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WIEDERGEBURT

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Der leise Wind schenkte Frische; er trug Kinderlaute vom Badestrand herüber, aber es konnten auch Möwenschreie sein; er ließ die spärlichen Halme des Strandhafers erzittern und bog sie alle in eine Richtung. Er war voll des Meeres, der leise Wind, duftete nach Tang, Muscheln, Salz, nach Weite und Fernweh. Wenn er sich drehte, roch es nach Harz und Kiefern. Dann hatte er sich vollgeatmet am Wald dort oben, der jetzt schweigend stand und schwarz und den Sommertag weißer machte.

Sauber und kühl umgab der Seesand den Körper. Es prickelte, wenn man sich ein wenig bewegte. Anton Born wandte das Gesicht aus der Helle und blinzelte über die Dünen hin, trank mit den Augen das Bild des gekräuselten Wassers mit den hellen und dunklen Stellen, das weiter hinten zu einer einzigen stillen Farbe wurde, ehe es zusammenstieß mit dem blass blauen Ostseehimmel.

Anton ruhte gern hier in der Einsamkeit. Er lag stundenlang still wie ein Stück Treibgut und erlebte so intensiv wie nie zuvor. Der Zupackende, Heitere hatte vor der Haft trotz seines harten Lebens nicht wenige glückliche Stunden gekannt. Doch so tief, so köstlich waren sie nicht gewesen. Keiner konnte es ermessen, der nicht durch die Höllen seiner sechs Jahre gegangen war. Manchmal beunruhigte ihn der Gedanke: Vielleicht ist alles nur ein Traum? Dann grub er hastig seine Hände in den Sand, packte ein an den Strand, gespültes Plankenstück oder warf sich schnaubend ins Wasser. Fühlen, fassen, festhalten das wiedergegebene Leben.

Es war ein Traum der Wirklichkeit, und er kostete ihn aus. Dass die Familie alles so sorgsam vorbereitet hatte! Was zählte dagegen der Kampf um die Zustimmung zur Reise, der mit den Instanzen geführt worden war, vom Reviervorsteher bis hinauf zum Reichssicherheitshauptamt, oder das ständige, wohlgemeinte Sorgen und Fragen der Schwester, ob Anton nun auch wirklich und für immer "vernünftig" sein werde.

Die Hungergruben in Antons Gesicht verschwanden langsam, das dunkle Haar verwuchs den entwürdigenden Kahlschnitt, kräuselte sich in alter Unbekümmertheit. Anton hatte jene Haut der Brünetten, die sich nicht schält. Braun war er, ein junger Athlet. Jeden Tag schwamm er weite Strecken. Wasser steigerte seine Lebenslust. Er bewegte sich in ihm wie ein Seehund. Und am schönsten war das Spritzen, Panschen und Tollen mit den Kindern. Toni war ihr Liebling, der voller Kurzweil und Allotria steckte. Wen er mit seinen blaugrauen Augen anblitzte, der musste mitlachen. Ja, Kinder! In ihrer Gegenwart vergaß er die schwere Vergangenheit.

Schmunzelnd gedachte er der kleinen Listen, mit denen er sich jedes Mal aus ihrer Mitte stahl, um einsam in den Dünen zu dösen. Lauschend wandte er den Kopf. Sie suchten ihn. Jetzt wehte es lauter herüber: "Toooniii, wo biiist duuu?"

Seufzend erhob er sich mit glücklichem Lächeln. Er wurde jubelnd empfangen. Der Kleinste stand in ihrer Mitte, hielt mit dicklichen Armen einen riesigen Ball über dem Kopf. Schnell war ein Kreis gebildet, und der Ball begann zu wandern. Anton warf ihn schwungvoll quer durch den Kreis Christine zu, die ihn verfehlte. Weit schoss er hinaus, sprang gegen den Wall einer Strandburg und dann gegen ein schlankes Knie.

"He, wirfst du uns mal den Ball her?" rief Anton.

Das Mädchen war schon im Begriff gewesen, sich zu bücken. Der Anruf erregte ihre Abwehr. Hochmütig ging sie hinunter zum Strand. Der hatte ja Fuhrmannsmanieren! Schließlich war sie keine Göre mehr, beinah siebzehn. Sie watete ins Wasser und ließ sich vom Wellenschlag die Kniekehlen kitzeln. Die Kinder spotteten, und sie hörte, wie dieser Toni sie begütigte. Er fragte, ob einer wüsste, wie sie heiße.

"Dagmar Hartwig", sagte Christine, "sie sind gestern in unserer Pension angekommen."

Anton rief ihr zu: "Dagmar, willst du nicht mitspielen?"

Da kannst du lange warten, dachte sie, warf verächtlich die Schultern und schwang sich mit einem Hechtsprung nach vorn. Geübt kraulte sie eine weite Strecke, immer dem prächtigen Glitzern nach. Wunderbar trug das Meerwasser. Als sie sich nach einer Weile auf den Rücken legte, staunte sie, wie fern der Strand bereits war, wie klein die Menschen und Dinge dort. Sie sah, dass dieser Toni die Hand über die Augen hielt und ihr winkte umzukehren. Was der sich einbildete, sie war Klassenbeste im Schwimmen. Trotzig warf sie sich wieder nach vorn, zog weiter dem Horizont entgegen. Sanft hob und senkte sich die Dünung.

Plötzlich wurde ihr die Stille bewusst. Sie warf einen hastigen Blick über die linke Schulter. Winzig lag dort der lange Anlegesteg für die Bäderdampfer. Umkehren? Dann denkt der Kerl womöglich, ich gehorche ihm.

Sie merkte, wie ihre Bewegungen langsamer wurden. Ein neuer Blick sagte ihr, dass Toni seine Bemühungen aufgegeben hatte. Der Strand schien verlassen. Es musste bald Mittag sein. Schön, kehren wir um. Sie legte sich zurück und schwamm auf dem Rücken. Arme über den Kopf, Stoß, Ausatmen - Einatmen, Arme über den Kopf ... Endlich drehte sie sich um und erschrak: Das Land schien jetzt noch weiter entfernt zu sein. Sie kraulte angestrengt. Das rettende Land kam nicht näher. Und nun noch ein Krampf in der rechten Wade. Ruhe bewahren, redete sie sich Mut zu, legte sich auf den Rücken und begann zu massieren. Sie schluckte von dem Bittersalzigen. Der Krampf war hartnäckig. Sie fühlte sich grenzenlos einsam und fror plötzlich.

Vorsichtig machte sie wieder Kraulschläge, wurde schneller, kämpfte verbissen. Krampf in beiden Waden. Sie spürte Tränen der Mutlosigkeit und erschrak vor der eigenen Stimme. "Hilfe!" hörte sie sich rufen. Der Ton war dünn wie ihre Hoffnung.

Hatte sie schon Halluzinationen? Von halb rechts hinter sich hörte sie deutlich: "Nicht nervös werden!"

Schwach wandte sie den Kopf und sah Toni kommen. Mit schnellen Stößen war er heran und lachte beruhigend. "Kleiner Krampf?"

Sie nickte, hatte Mühe, kein Wasser zu schlucken. "In - beiden - Waden."

Er schwamm hinter sie, hob in der Art der Rettungsschwimmer ihre Schultern. "Ruhe, Ruhe - tief atmen - ganz entspannen."

Gehorsam lag sie und wurde wirklich ruhig. Sacht begann sie, die verhärteten Muskeln zu massieren. Nach einer Weile sagte sie erlöst: "Endlich."

Er hob den Arm aus dem Wasser und wies mit der Handkante die Richtung: "Kurs Anlegesteg - weiter, aber dorthin geht's am leichtesten."

Folgsam schlug sie die angegebene Richtung ein. Er schwamm halb rechts vor ihr und ließ sie nicht aus dem Blick.

Schrecklich langsam kam der Steg näher.

Endlich spürte sie Sand unter den Zehen. Er nahm sie bei der Hand, nebeneinander wateten beide aufs Trockene. Ihr zitterten die Knie. Erschöpft sank sie nieder. Ihr Gesicht war blass, die Lippen hatten einen bläulichen Ton, und die kecke Stupsnase schien schmal und spitz geworden. Er stand vor ihr und betrachtete sie nachsichtig.

Vor Verlegenheit zerrte sie die Kappe vom Haar, warf sie achtlos in den Sand und sagte schluckend: "So - und nun - können Sie - können Sie allen erzählen, dass - dass Sie einer eingebildeten Pute das Leben gerettet haben."

Es belustigte ihn. "Erstens stimmt es nicht; zweitens finde ich Prahlhänse unausstehlich; drittens haben Sie für Ihre Waghalsigkeit auch ohne den Spott der andern genug gebüßt."

"Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte niemand bemerkt, wie ich ertrinke."

"Es stirbt sich nicht so schnell."

Sie erschrak, weil er plötzlich so finster aussah. Um ihn wieder in guter Laune zu sehen, fragte sie mit einem Blick schräg von unten herauf: "Vorhin haben Sie du gesagt."

Seine Stirn glättete sich wieder. "Es war wohl nicht angebracht."

"Aber jetzt fände ich es angebracht."

"Na, also dann, Dagmar, wollen wir Mittagessen gehen?"

Kameradschaftlich gab er ihr die Hand, und sie machte sich schwer, als er sie hochzog. Sie gingen schweigend bis zur großen Dorfdüne, wo sich der schmale Weg gabelte. Anton blieb stehen. "Ich muss hier hinunter. Tschüs denn, Dagmar, bis ... "

Sie blinzelte ihn an. "Bis ...?"

"Sagen wir bis morgen Vormittag, beim Ballspiel?"

Sie überhörte die Anspielung, tat trotzig und druckste: "Ach, und heute Nachmittag schlafen Sie wohl wegen - wegen der Strapaze?"

"Nee, das nicht", er kratzte sich das feucht verwuschelte Haar, "aber nachmittags gehe ich immer spazieren. Ich liebe Kiefern, bin in Berlin geboren. Weiter weg ist auch Buchenwald." Sie tat sehr erstaunt.

"Tatsächlich? Und ich dachte, hier gibt' s bloß diese langweiligen Kiefern."

Das ist die Bitte um eine Einladung, dachte er und tat ihr den Gefallen. "Wenn du Lust hast, können wir uns auch die dicken Buchen ansehen, aber unter einer Bedingung."

"Oho."

"Du und Sie, das ist so ein komischer Mischmasch. Entweder beide Sie oder beide du."

"Ich bin für du." Übermütig warf sie die Haare nach hinten.

"Um drei dann, am Dorfausgang."

"Einverstanden." Sie gab ihm die Hand und ging rasch davon. Mehrmals noch schaute sie sich um und winkte.

Kurz vor drei Uhr saß Anton auf einem bemoosten Findling am Dorfausgang und betrachtete einen Ameisenhaufen. In seinem Kopf wimmelten die Gedanken. Seine Gutmütigkeit hatte sich von Dagmar provozieren lassen, sie einzuladen. Erwartete sie etwa einen Flirt? Sie war ein nettes Mädel, intelligent, verwöhnt, aber offenherzig. Er würde sie enttäuschen müssen. Anders als in der Einsamkeit der Zelle, aber ebenso stark empfand Anton, wie sehr Elsbeth in all seinen Gedanken war.

Dagmar verspätete sich um zehn Minuten. Anton tat, als höre er sie nicht kommen.

Sie stand eine Weile hinter ihm und sagte dann: "Studien getrieben?"

"Ja, über Unpünktlichkeit als Laster."

"Du bist aber streng, Toni."

"Wahrscheinlich der erste strenge Mensch in deinem Leben."

"Da kennst du unsern Studienrat Leske nicht. Der sagt zum Beispiel, eins von beiden müsste abgeschafft werden, entweder die Mathematik oder die Frauen."

Ihrem Selbstbewusstsein einen Dämpfer zu geben, sagte er: "Von mir aus könnte beides abgeschafft werden."

"Du bist ja zynischer als Leske."

Er lenkte ein. "Wenn ich das ernst gemeint hätte, wäre ich dir dann nachgeschwommen?"

Sie schien wirklich traurig. "Du machst dich über mich lustig, und ich - ich benehme mich heute dauernd falsch."

"Bis auf eben, wo du es offen zugibst."

Ein wenig hoffnungsvoll hob sie den Kopf. "Du willst mich nur trösten."

"Das auch."

"Du bist nämlich ein sehr weichherziger Mensch."

"Nanu?"

"Heute Vormittag, als ich so albern war, hast du mich bei den Kindern noch entschuldigt. Obwohl ich mich um deine Warnung nicht gekümmert habe, bist du mir nachgeschwommen. Und als ich mit dir spazieren gehen wollte, hast du zugesagt. Dabei bin ich dir viel zu jung und zu grün."

Anton war betroffen von ihrer Beobachtungsgabe und antwortete nicht gleich.

Sie bereute, zu viel gesagt zu haben. "Dieses Nest hier ist stinklangweilig, und darum war alles so - so dumm."

"Dafür bist du doch intelligent."

Ihr Näschen krauste sich verächtlich. "Schönen Dank, edler Herr." Sie wandte sich um und ging zurück.

"Dagmar!"

Sie ging nur noch schneller.

Kopfschüttelnd sah er ihr nach. Missmutig stapfte er den Weg mit den ausgefahrenen Wagenspuren hinab. Vor seinem inneren Auge nahm Elsbeth immer klarer Gestalt an, und er wurde heiterer. Sie ist schön, dachte er, und war sich der Schwärmerei nicht bewusst, natürlich gehört für mich dazu ihre Reife und Ausgeglichenheit. Diese und noch mehr gute Eigenschaften prägen sich in Elsbeths Gesicht mit der hohen Stirn aus. Ihr Haar ist mir ebenso einmalig wie die schmalen Hände, der schlanke Wuchs, der sichere Gang. Überdeutlich sah er sie vor sich. Er bemerkte, dass er regelrecht trabte. Alter Knastbruder, ermahnte er sich, der Wald ist keine Zelle. Er legte seinem üblichen Pensum noch einige Kilometer zu, in der Hoffnung, dann beim Abendbrot allein zu sein.

Stillschweigend hatte man bisher auf Antons Eigenheiten Rücksicht genommen. Heute wartete die Schwester auf eine günstige Gelegenheit, Anton allein zu sprechen. "Kommenden Sonnabend ist im Nachbardorf Strandfest. Hättest du nicht Lust, mal wieder richtig zu tanzen?" Ungesagt klang ihr Unverständnis heraus, dass er keine Anstalten machte, sich einer Frau zu nähern. Verliebt sein hielt sie für das sicherste Mittel, einen Mann vor "politischen Dummheiten" zu bewahren.

Anton bat, sie sollten sich nicht vom Vergnügen abhalten lassen, aber er könne keinen Gefallen an solchem Trubel finden. Ein wenig gekränkt, ließ die Schwester ihn allein.

Kissen und Decken waren heute lästig heiß. Anton lag wach und sann. Die Erholung war notwendig. Weit schöner wäre dieser Urlaub gewesen, hätte er ihn mit Elsbeth gemeinsam erleben können.

Jener Misserfolg quälte ihn in dieser Nacht besonders. Sein Brief aus dem Zuchthaus an Elsbeth war zurückgekommen mit dem Vermerk: "Empfänger unbekannt verzogen." War sie verhaftet worden? War sie emigriert?

Vater Born hatte unter einem Vorwand die Portierfrau aufgesucht. Deren Erinnerung nach war Elsbeth mit ihrer Tochter in eine billigere Wohnung gezogen, wohin hatte sie vergessen. Auch die jetzigen Mieter der Wohnung wussten es nicht. Vater war kurz darauf zum Einwohnermeldeamt gegangen, hatte aber auch nur die alte Adresse erfahren können. Von einem Umzug Elsbeths war dort angeblich nichts bekannt. Anton wusste sowenig wie zuvor.

Bald nach dem Frühstück am andern Morgen machte er sich auf den Weg zum Versteck in der großen Düne, um versäumten Schlaf nachzuholen. Wie meist erwies sich das stetige Rauschen als gutes Schlummerlied. Im Traum quälten sie ihn wieder. Revolverschulz warf sich auf ihn und schlug mit dem Pistolenschaft, Taege stand höhnend dabei, dazwischen geisterte Zuchthausdirektor Larsch mit Akten und Ordnungsbefehlen, und später wurde alles dunkel und undeutlich wie im Bunker. Eine lästige Fliege kroch ihm immer wieder über das Gesicht. Es ist Blut, dachte er und keine Fliege, aber Blut läuft ja nicht aufwärts. Dieser Gedanke führte ihn ins Bewusstsein zurück. Er gewahrte einen Grashalm, dessen Puschel in seinem Gesicht spazieren geführt wurde. Er ließ die Augen geschlossen, während er belustigt-ärgerlich überlegte, wer ihn hier aufgestöbert haben könnte. Faul sagte er: "Immer wieder der alte Witz."

"Du hast aber Nerven", sagte Dagmar.

Ich hab's beinah befürchtet, dachte Anton und bequemte sich, die Augen zu öffnen. Er federte sich hoch. "Komm, gehen wir wellenbrechen. Wer zuerst unten ist!" Ohne sich umzusehen, rannte er zum Strand und warf sich kopfüber ins Brodeln. Gleich darauf hörte er ihr Juchzen neben sich. Als sie ausgepumpt zurückkamen, warf er sich lang in die Kuhle.

Sie hockte sich nieder und ließ gedankenverloren Sand durch die Hände gleiten. Nach einer Weile, zögernd: "Was bist du eigentlich von Beruf, Toni?"

Er tat, als schliefe er, und malte sich ihr Erschrecken aus, wenn er antworten würde: Berufsrevolutionär.

"Du, ich habe dich etwas gefragt."

"Rate mal", brummte er.

"Vielleicht ... Fürsorgeerzieher?"

"Wie kommst du darauf?"

"Du bist immer so - so - kannst mit Kindern umgehen und mit jungen Menschen."

"Hm. - Leider bin ich es nicht. Ein sehr schöner Beruf. Hättest du Lust dazu?"

"Ich weiß nicht. Ich wäre wohl zu ungeduldig. Aber schöner als Vaters Beruf ist er."

"Was ist dein Vater?"

"Regierungsrat in der Justizverwaltung."

"Wirst du auch Jura studieren?"

"Um Himmels willen. Ich werde wohl Germanistin werden. Im Aufsatz habe ich die meisten Einsen."

Anton erwiderte nichts, hoffend, dass sie weitererzählen würde. Sie tat es. Mutter sei ernster als Vater, auch gebildeter. In der Weltliteratur sei sie besser zu Hause als in der Küche. Natürlich günstig für eine angehende Studentin der Germanistik. Allerdings krittele Mutter manchmal an den heutigen Zuständen, sodass Vater öfter bremsen müsse. Aber das käme wohl nur, weil Mutter ein bisschen sehr intellektuell sei.

Anton verstand zuzuhören. Er fragte kurz, aber mit Teilnahme, und spürte, dass es Dagmar wohltat, von sich zu berichten. Nach einer Weile sah er auf die Armbanduhr und schlug vor, ins Dorf zu schlendern.

Sie griente jungenhaft, als sie weitersprach. "Vaters ganze Erziehung gipfelt jetzt nur noch darin, mich vor den Männern zu warnen. Das kann doch bloß sein, weil er sich selbst kennt."

Anton lächelte nachdenklich. "Ein guter Bürger: Alles ist bei allen Frauen erlaubt, nur nicht bei meiner Gattin und meinen Töchtern."

Sie blickte misstrauisch auf. "Du bist wohl 'n ganz radikaler Nationalsozialist?"

"Ach nee."

"Mit 'satter Bürger' und so sind die immer schnell bei der Hand."

Glücklicherweise waren sie jetzt an der kleinen Weggabelung angelangt. Anton brach das heikle Gespräch ab. Er nahm ihre Hand. "Tschüss denn, Dagmar. Wiederholen wir unsere Verabredung von gestern?"

Sie nickte erfreut.

"Aber heute ohne Schmollen?"

"Bestimmt", rief sie verlegen und rannte davon.

Pünktlich auf die Minute war sie beim Ameisenhaufen. Sie trug ihre Haare zusammengerafft mit einem blauen Band. Durch ein Kleid in der gleichen Farbe wirkten ihre Augen fast blau, obwohl sie grau waren. Aufgeräumt erklärte Anton, nun werde er ihr seine schönste Kiefer zeigen. Bald hatten sie den einsamen Platz erreicht. Vor dem ausladenden Wuchs der Knorrigen machte Anton eine Geste, als hätte er sie gepflanzt. "Ich liebe Kiefern. Wo alle andern Arten eingehen, da kämpfen sie sich hoch. Sie riechen nach Gesundheit, schenken uns Harzgeruch und ... "

"... die Kienäppel", spottete Dagmar gutmütig.

"Wer die Kiefer nicht ehrt, ist die Buche nicht wert", tadelte Anton, als sie weitergingen.

Auf der Landseite mit Zwergbirken bestanden, führte der Weg bergab und bergauf. Als sie aufatmend eine neue Höhe erreicht hatten, verharrte sie vor der sich jenseits eines schmalen Wiesentals erstreckenden Wand schwarzsilbern schimmernder Stämme, die über sich ihr Schild grünen Blattwerks gegen den Himmel hielten.

"Schön", sagte Dagmar, "ein gewachsener Dom."

Anton gab ihr den Spott über die Kiefern zurück: "Stimmt. Dome riechen auch meist ein wenig modrig."

"Trotzdem sind sie erhebend."

"Stimmt auch, denn geblieben sind die herrlichen Formen. Wenige denken an die Kosten: Schweiß, Tränen, Blut."

"So kann man sich jede Freude vergällen."

"Wenn man weiß, welche Opfer es kostete, wird das Schöne schöner."

Sie wurde wieder misstrauisch, spürte, dass sie ihm auf dieser Ebene unterlegen sein würde. "Gehen wir diesen Weg?"

"Ich schlage vor, wir nehmen den Weg dort drüben. Er führt durch den ganzen Wald. Dahinter liegt ein Dorf, von dem wir mit dem Überlandbus zurückfahren können."

Sie wanderten eine Weile, ohne zu sprechen. Aus der Ferne waren Axtschläge und Sägegeräusche zu hören, einmal ein dumpfes Krachen. Hinter einer Wegbiegung tauchte plötzlich eine Arbeitskolonne auf, die mit Holzspalten beschäftigt war. Ringsum im Wald, links und rechts des Weges, waren andere Gruppen beim Fällen. Anton zuckte zusammen. Die Arbeitenden waren KZ-Häftlinge in der Zebrakluft, die er selbst so lange getragen hatte. Und da entdeckte er auch die SS-Posten mit Maschinenpistolen. Einige führten einen Hund an der Leine. In Anton stieg Übelkeit hoch, als er das Kommandieren und Brüllen hörte. Kein Zweifel, hier schuftete ein Außenkommando von einem der Konzentrationslager im Lande.

Als Dagmar die Szenen wahrnahm, ging sie unwillkürlich dichter neben Anton. "Zuchthäusler?" fragte sie mit gepresster Stimme.

Er schüttelte den Kopf: "KZler." Ich muss ihnen einen Beweis meiner Sympathie geben, überlegte er. Unauffällig holte er die angebrochene Schachtel Zigaretten aus der Jacketttasche und ließ sie zwischen Dagmar und sich zur Erde gleiten.

"Du hast etwas verloren", sagte Dagmar vorwurfsvoll.

"Lass es liegen." Als er ein winziges Zögern in ihr zu spüren glaubte, nahm er sie beim Arm und schritt schneller voran.

Mit eigensinnigem Gesicht, die Lippen zusammengepresst, ging sie neben ihm.

Sie schwiegen noch, als der Spuk lange verhallt war und vor ihnen helleres Licht das Ende des Buchenwaldes ankündigte.

"Es waren doch Verbrecher", sagte sie plötzlich.

"Im KZ sind Tausende anständige Menschen."

Erregt blickte sie auf. "Woher willst du das wissen?"

"Ich weiß es, du musst mir glauben."

"Das ist kein Beweis."

Er ging grübelnd und finster weiter. Glückliche Inseln inmitten der Nazihölle waren Trugbilder. Plötzlich stand da die graue Wirklichkeit und zwang ihn zu einer Entscheidung, um die er wahrlich nicht nachgesucht hatte. Sollte er jetzt das Gespräch abzubiegen versuchen? Noch war er für sich allein verantwortlich. Sicher, die illegale Arbeit wartete auf ihn: Streuzettel, Flugblätter, Mauerinschriften, Dreiergruppen, Geldsammlungen, den Volkskampf gegen Hitler organisieren. Worum ging es bei all diesen Aktionen? Menschen zu gewinnen. Nichts aber wirkte nachhaltiger als persönlicher Einfluss. Auch bei der geringsten Widerstandstätigkeit stand das Leben eines Kommunisten auf dem Spiel. Die Frage, lohnt es, war eines Kämpfers unwürdig. Es lohnte, einem jungen Menschen die Augen zu öffnen, zumindest Zweifel an diesem System in sein Herz zu senken. Er war mit Dagmar allein, niemand konnte ihr Gespräch hören. Er wusste nicht viel von ihr, doch das Wichtigste: Sie war keine fanatische Nazis, und sie war immer ehrlich zu ihm gewesen, überraschend ehrlich in dieser Zeit des großen Heuchelns. Er wäre nicht mehr er selbst, würde er jetzt ausweichen.

Anton seufzte und hatte sich entschieden. "Damit du mir glauben kannst, musst du wissen. Komm, gehen wir diesen Querweg, ich möchte sie nicht mehr sehen, wenn sie beim Einrücken hier vorbeikommen." In einer kleinen Mulde mit warmem Moos unter einer Birke ließ er sich nieder, bat sie mit einer Geste, sich ihm gegenüber zu setzen.

Verschlossen gehorchte sie und sah ihn forschend an. Er wich ihrem Blick nicht aus. "Ich war selbst im KZ."

"Nein." Es war ein kleiner ungläubiger Schrei.

"Doch."

"Warum? Was - hast - du - verbrochen?"

"Ich bin auch nach dreiunddreißig meiner Weltanschauung treu geblieben."

"Du bist Kommunist?" fragte sie so leise, als hätte sie Angst, es könnte sie auch hier jemand hören.

"Ich liebe Deutschland, und ich wehre mich dagegen, dass man seine schöpferischen Leistungen verdunkelt mit Herrendünkel. Ein Volk, das andere versklavt, wird selbst nie frei sein."

Sie schüttelte gequält den Kopf. "Nein, dass solch ein feiner Kerl wie du … Die Kommunisten wollen doch alles russisch machen, alles."

"Das lügt man über sie."

"Sonst würde man sie doch nicht einsperren."

"Immer versucht die Lüge Gewalt gegen die Wahrheit zu setzen. Die Kommunisten zeigen den Irrweg Hitlers. Sie beweisen, dass er in den Krieg führt."

"Der Führer will keinen Krieg."

Anton musste aufsteigenden Zorn über so viel naive Leichtgläubigkeit niederkämpfen und raunte sich zu: Geduld, Geduld. Ich kann ihr jetzt keinen politischen Vortrag halten. Ich muss versuchen, ihr menschliches Empfinden wachzurütteln, ihr Gefühl für Gerechtigkeit. "Dagmar«, sagte er eindringlich, "in einer Stunde könnte ich dir klarmachen, dass Hitlers Politik zum Kriege führen muss. Aber selbst wenn die Kommunisten das wären, was man dir über sie beigebracht hat - findest du es richtig, dass man sie so behandelt, wie du es vorhin selbst erlebt hast?"

"Wie viel Jahre warst du im KZ?" Ihre Frage hieß: Du lebst doch noch.

"Ich bin mehrere Tode gestorben", sagte er. "Als ich im Bunker im KZ Dachau kurz vorm Zusammenbruch stand, holten sie mich nach Hamburg, um mich für kommunistische Betätigung im KZ abzuurteilen. Sie diktierten mir Zuchthaus zu. Dort geht es relativ ordnungsgemäß zu. Nur dadurch bin ich noch am Leben."

"Bunker, was ist das?" fragte sie und unterdrückte ein Schütteln.

"Am Rand meiner Begleitpapiere stand rot unterstrichen: Rückkehr unerwünscht, streng isolieren! Das hieß bei meiner Einlieferung in Dachau, sofort in Dunkelarrest, hinab in den Bunker, einer Zementzelle unter der Erde, mit einem zugenagelten Fenster, einer Holzpritsche darin und einem stinkenden Marmeladeneimer für die Notdurft. Den ganzen Tag hatte ich gegenüber dem Guckloch aufrecht zu stehen, die Hände in Stahlfesseln. Machten sie plötzlich Licht und stand ich nicht vorschriftsmäßig, dann schlugen sie so lange mit Ochsenziemern auf mich ein, bis ich bewusstlos liegen blieb. Aber das geschah nur ein paar Mal, denn ich sollte langsam sterben. Schlimmer waren die andern Strafen. Jeden Tag bekam ich einen Liter Wassersuppe, alle drei Tage ein Stück trocken Brot. Entweder sie entzogen mir das Brot oder taten so viel Salz in die Suppe, dass ich vor Durst Fieber bekam. Einmal schütteten sie mir den Marmeladeneimer ins Gesicht, ein andermal schlossen sie mich eine Woche lang auch noch mit den Füßen an eine Kette in der Wand. Am schlimmsten war es abends und nachts. Immer hatten sie einen oder mehrere Bunkerinsassen 'weichzumachen'. Das heißt, sie wollten von ihnen Aussagen erzwingen. Dabei ließen sie die betreffenden Zellentüren weit auf, damit wir andern uns vor Grauen auf unsern Pritschen krümmten. Ich habe nie gewusst, wie entsetzlich Gemarterte brüllen können. Als ich ..."

"Hör auf!" schrie sie.

Sachlich fuhr er fort: "Als ich aus dem Bunker geholt wurde, um nach Hamburg gebracht zu werden, wog ich achtundneunzig Pfund. Ich konnte nicht mehr aufrecht stehen. Leidensgenossen mussten mich zur Kommandantur schleppen. Der Kommandant sagte: 'Dich haben wir leider zu sanft behandelt, Freundchen, sonst wären die Barettonkels aus Hamburg zu spät gekommen. Ab heute marschiert keiner mehr lebend aus dem Bunker.'"

Dagmars Gesicht war weiß, sie presste den Kopf an die Birke, ihre geballten Fäuste schlugen das Moos. "Nein, nein, nein - Menschen können so etwas nicht tun!"

"Doch", sagte er, "sie rotten ihre wehrlosen Gegner in solcher Anzahl aus, dass die großen KZs Krematorien benötigen, weil auf den Friedhöfen der Umgebung kein Platz für die vielen Toten ist."

Sie lag, den Kopf auf den Arm gedrückt. Er saß zusammengesunken und erschöpft. Wenn er sie nun falsch eingeschätzt hatte? Aber wann und wo gab es hundertprozentige Sicherheit? Wer die verlangte, sollte lieber Frieden mit dem Satan machen.

Lange lag Dagmar da, das Gesicht ins Moos gepresst. Der Rücken bebte vor Schluchzen. Dann richtete sie sich langsam auf und betupfte gedankenverloren das Gesicht mit dem Taschentuch. "Toni - ich glaube - du hast viel durchgemacht, aber - aus dir spricht der Hass."

"Was für ein Jämmerling, der sie dafür nicht hassen würde."

Sie schüttelte heftig den Kopf, sichtbare Äußerung der inneren Abwehr gegen dunkle Dinge, die auf ihr helles, heiteres Leben zukamen.

"Toni, ich bin ganz unpolitisch und will es bleiben. Weil mir vieles nicht gefällt: Dieses ewige Heil-Hitler-Gegrüße, das Brimborium und die vielen Schlagwörter, unsere eingebildeten BDM-Rieken, die vielen, die mit dem Bonbon herumrennen, aber gar keine Nationalsozialisten sind. Das und noch so vieles andere gefällt mir nicht. Aber eins weiß ich genau: Der Führer meint es ehrlich. Er hat Schluss gemacht mit dem Parteiengezänk, er hat die Arbeitslosigkeit abgeschafft. Alle andern haben nur immer für sich gesorgt, er will Deutschland wieder groß machen. Darum - darum werde ich nie einen Kommunisten verstehen können."

Sie hatte pausenlos gesprochen und hektisch. Es war ein Gemisch aus Angelerntem, echtem Glauben und instinktiver Abwehr gegen die Gefahren des "Politischseins".

Unsicher stand sie auf, strich verlegen den Rock glatt. "Und, Toni, ich - ich möchte allein nach Hause. Sei nicht böse, aber ..." Sie zögerte, dann streckte sie ihm zaghaft die Hand hin.

Er starrte zu Boden. Er sah das Mädchen nicht und ihre ausgestreckte Hand. Er war so müde.

Traurig hob sie die Schultern, wandte sich um und ging langsam.

Die Stille ließ ihn hochfahren. Sie war schon ein Stück von ihm fort. Er rief. Sie blieb stehen und wartete auf ihn. Er legte ihr sacht die Hände auf die Schultern. "Dagmar - es war wohl zu viel, du brauchst Zeit, um darüber nachzudenken." Er atmete tief. Die rechten Worte zu finden, war ihm selten so schwer geworden. "Ich habe dir Dinge gesagt, auf die der Tod steht. Sprich mit niemandem darüber."

"Nein, Toni", sagte sie leise. Dann ging sie mit stockenden Schritten, als überlege sie, ob so alles recht war.

Die Nacht und den Tag darauf schlug Anton sich mit dem Gedanken herum, abzureisen. Aus seinem Gewissensstreit erlöste ihn am nächsten Tag ein Brief. Anton ging in seine Kammer und riss den Umschlag auf. Das lila Blatt war bedeckt mit steilen, klaren Buchstaben.


Lieber Toni,

ich habe die ganze Nacht darauf nicht schlafen können. Mir ist so elend. Mutti will mir dauernd den Arzt auf den Hals schicken. Ich weiß, dass Du nicht gelogen hast. Aber ich kann auch nicht anders denken, als ich es sagte. Was soll man nur tun, die Welt ist so hässlich. Du bist tapfer. Und ich bin so feige, dass ich nicht einmal mehr zusammen mit Dir gesehen werden wollte. Ich heule, wenn ich daran denke. Ich werde nie darüber sprechen, und nicht nur, weil Du mir das Leben gerettet hast.

Dagmar.


Mehrmals las Anton die Zeilen, saß lange sinnend mit dem Schreiben in der Hand. Sie wird nie mehr mit Begeisterung von diesem System sprechen können. Sie wird kritischer hinsehen, aufmerksamer der geheimen Wahrheit lauschen und, hoffentlich, eines Tages den höllischen Spuk durchschauen.

Den Rest der Ferien verlebte Anton, so oft es ging, allein und zurückgezogen. Es gelüstete ihn nicht nach neuen, ähnlichen Erlebnissen. Die Erholung war notwendig, trotzdem drängte es ihn, wieder nach Berlin zu kommen. Bei der Suche nach Elsbeth würde die Sehnsucht nach ihr leichter zu ertragen sein.

Keiner wird als Held geboren

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