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Radikale Helden
ОглавлениеUnsere Argumentation stützt sich auf eine intellektuelle Tradition, die auf Adam Smith zurückgeht. Smith wird heute häufig von konservativen Denkern einschließlich Marktfundamentalisten ins Feld geführt. Er war jedoch ein Radikaler – im doppelten Sinn, wie unser Motto betont. Erstens ging er den Wurzeln wirtschaftlicher Strukturen auf den Grund und stellte bis heute einflussreiche Theorien auf. Zweitens attackierte er die vorherrschenden Ideen und Institutionen seiner Zeit und legte eine Reihe mutiger Vorschläge und Reformen vor. Diese Ideen gelten nur deshalb heute als »konservativ«, weil sie die Politik und das Denken seinerzeit so erfolgreich umgestalteten.
Marktfundamentalisten ziehen eine Linie von Smith zu Menschen wie Friedrich Hayek, Milton Friedman und George Stigler – konservativen Idolen und Nobelpreisträgern aus der Zeit um 1950, die Smiths idealisierte Vorstellung von auf Privateigentum gründenden Märkten übernahmen. Diese Anschauung stellten sie in den Dienst einer libertären Wirtschaft und Politik. Die Fundamentalisten ignorieren jene Ökonomen, die Smiths radikalen Geist teilen, wie etwa Henry George, dessen Ideen zum Beginn der Progressive Era beitrugen und der vielleicht der am häufigsten gelesene Ökonom aller Zeiten war, dessen Vision jedoch in den Kämpfen zwischen Links und Rechts im Kalten Krieg unterging. George ging es mehr als den konservativen Anhängern von Smith um Ungleichheit, und er erkannte, dass Privateigentum wirklich freien Märkten entgegenstehen konnte. Um diesem Problem abzuhelfen, schlug er ein Steuermodell vor, das ein System von Gemeineigentum an Boden vorsah.
Der wichtigste »georgistische« Ökonom, dessen Andenken wir dieses Buch widmen, ist ein Professor aus dem 20. Jahrhundert namens William Spencer Vickrey. Vickrey war der Meister Yoda des Berufsstandes der Ökonomen: albern, sorglos, zurückgezogen, zerstreut und eine Quelle von meist unergründlichen, aber weltbewegenden Erkenntnissen. Er fuhr auf Rollerskates von der U-Bahn-Station zur Universität und trug Hemden, auf denen noch die Spuren seines Mittagessens zu sehen waren. Manchmal wachte er mitten in einem Forschungsworkshop aus einem Nickerchen auf, um einzuwerfen: »Diese Arbeit würde von … Henry Georges Prinzip der Besteuerung von Bodenwert profitieren.« So häufig erwähnte er das Modell von George, dass ein Kollege, der eine Laudatio auf ihn hielt, witzelte: »Inzwischen hat er es sicher auch Gott gegenüber erwähnt.«1 Distanziert, arrogant und introvertiert, versäumte Vickrey es häufig, wissenschaftliche Artikel zu publizieren, die seine besten Ideen enthielten.
Vickreys Forschungsimpulse waren unseren eigenen sehr ähnlich. Den Großteil seiner Karriere konzentrierte er sich auf die Organisation von Städten und die enorme Ressourcenverschwendung in den meisten städtischen Formen. Besonders faszinierten ihn Städte in Lateinamerika, wo er Regierungen bei der Stadtplanung und Besteuerung beriet. Während er ein Steuersystem für Venezuela entwickelte, schrieb er den Aufsatz, der schließlich seine besten Bemühungen torpedierte, seine Unbekanntheit zu sichern.
Abb. P.1: William S. Vickrey (1914–1996), Nobelpreisträger für Ökonomie, Vater der Mechanismus-Design-Theorie und stiller Held unseres Dramas.
Dieser Aufsatz erschien 1961. Sein Titel »Counterspeculation, Auctions, and Competitive Sealed Tenders« (zu Deutsch »Gegenspekulation, Auktionen und kompetitive verdeckte Gebote«) schien ein Garant dafür zu sein, bald in Vergessenheit zu geraten. Ein Jahrzehnt später wurde sein Aufsatz allerdings wiederentdeckt. Vickreys Arbeit war die erste, die den Einfluss von Auktionen auf die Lösung großer sozialer Probleme untersuchte; sie trug zur Gründung eines Bereichs der Wirtschaftswissenschaften namens »Mechanismus-Design-Theorie« bei und brachte ihm 1996 den Nobelpreis ein.
Vickreys Ideen haben die Wirtschaftstheorie verwandelt und sich auf die Politik ausgewirkt. Regierungen auf der ganzen Welt nutzen auf den Ideen von Vickrey beruhende Auktionen, um Lizenzen für die Nutzung von Funkfrequenzen zu versteigern. Facebook, Google und Bing verwenden ein aus der Vickrey-Auktion abgeleitetes System, um Werbeflächen auf ihren Webseiten zu verkaufen. Vickreys Erkenntnisse über Stadtplanung und Innenstadtmaut verändern langsam das Bild der Städte und spielen bei der Preispolitik von Taxi-App-Diensten wie Uber und Lyft eine wichtige Rolle.2
Keine dieser Anwendungen spiegelt jedoch das Bestreben wider, das die Initialzündung für Vickreys Arbeit war. Als Vickrey den Nobelpreis gewann, hoffte er angeblich, die Auszeichnung als Plattform zu nutzen, um Georges grundlegend neue Ideen und das radikale Potenzial der Mechanismus-Design-Theorie einem breiteren Publikum nahezubringen.3 Allerdings starb Vickrey drei Tage nach Bekanntgabe seines Preises an einem Herzinfarkt. Selbst wenn er noch gelebt hätte, hätte er vielleicht Mühe gehabt, die Öffentlichkeit dafür zu begeistern. 1996 boomte die Weltwirtschaft, und eine neue Ära der globalen Zusammenarbeit schien angebrochen. Niemand wollte an diesem Erfolg rütteln, und Vickreys Ansatz stieß auf enorme praktische Hindernisse.
Heute dagegen sind die Aussichten für wirtschaftlichen und politischen Fortschritt nicht mehr so rosig, und dank der Entwicklungen in Wirtschaft und Technologie lassen sich die praktischen Grenzen von Vickreys Ansatz heute überwinden. Ziel dieses Buches ist daher, als Vickreys verlorene Plattform zu fungieren und die Vision mit Leben zu füllen, die er an die Welt weitergegeben hätte, wenn er länger gelebt hätte.