beobachtete Taege das Gesicht Borns.

Der beherrschte sich mühsam.

"Sie sagen ja nichts, Born."

Anton Born schwieg weiter.

"Ihnen gefällt's wohl hier? Wollen Sie nicht zurück in die Arme der liebenden Gattin?"

"Ich bin geschieden, Herr Oberkommissar."

"Schwein muss der Mensch haben", sagte Taege zu dem Direktor und lachte schallend auf, "kann er sich was Neues ins Bett nehmen."

Larsch lachte gequält mit. Born verharrte noch immer in vorschriftsmäßiger Haltung.

Taege sprang auf. "Nun los, unterschreiben Sie gefälligst."

Er schob ein Blatt Papier zur Kante des Schreibtischs und hielt Born einen Federhalter hin.

Anton trat näher. Die erste Zeile sagte es ihm: der Revers. Er unterschrieb ohne Zögern, hätte auch keine Zeit gehabt, das Ganze zu lesen, denn Taege zog ihm ungeduldig Halter und Bogen fort und kommandierte: "Jetzt ab durch die Mitte. Und merk dir das eine: Lässt du dich noch mal ertappen, ich komme persönlich nach Berlin und knalle dich über den Haufen!"

Geräuschlos war Borke wieder zur Stelle und nahm Anton in Empfang. Der ging wie durch einen Nebel und hatte nur den einen Gedanken: nach Berlin ...? Auflassung der Gestapo nach Berlin ...?

Im Verwaltungsgebäude musste er die Auflassung unterschreiben und noch einiges andere, wobei ihm nur undeutlich bewusst wurde, dass er wöchentlich zweimal auf dem zuständigen Polizeirevier zu erscheinen habe.

"Machen Sie's gut", sagte der lahme Hilfswachtmeister, dann klirrte ein Riegel, und Anton Born stand vor dem grauen Eisentor. Ein alter Mann kam auf ihn zu, mit vielen Furchen im Gesicht. Anton machte einige taumelnde Schritte.

"Vater!"

Während ein trockenes Schluchzen seinen Körper schüttelte, presste er das Gesicht auf die gebeugte Schulter, die alte, wohlvertraute. Lange verharrte er so, und unablässig streichelten zwei Hände seinen zitternden Rücken. Zwei Hände, alte, wohlvertraute.

Keiner wird als Held geboren

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