Читать книгу Keiner wird als Held geboren - E.R. Greulich - Страница 7

KLEINE SCHRITTE

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Der Mann mit der Glatze schob die Karte durchs Schalterfenster. "Beachten Sie den Vermerk: Betriebsführer erst nach fünfzehn Uhr zu sprechen."

Anton Born starrte auf die Karte und tat, als sei da so viel zu beachten, dass man alles andere vergessen könne, sogar den "deutschen Gruß". Rasch zog er die Tür auf und verschwand. Er überquerte den Hof des Arbeitsnachweises und holte erleichtert Luft. Wie oft würde er noch dem Hut auf der Stange Reverenz erweisen müssen? Unvorstellbare Überwindung kostete ihn jedes Mal das Armheben, wenn er sich auf dem Polizeirevier meldete. Leider musste es sein. Er hatte nicht wenige biedere Männer in den sechs Jahren kennengelernt, die wegen "Verweigerung des deutschen Grußes" und ähnlicher Lächerlichkeiten ins KZ gebracht worden waren.

Eine Esskneipe machte auf zwei großen Tafeln neben dem Eingang Reklame für preiswerte "Eintopfgerichte". Er hatte Hunger und ging hinein. Der Ober kam, wedelte mit der Serviette Krümel von der Tischplatte. "Einen schmackhaften Eintopf der Herr?"

"Nein", sagte Anton wütend, "ich möchte ein Essen haben. Bringen Sie bitte Eisbein mit Sauerkohl."

Die Molle Helles dazu schmeckte nach so langer Zeit. Er zahlte und sah auf die Uhr. Zu Fuß würde er zur rechten Zeit auf der eben vermittelten Arbeitsstelle sein, einer Großgarage in der Nähe des Kottbusser Tors. Solche Spaziergänge waren ihm Bedürfnis, bedeuteten Wiedersehen mit der Heimatstadt und Neuerkunden.

Alles war anders geworden. Jener Begriff von vor dreiunddreißig, "Das rote Berlin", war keine Phrase gewesen. Wo gab es damals Stadtgegenden gänzlich ohne Zeichen roter Gesinnung? In den engen Mietskasernen hatte die proletarische Solidarität gelebt. Was war aus dieser streitlustigen, vitalen Stadt geworden? Blicklos taten Millionen "ihre Pflicht", emsig, verbissen, böse. Aus Furcht vor den braunen Aufpassern, die überall herumwimmelten, zeigte niemand sein wahres Gesicht und wagte kein offenes Wort.

Und wo waren die Genossen? Aber sah man ihm denn an, dass er einer war? Je unauffälliger man sich gab, desto sicherer für die Sache. Tarnung war unbedingte Voraussetzung für jede illegale Arbeit. Anton zweifelte nicht daran, dass noch viele rote Herzen in der braun getünchten Stadt schlugen. Man musste sie nur finden. Es galt zu sammeln, zu sichten, gerissene Verbindungen neu zu knüpfen, erschlagene Kämpfer zu ersetzen. Wer anders als die Partei konnte dem Gegner Schläge zufügen? Das Geheimnis hieß Organisation, hieß straffe Kampfpartei. Gewiss, die Arbeit war schwer und gefährlich, besonders für ihn, den eben aus dem Kerker Entlassenen. Aber er hatte noch nie kapituliert und würde es auch jetzt nicht tun.

Den Kopf voller Pläne, erreichte Anton den Michaelkirchplatz. Ernst hob die Michaelkirche ihre Halbbögen aus dem Grün der parkähnlichen Anlage ringsum, krönte ihr dunkles Steinmassiv mit der freundlich blinkenden Patina der romanischen Kuppel. Anton setzte sich unter den Bäumen auf eine Bank. Während der Jahre der Wirtschaftskrise waren die Anlagen ein Tummelplatz der Arbeitslosen gewesen, hatten hier die Skatbrüder gesessen und die Schachfanatiker mit ihren Kiebitzen, und die Halbwüchsigen ohne Lehrstellen. Die hier früher so viel Zeit gehabt hatten, waren jetzt im Landjahr, beim Arbeitsdienst, in der Wehrmacht, oder sie bauten Waffen. Das waren die hitlerschen Methoden zur versprochenen "Beseitigung der Arbeitslosigkeit".

An Stelle des verrosteten Geländers, das den "Engelbecken" genannten kleinen Hafen mit seinem stinkenden Wasser umgeben hatte, war dort jetzt eine stabile Mauer aus Verblendsteinen aufgeführt. Anton schlenderte hinüber, lehnte sich über die Mauer und genoss das Idyll inmitten der grauen Häuser. Ein Teich mit Schwanenhäuschen und Schwänen. Sanft hob sich das grüne Ufer, begrenzt von einem gelben Kiesweg. Rund um den Teich, an die Mauer gelehnt, ein Pergolengang, bewachsen mit Kletterrosen. Die Anlage war das Ergebnis einer parlamentarischen Fehde im Jahre achtundzwanzig, erinnerte sich Anton. Die kommunistischen Stadtverordneten hatten eine Badeanstalt gefordert. Doch die Zentrumsleute, Monsignore Pacelli gehorchend, dem Nuntius in Berlin und nachmaligen Papst Pius XII., hatten Einspruch erhoben. Eine Badeanstalt dicht vorm Portal eines Gotteshauses verstoße gegen die guten Sitten. Die Kommunisten im Stadtparlament hatten gekämpft, die Sozialdemokraten klein beigegeben, und - Pacelli hatte gesiegt. Erich Weinert hatte es in einem Spottgedicht glossiert. Anton kannte noch die beiden Anfangszeilen: "Pacelli wandelt durch Berlin, lässt seine Weihrauchschwaden ziehn ..."

Immerhin war dank des entschlossenen Vorgehens der Kommunisten ein schöner Park entstanden. Und er war wohl nicht zuletzt deswegen so prächtig angelegt worden, die um eine Badeanstalt betrogenen Berliner zu versöhnen. Ein Stück hin zum Oranienplatz gab es sogar einen Goldfischteich mit Springbrunnen. An der kleinen Ausbuchtung des Schwanenteiches aber wölbte sich eine malerische Holzbrücke. Hier standen dauernd Krumenstreuende, die farbenprächtigen Enten verwöhnend. Schwärme von Karpfen machten den Enten das Futter streitig. Sie standen so dicht, dass man versucht war, sich hinzuknien, um einen Mehrpfünder mit bloßen Händen zu fangen.

Allmählich werde ich wieder Berliner, dachte Anton, als er vom Oranienplatz die Dresdener Straße hinunter schritt.

Donnernd fuhr am Kottbusser Tor ein Zug ein. Mit der Hochbahn muss ich auch wieder mal fahren, nahm er sich vor.

Wenige Minuten später stand er vor der künftigen Arbeitsstelle. Die elektrische Uhr über der Tür des Bürohäuschens zeigte fünf Minuten vor drei. Sie war das prächtigste Stück des ganzen Grundstücks. Unbarmherzig enthüllte das grelle Sonnenlicht Gerümpel in allen Ecken, und den bröckelnden Mauerputz. Es stank nach Benzin, Schmiere und Öl. In dem von der Sommerhitze weich gewordenen Asphalt des Platzes hatten sich Wagenspuren eingedrückt. Ein schmächtiger, käsegesichtiger Lehrling besprengte ihn. Ein langer Schlaksiger meckerte: "Wagenwaschen sollste!"

"Pluster dir nicht uff!" Der Kleine lenkte rasch den Wasserstrahl zu dem Langen, der sich hinter die Plane eines Schnelllastwagens rettete.

Anton verkniff sich ein Schmunzeln und ging langsam über den Platz. In der Mitte sechs Tanksäulen, rechts die Werkstatt, links die Garagen. Anton trat in das enge Büro. "Guten Tag", sagte er, doch die hinter dem Schreibtisch sitzende Frau telefonierte weiter, als sei niemand eingetreten. "Nicht doch, nicht doch, bester Herr, wir sind ein Betrieb mit allen Schikanen. Und als Dauerkunde können sie keine bessere Garage finden. - Na, großartig! - Wann sind Sie hier? - Gut, ich notiere. - Heil Hitler!" Sie legte den Hörer auf und betrachtete Anton ungeniert. "Vom Arbeitsamt?"

"Ja", sagte Anton und gab ihr die Vermittlungskarte.

Die legte sie achtlos beiseite und fragte: "Führerschein?"

Anton nickte. "Allerdings wurde mir gesagt, ich soll als Wagenwäscher anfangen."

"Sollen Sie. Aber mit Führerschein ist alles einfacher, können Sie sich vorstellen."

"Meine Vorstellungskraft ist unbegrenzt. Viel begrenzter scheint mir der Tarif für Wagenwäscher."

Sie lachte und wurde Anton sympathisch, trotz der frechen Bemalung. "Sie sind ein ganz gewiefter. Wenn Sie als Wagenwäscher gehn, ist mir manches klar. Aber Ihre Sache - interessiert mich nicht. Nur einen guten Rat: Wenn der Alte hier ist, grüßen Sie lieber immer 'Heil Hitler!'"

"Ich bin ja noch gar nicht eingestellt."

"Doch. Unterschreiben kann Herr Höhler. Und jetzt kommen Sie mal mit." Auf ihren Stöckelschuhen trippelte sie voraus und warf die Hüften. In der Garage bezeichnete sie drei Wagen. "Die fahren Sie solange raus. Um halb vier kommt der, mit dem ich eben telefoniert habe. Wenn er verschwunden ist, fahren Sie die Wagen wieder rein. Das machen Sie jeden Tag um halb neun, wenn er wegfährt, und um halb vier, wenn er kommt."

"Und wenn mal einer der drei andern Wagenbesitzer unangemeldet aufkreuzt?"

"Da werden wir schon eine Ausrede wissen, wie?"

Sie gingen wieder zurück. Auf dem Hof hielt sie der Käsegesichtige an. "Frau Bräutigam, der Roderich sagt, erst muss ick die drei Wagen waschen, ehe ick die Kupplung von dem Mercedes in Ordnung bringe."

Die Bräutigam rief in eine bestimmte Richtung, als hätte sie Röntgenaugen: "Herr Halpope, wenn der Mercedes bis Feierabend nicht fahrfertig ist, bumst es."

Der Schlaksige tauchte hinter einer hochgestellten Kühlerhaube auf. "Sind Sie der Gefolgschaftsführer?"

"Nein - genauso wenig wie Sie. Bloß, dass ich besser weiß, was notwendig ist."

"Und Prokura haben Sie auch", bekräftigte der Käsegesichtige.

"Halt deinen Mund, Nitte", fuhr ihn Frau Bräutigam an, "und mach dich an den Mercedes."

Beim Weitergehen sagte sie leise zu Anton. "Meine Kragenweite, dieser Herr Roderich Halpope. Schon zweimal durchgefallen bei der Gesellenprüfung. Aber weil sein Bruder ein hohes SS-Tier ist, darf er auch das dritte Mal."

"Wenn er nun wieder durchfällt?"

"Hoffentlich. Wenigstens ein Grund zum Rausschmiss."

"Untergehen wird er trotzdem nicht. Als KZ-Bewacher beispielsweise braucht man nichts zu können."

Sie blickte Anton an. Jetzt sah er einige Linien und Fältchen in ihrem hübschen Gesicht. "Sie wissen ja allerhand."

"Sogar aus eigener Anschauung", sagte Anton, "früher oder später erfahren Sie es doch."

Der Chef, Herr Höhler, verschloss verstohlen ein Schranktürchen, als sie beide ins Büro traten. Übergangslos sagte Frau Bräutigam: "Ich habe eben dem Halpope eins aufs Dach gegeben, Edmund. Um den Nitte zu kujonieren, mischt er sich in interne Betriebsdinge."

"Leg dich doch nicht dauernd an mit diesem - diesem ... ", er stockte und sah fragend auf Anton.

Sie stellte vor: "Der neue Wagenwäscher, Herr ... Herr ... "

"Born", sagte Anton und schob dem Gefolgschaftsführer die Karte vom Arbeitsamt vor die Nase.

"Tscha, Herr - Herr Born ..." Höhler zögerte und sah unschlüssig zu Frau Bräutigam hinüber. Sie kniff bejahend ein Auge zu und sagte: "Herr Born versteht was von Motoren und hat auch einen Führerschein. Für fünf Pfennig über Tarif will er anfangen."

Noch nie in Antons Leben hatte jemand für ihn seine ureigensten Angelegenheiten so resolut in die Hand genommen.

"Gegen zehn Pfennig über Tarif hätte ich auch nichts einzuwenden", sagte er.

"Da weiß ich nicht, warum Sie nicht als Autoschlosser arbeiten", wandte Höhler ein.

Frau Bräutigam hatte jenes Schränkchen geöffnet, sich einen Schnaps eingegossen und hinuntergekippt. Nachdrücklich hieb sie mit dem Handballen den Korken in die Flasche, trat zu Höhler und sagte betont: "Dafür wird er schließlich seinen Grund haben - nicht?"

"Meinetwegen", brummte Höhler, "also fünf Pfennig über Tarif und vierzehn Tage auf Probe. Morgen machen wir Ihre Arbeitspapiere zurecht."

"Na schön", sagte Anton.

"Erst mal Tagschicht", vervollständigte Frau Bräutigam die Einstellung, "von acht bis fünf. Vergessen Sie die drei Wagen nicht."

Anton wandte sich zur Tür, und die Mahnung Frau Bräutigams fiel ihm ein. Doch statt zu grüßen, fragte er an der Tür: "Wo sind denn die Zündschlüssel für die Wagen?"

"Die gibt ihnen Nitte."

"Nitte?"

"Der Krümel, unser Lehrling Heinz Nitzeband", erklärte Sie.

Anton fand Nitte, und der zeigte ihm das Fach mit den Zündschlüsseln. "Wann fangen Se an?" fragte er.

"Morgen früh."

"Jott sei Dank", entrang es sich Nitte, "vor lauter Wagenwaschen bin ick überhaupt nich mehr ans Fachliche gekommen."

"Ist das so wichtig?" reizte ihn Anton. "Spätestens nach dem Auslernen wirst du Soldat."

Nitte nickte tiefsinnig. "Leider. Aber als jelernter Autoschlosser habe ick mehr Chancen, zur motorisierten Truppe zu kommen."

"Totgeschossen werden kann man überall."

"Aber die Infanterie kriegt immer zuerst 'n kalten Arsch."

Anton wiegte den Kopf. "Schwer zu sagen. Am besten, es gibt überhaupt keinen Krieg."

"Glooben Se?" Nitte brachte seinen Mund nahe an Antons Ohr. "Der Halpope da, der weeß über so wat immer Bescheid. Der sagt, et jeht bald los."

"Wo denn?" Anton tat vertraut, ungläubig und neugierig.

"Im Osten, jejen den Russen."

"Wieso gerade gegen den?"

"Hör'n Sie denn keen Radio? Det ist doch der bolschewistische Todfeind."

"Deiner auch?"

"Wie meinen Se det?"

"Kennst du irgendeinen Russen, auf den du so wütend bist, dass du ihn umbringen möchtest?"

"Wie komm ick 'n dazu? Aber det erzähl'n Se mal dem Führer."

"Ich werde mich hüten. Doch mit dir kann man wohl reden."

"Klar. Bloß müssen Se mir versprechen, dem Halpope nich zu verraten, wat ick Ihnen jesagt habe."

"Ehrensache."

Anton hielt Nitte die Hand hin.

Der sah erstaunt auf, dann schlug er freudig ein. So ernst hatte ihn noch kein Erwachsener genommen.

"Tschüss, bis morgen", sagte Anton und ging.


Ganze drei Autoschlosser beschäftigte Herr Höhler. Der alte Ehmsen, graue Bürste und strenge Nickelbrille, war Meister in einem Großbetrieb gewesen. Als Mitglied der SPD bei den "Säuberungsaktionen" dreiunddreißig entlassen, hatte er als einfacher Arbeiter untertauchen müssen. Die Rente hätte nicht gereicht, um den Verpflichtungen, erwachsen aus den Hypotheken auf das Häuschen und den Grundbesitz, nachkommen zu können. Für seinen herabgedrückten Lebensstandard machte er nicht Hitler verantwortlich, sondern die SPD. Hätte er gewusst, wie alles kommt, wäre er nie in diese Schlappschwanzpartei eingetreten. Das gab er nicht offen zu, aber es sprach aus seinem Zynismus. Nicht mehr Meister sein zu dürfen, hatte seiner Seele einen Knick zugefügt. Er suchte es zu verschmerzen, indem er noch immer den ehemaligen Meister herauskehrte.

Johannes Barkereit war unkomplizierter. Mit bescheidenem Köpfchen ein zuverlässiger Praktiker, war er gutmütig und anspruchslos. Wenn Frau und beide Kinder zu essen hatten, deuchte ihm diese Welt nicht übel. Seine Kollegen nannten ihn Tuddel, weil er freitags nach der Lohnzahlung die Aufforderung zu einem Kneipenbesuch jedes Mal mit den Worten einleitete: "Jehn wir ein' tuddeln?" Uneingestanden respektierte er in Ehmsen den Meister. Der sprach so gebildet und hatte theoretisches Fachwissen. Und da der Alte sich gegen Anton anfangs reserviert verhielt, war auch Tuddel gegen den Neuen zugeknöpft, obwohl ihm das offensichtlich Unbehagen bereitete.

Emmerich Kohsel war der Jüngste der drei Schlosser, unverheiratet aus Berechnung. Er sparte für die Meisterprüfung, er sparte für die eigene Werkstatt. Bücher, Kino, Theater, Vereine? Firlefanz, der Geld kostet. Auch die Politik hält den Menschen vom Arbeiten und Sparen ab. Das hatte er doch an seinem Freund Siegfried Ehrengraf gesehen. Der Glückspilz sollte das väterliche Geschäft erben, war dreiunddreißig in die SA eingetreten, hatte sich dort das Trinken angewöhnt und, als dann sein Vater gestorben war, das ganze schöne Geschäft versoffen. Diese Tatsache hatte Kohsel derart erschüttert, dass er sie immer wieder erzählte. Sie war ihm ein unwiderleglicher Beweis, dass alle Politik nichts tauge, weder eine braune, eine schwarze noch eine rote.

Gewohnheitsgemäß suchte Anton, Charakter und Einstellung der drei Kollegen zu ergründen. Immerhin kein Nazi dabei. Manche ihrer guten Anlagen waren von einer bösen Zeit verschüttet. Ehmsen hätte dem Lehrling fachlich am meisten geben können, aber er geizte mit seinen Kenntnissen und machte es sich bequem mit Redensarten wie: "Haben wir als Lehrlinge nicht viel öfter Bottkeule spielen müssen?"

So blieb es Anton überlassen, den Kleinen zu ermutigen, ihm vorwärts zu helfen. Anton bemühte sich selbst um solide Kenntnisse im Motorenbau und fahndete ständig nach populären Fachbüchern. Davon profitierte auch Nitte. Mit Frau Bräutigams Hilfe verstand es Anton gelegentlich einzufädeln, dass Nitte bei Tuddel helfen musste. "Dem schau auf die Finger", sagte Anton dem Jungen, "der hat goldene Hände." Keiner rupfte einen Motor so reibungslos auseinander, keiner setzte ihn so schnell und präzise wieder zusammen wie Tuddel. Doch hätte er den Arbeitsvorgang des Otto-Motors erklären müssen, wäre er ins Stottern gekommen.

Seit dem Tag jenes Handschlags begann etwas Neues, Schönes im Leben Nittes. Als Halbwaise ständig umhergestoßen und benachteiligt, spürte er, dass Antons Kameradschaftlichkeit und dessen Ablehnung der Nazis zusammengehörten. Er bewunderte, wie witzig Anton die Bosheiten Roderich Halpopes gegen ihn, Nitte, entschärfte, ohne dem Nazi eine Angriffsfläche zu bieten.

Eines Tages kam Nitte mit erregt aufgerissenen Augen zu Anton und winkte ihn in eine stille Ecke. "Was iss'n eigentlich mit Ihnen, Toni?"

Anton tat recht erstaunt. "Mit mir?"

"Haben Se 'n Verkehrsunfall jebaut?"

"Wieso?"

"Na ja, da sitzt eener im Kontor, sieht aus wie 'n Kriminaler, der erzählt so allerhand."

"Du hast gelauscht?"

"Nich direkt. Ick sollte für Ehmsen 'ne Spezialdüsennadel holen, aber sie haben mir gleich wieder rausjeschickt. Nu musste ick mir hinter de Tür mein Schnürsenkel zuknippern, nich?"

"Und dann?"

"Da hab ick verschiedenet jehört: Sofort melden - nach Probezeit vielleicht doch lieber entlassen - und so."

"Was hat Höhler gesagt?"

"Der war nich da. Aber die Bräutigam hat tacko 'n Jeschäftsführer jemacht. Et wäre ihr neu und sehr peinlich, denn solche Leute wären ja 'ne Jefahr. Immerhin könnte sie bis jetzt nich klagen, aber selbstverständlich würde sie sofort berichten, wenn sie irjend wat bemerken sollte."

Anton fuhr sich nachdenklich über das Kinn. "Soso."

"Und denn hat der mit der Aktentasche noch jesagt, det man den Führerschein des Born einziehen werde, und deshalb dachte ick, det Sie 'n Zusammenstoß oder ... "

Anton schüttelte den Kopf und dachte angestrengt nach.

"Aber warum sollten die Ihnen denn ..."

"Wenn du versprichst, Nitte, mit niemand darüber zu reden, werde ich's dir erklären."

Nitte nickte mit kindlichem Ernst.

"Für jetzt nur so viel: Kurz bevor ich hier angefangen habe, bin ich aus dem Zuchthaus entlassen worden."

"Gloob ick nich!" Der Junge sah den Älteren trotzig an.

"Warum nicht?"

"Sie würden bestimmt nich einbrechen, een' dotschlagen oder ... "

"Du warst noch klein damals, aber vielleicht entsinnst du dich, wie dreiunddreißig auch aus eurer Straße welche abgeholt worden sind von der SA?"

Nitte überlegte. "Kann sein - ja. In Nummer zweiundsechzig woll eener, und denn - ja, stimmt - in Nummer vierundachtzig, schräg rüber von uns, waren's zweie. Aber die sind dann bald wieder rausjekommen und verzogen."

"Hatten die jemand umgebracht?"

"Nee - war woll wejen politisch und so."

"Viele von denen sind noch heute im KZ oder im Zuchthaus, genau wie ich bis vor ein paar Wochen."

"Warum sind Sie denn einjesperrt worden?"

"Weil ich für Kollegialität war, für Solidarität."

"Wat iss'n det?"

"Dass die Armen sich immer beistehen, beispielsweise."

"Aber die Nazis sagen doch ooch, sie sind für Volksgemeinschaft. So wat meinen Sie doch, nich?"

"Machen die Volksgemeinschaft? Du bist 'n fixer Bengel, wirst aber immer getreten. Der Halpope wird gehätschelt."

"Stimmt." Nitte bekam ein grimmiges Gesicht. Viele Fragen stauten sich hinter seiner gefurchten Stirn.

"Wir wollen uns hier nicht zu lange unterhalten, Nitte. Aber wir werden ab und zu ins Kino gehen. Dabei kann ich dir mehr darüber erzählen. Und wenn jemand mal fragen sollte, können wir immer sagen, wir haben uns über den Film unterhalten."

"In Ordnung. Wann jehn wir?"

"Kannst bei Gelegenheit auf der Anschlagsäule nachsehen. Jeden Mumpitz sehen wir uns natürlich nicht an. Kurz vor Feierabend sprechen wir dann noch mal."

Anton ging zu Frau Bräutigam, nachdem er festgestellt hatte, dass sie allein im Büro war. "Gut, dass Sie kommen, Herr Born", empfing sie ihn ernst. "Ich muss sowieso mit Ihnen sprechen." Mit nervösen Händen steckte sie eine Zigarette in die elegante Damenspitze und schob Anton das Päckchen hin. Offensichtlich suchte sie nach einer geschickten Einleitung, platzte dann aber heraus: "Man will Ihnen den Führerschein wegnehmen."

"Wenn man ihn bekommt."

"Wollen Sie ihn verbrennen?"

"Ich hab' ihn vergessen, wenn sie ihn auf dem Revier fordern. Am nächsten Tag bringe ich eine Bescheinigung meines Arbeitgebers, dass er mich entlassen müsste, falls mir der Führerschein entzogen wird. Darauf gründe ich meinen Antrag auf Belassung, weil andernfalls nachweisbare Benachteiligung in meinen Arbeitsaussichten beständen und so weiter. Sie wissen ja, wie man denen kommen muss."

Mit verächtlichem Schnauben pustete Frau Bräutigam den Rauch durch die Nase. "Das unterschreibt Höhler nie."

"Sie haben doch Prokura, schmeißen hier sowieso den Laden."

"Danke für die Blumen. - Aber irgendwann würde er es erfahren." Sie seufzte und überdachte alle Möglichkeiten.

Ein Wagen fuhr draußen vor. Nach einem Blick aus dem Fenster drückte sie Anton nervös eine Pappschachtel in die Hand und flüsterte: "Sie haben das hier für Ehmsen geholt."

Anton ging gemächlich, in der offenen Tür sagte er laut: "Schön, Frau Bräutigam, werde ich Ehmsen bestellen." Eilig ging er zur Werkstatt. Höhler beachtete ihn kaum und hastete grußlos an ihm vorbei. Gern spielte der Herr Gefolgschaftsführer den überlasteten Chef.

Höhler saß bis zum Feierabend im Büro, deshalb war keine endgültige Antwort von der Bräutigam zu erwarten. Und morgen war der Gang zum Revier fällig. Nicht sehr fröhlich verabredete Anton mit Nitte den ersten Kinobesuch.

Am nächsten Morgen tauchte Höhler gleich nach Arbeitsbeginn auf. Antons Hoffnung sank noch tiefer. Der Herr Chef blieb den ganzen Vormittag. Kurz vor der Mittagspause kam Vera Bräutigam. In einem unbewachten Augenblick steckte sie Anton einen Briefumschlag zu.


Das Polizeirevier lag im ersten Stock. Anton war nicht der einzige Besucher dieser Art, und alles, was sich ständig wiederholt, wird Routine. Gruß, gebrummter Wiedergruß, kurzes Mustern des Zwangsbeauflagten, Eintragung ins Kontrollbuch, manchmal eine joviale Ermahnung, und der Auflage war von beiden Seiten Genüge getan. Anton war schon wieder an der Tür, als der Hauptwachtmeister leichthin sagte: "Übrigens, Born, Sie möchten mal zum Reviervorsteher kommen."

Der Reviervorsteher, ein Polizeiobermeister, hatte kein Bürokratengesicht, eher das eines Arbeiters. Wahrscheinlich ein Sozialdemokrat, der sich bis jetzt durchlaviert hat, dachte Anton.

"Herr Born - Sie haben sich eben eintragen lassen?"

"Ja."

"Darf ich mal Ihren Ausweis sehen?" Er tat, als prüfe er sehr gewissenhaft, und forderte dann monoton: "Ihren Führerschein."

"Den habe ich nicht bei mir."

Der Uniformierte blickte den Mann vor sich müde und vorwurfsvoll an. "Sie kutschieren ohne Führerschein umher?"

Sie haben spitzgekriegt, dass ich ab und zu hier mit einem Wagen hergerutscht bin, dachte Anton innerlich amüsiert und sagte todernst: "Heute musste ich laufen, Herr Obermeister."

"Wenn Sie laufen, lassen Sie den Führerschein natürlich zu Hause."

"Nein, ich habe ihn heute vergessen, weil ich ein anderes Jackett angezogen habe."

Mit raschem Blick überflog der Reviervorsteher ein vor ihm liegendes Schreiben. "Jedenfalls verlangt die zuständige Stapoleitstelle Ihren Führerschein. Bringen Sie ihn nächstes Mal mit."

"Eine Bitte, Herr Obermeister: Darf ich die Anschrift der Leitstelle erfahren?"

Ohne aufzusehen, langsam und eintönig las der Reviervorsteher den Briefkopf vor, mit Aktenzeichen und Zimmernummer. Im gleichen Tonfall, immer noch auf das Blatt starrend, sagte er dann: "Und wenn jemals einer erfährt, wo Sie die Anschrift herhaben, mache ich Ihnen das Leben sauer. - Sie können gehen."

"Danke", stotterte Anton überrascht. Im Bemühen, die Anschrift seinem Gedächtnis einzuprägen, vergaß er zum ersten Mal den offiziellen Gruß. Er wurde nicht zurückgeholt.

Anton überlegte. In die Höhle des Löwen gehen, versuchen, denen dort die Belassung abzulisten? Nein, ihm graute vor der Bande. Er schickte seinen Antrag mit der Bescheinigung Frau Bräutigams per Eilpost an die Stapoleitstelle. Einige Tage später bekam er eine Vorladung. Betroffen fluchte er in sich hinein. Was er verhindern wollte, hatte er nun provoziert. Schweren Herzens machte er sich auf den Weg.

Durch mehrere Kontrollen gelangte er endlich in das Zimmer hundertneun. An der Tür blieb er gewohnheitsgemäß stehen. Sein Kontrahent saß vor einem Schreibtisch am Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. Offenbar las er den Antrag Antons. Er las sehr lange. Man konnte im Zweifel sein, ob er wusste, dass der Antragsteller bereits im Zimmer stand. Anton, in derlei Dingen erfahren, dachte, mal muss er ja nach Hause gehen. Nach etwa zehn Minuten sagte der am Fenster, ohne sich umzuwenden: "Sie sind doch ein selten frecher Hund, Born. Nicht nur, dass Sie überhaupt den Antrag stellen, schicken Sie ihn noch per Eilpost."

"Wenn Sie das so aufgefasst haben, Herr Kommissar, tut es mir leid, und ich möchte mich entschuldigen", sagte Anton, "aber ich sitze in der Klemme, möchte ein ordentliches Leben führen, arbeiten ... "

Der Kommissar wandte sich jäh um. "Sagen Sie bloß, es gibt keine Arbeit!"

"Natürlich gibt es die. Doch für Leute meiner Straftat sind die großen Betriebe mit Staatsaufträgen gesperrt, und die kleinen Krauter in meiner Branche wollen alle Leute mit Führerschein."

"Passen Sie auf, Born, wir schicken Sie wieder ins KZ, und den Ärger mit dem Führerschein sind Sie los. Meinen Sie nicht, dass Tausende mit Ihnen tauschen würden, auch ohne Führerschein?"

"Selbstverständlich. Nur, weil man mir bei der Entlassung sagte, wenn ich still meine Pflicht tue, würden mir keine Hindernisse in den Weg gelegt, deshalb kam ich darauf, den Antrag zu stellen."

"Welcher Pinsel hat Ihnen denn den Religionsunterricht erteilt?"

"Oberkommissar Taege."

"Na, den werde ich mal brieflich fragen."

"Herr Kommissar, könnten Sie nicht ein Wort für mich einlegen, dass ..."

"Schluss jetzt! Geben Sie den Führerschein her."

"Ich habe ihn nicht bei mir."

"Vergessen, wie?"

"In der Vorladung stand nicht ... "

"Sie werden den Führerschein sofort holen, Born, verstanden?"

"Jawohl, Herr Kommissar." Anton ging. Verteufelte Situation, dachte er und grübelte auf dem Nachhauseweg, wie er die Gestapo überlisten könne. Plötzlich erinnerte er sich, dass ihn die Wache ohne Vorladung nicht hätte passieren lassen. Darauf gründete er den Plan.

Mit Bleistift kritzelte er auf einen Zettel: "Sehr geehrter Herr Kommissar, wie von Ihnen angeordnet, bin ich nach Hause gefahren und habe den Führerschein geholt. Da mich die Torwache ohne Vorladung nicht durchlässt, übergebe ich ihn hiermit derselben und verbleibe mit deutschem Gruß Anton Born." Den Zettel steckte er in einen Umschlag, aber nicht den Führerschein. Er adressierte den Umschlag, klebte ihn aber nicht zu. Dann fuhr er wieder zur Gestapo und gab den Umschlag bei der Wache ab. Anton kalkulierte: Den Umschlag wird der Kujon frühestens morgen Mittag haben. Natürlich wird er den Führerschein vermissen. Da der Umschlag offen ist, Anfrage bei der Torwache. Es ist nicht die Gleiche wie am Abend. Sie kann beim besten Willen keine Auskunft geben. Fraglich, wann der Kujon dazu kommt, die Richtigen zu fragen, fraglich überhaupt, ob jeden Abend die Gleichen da sind. Darüber geht Zeit hin, ziemlich sichere Gewähr, dass in dem Riesenapparat die Sache versandet. Das wäre der günstigste Fall. Und der andere? Der Kujon bestellt mich noch einmal zu sich und nimmt mich in die Zange. Dann heißt es eisern bleiben und beteuern, ich habe den Führerschein wie beschrieben im Umschlag abgegeben, er muss auf dem Wege nach oben herausgefallen sein.

Die nächsten Tage waren voll ekliger Spannung. Doch das kostbare Dokument war die Aufregung wert. Wochen vergingen, nichts geschah. Anton beglückwünschte sich mit dem Ausspruch alter KZler: Der liebe Gott lässt keinen guten Atheisten im Stich.

Keiner wird als Held geboren

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