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Der Unmut über die Märkte

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Die Helden unserer Geschichte, die Philosophical Radicals, rückten angesichts einer Problemkonstellation ins Blickfeld der Öffentlichkeit, die eng mit den heutigen Geschehnissen verwandt ist. Ihrer Ansicht nach waren markthemmende aristokratische Privilegien das Problem. Ihre Ziele waren: die Märkte der Kontrolle feudalistischer Monopolisten zu entreißen, deren Anhäufung von Land die Produktivität beeinträchtigte und die den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentrierte; politische Systeme zu schaffen, die auf die Stimmung im Volk zu reagieren und innerstaatliche Konflikte zu lösen vermochten; und ein internationales System der Zusammenarbeit zu schaffen, das der allgemeinen Bevölkerung der verschiedenen Länder zugutekommen und traditionelle Eliten schwächen würde. Dies ist genau die Bewegung, nach der unsere aktuelle Krise verlangt.

Die bekanntesten Texte, in denen der Geist der Organisationsform des Marktes in Erscheinung tritt, sind die Schriften von Adam Smith aus dem ausgehenden 18. Jahrhunderts. Smith sah die Märkte als Orte, an denen wir »[n]icht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten …, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen«.25 Obwohl die Vorstellung, eigennütziges Verhalten diene dem Wohl der Allgemeinheit, heute ein Klischee ist, war sie seinerzeit schockierend, weil sie in so krassem Gegensatz zur allgemeinen Erfahrung stand.

In der Vergangenheit lebten die meisten Menschen in kleinen, engmaschigen Beziehungsgeflechten, in denen moralische Impulse, soziale Scham, Klatsch und Empathie die wichtigsten Anreize für den Einzelnen waren, sich dem Gemeinwohl anzupassen. Ökonomen und Soziologen bezeichnen diese Gemeinschaften gelegentlich als »moralische Ökonomien«.26 Eigennütziges Verhalten war natürlich verbreitet und unvermeidlich, galt aber eher als unglückliche Folge des fehlbaren Wesens der Menschen denn als Quelle von Wohlstand. Die Religion diente dazu, derartig abweichendes Verhalten wo immer möglich zu bekämpfen. Die Tugendhaften waren Bauern, Handwerker, Soldaten und tapfere aristokratische Krieger, die einer uralten Lebensweise um ihrer selbst willen oder aus Gottgefallen anhingen. Kaufleute, Geldgeber und andere, die Reichtum aus »Handel« anhäuften, wurden bis weit in das 19. Jahrhundert mit Argwohn betrachtet.

Bis heute florieren moralische Ökonomien in annähernd gleicher Form außerhalb von Städten und bestimmen unsere Beziehungen zu engen Freunden und Familienmitgliedern. Ein idealisiertes Porträt einer solchen Gesellschaft ist Frank Capras Filmklassiker Ist das Leben nicht schön? aus dem Jahr 1946. George Bailey (gespielt von Jimmy Stewart) ist ein Banker, der weniger von Gewinnstreben als von den Bedürfnissen seiner kleinen Gemeinde angetrieben wird, der er dank der genauen Kenntnis seiner Mitbürger dienen kann. Als es mit Beginn der Weltwirtschaftskrise zu Problemen kommt, revanchiert sich die Gemeinde für seine Selbstlosigkeit und rettet ihn und seine Bank vor dem Ruin. Kapitalismus Smiths’scher Prägung, wie ihn der gierige, amoralische Konkurrent Mr. Potter verkörpert, der Slums finanziert und seine Kunden ausbeutet, wird als Bedrohung für das Gemeinwesen dargestellt. Das Gefühl der gegenseitigen Unterstützung zwischen Baileys Bank und der Stadt beweist nicht nur die Wirtschaftlichkeit der moralischen Ökonomie, sondern auch ihren immanenten Wert.

Smiths Kritiker haben die realen Vorteile moralischer Ökonomien gegenüber Märkten hervorgehoben.27 Marktpreise können die vielfältigen Folgen des Handelns Einzelner auf andere weder erkennen noch erklären, weder belohnen noch bestrafen. Wenn eine Hausbesitzerin in einer Marktwirtschaft ihr Haus verschönert, erhöht sie den Wert der Immobilie ihrer Nachbarn; der Markt belohnt sie jedoch nur für die Wertsteigerung ihres eigenen Hauses, nicht für den Nutzen für ihre Nachbarn. In einer moralischen Ökonomie würde dieselbe Hausbesitzerin durch höheres Ansehen in der Stadt und die Wertschätzung ihrer Nachbarn belohnt, die sich in irgendeiner Weise erkenntlich zeigen würden. In einer Marktwirtschaft trägt ein Unternehmen, das fehlerhafte Produkte verkauft, letztlich möglicherweise Reputationskosten, wird jedoch in der Regel auf Jahre hinweg Gewinn machen. In einer moralischen Ökonomie würde der Geschäftsinhaber aus der Stadt vertrieben. Regierungen versuchen, die Nachfolge des Dorfklatsches anzutreten, doch die Vorschriften und Anordnungen, die ihre Bürokraten und Richter erlassen, gehen nie so auf die Bedingungen vor Ort ein, wie es die Mitglieder des Gemeinwesens täten.

Trotz dieser Vorteile brechen moralische Ökonomien zusammen, je mehr der Handel an Umfang und Tragweite zunimmt. Wir profitieren von Massenproduktion und globalen Lieferketten, da fixe Produktionskosten auf Millionen von Menschen verteilt sind und wir auf vielfältige Fähigkeiten und Beiträge aus der ganzen Welt zurückgreifen können, was zu wunderbaren Produkten zu sehr niedrigen Preisen führt. Doch wenn Millionen von Menschen weltweit ein Produkt konsumieren, ist es – außer in Ausnahmefällen – für sie unpraktisch, einen Boykott zu organisieren, wenn das Produkt gefährlich oder minderwertig ist. Darüber hinaus verlangt die Massenproduktion von Händlern, über weite Strecken Handel mit Fremden zu treiben; deshalb kann der persönliche Ruf die Einhaltung von Verträgen nicht gewährleisten. Eine moderne Marktwirtschaft, die staatliche Handelshilfen (Vertrags- und Eigentumsrecht) mit dem staatlichen Schutz vor Missbrauch (Deliktsrecht und Regulierung) verbindet, schafft Werte, die weit über die Möglichkeiten einer moralischen Wirtschaft hinausgehen. Aufgrund dieser Einschränkungen können moralische Ökonomien im Vergleich zu großen Marktgesellschaften hemmend und antiquiert wirken. Da sie nicht in der Lage sind, den Bedürfnissen weit entfernter Menschen Rechnung zu tragen, können sie Fremden ablehnend gegenüberstehen und der inneren Vielfalt gegenüber intolerant werden aus Angst, diese könnten die Werte der Gruppe aushöhlen.

Von Der scharlachrote Buchstabe bis Schwester Carrie sind Schreckensvisionen moralischer Ökonomien ein zentrales Motiv der amerikanischen Literatur. Die filmische Adaptation von Margaret Atwoods Roman Der Report der Magd aus dem Jahr 2017 beschreibt die Wiedereinführung einer strengen moralischen Ökonomie in den USA, wo die Fruchtbarkeitsraten drastisch gesunken sind. Die kleine Minderheit der noch fruchtbaren Frauen wird als Gebärsklavinnen gehalten und rituell von den Männern der Herrscherklasse vergewaltigt, die durch diese Regelung und die Einschränkungen, die sie am Missbrauch ihrer Macht hindern sollen, verdorben und erniedrigt werden. Meinungsvielfalt und unterschiedliche Lebensstile werden rücksichtslos unterdrückt, da die versklavten Frauen und ihre männlichen Pendants zur ständigen gegenseitigen Überwachung gezwungen sind.

Diese abschreckenden Beispiele haben weder für die extreme Rechte noch für gewisse nostalgische Linke das Ideal moralischer Ökonomien zu Fall gebracht. Doch seit Beginn der Ära der Massenproduktion im 19. Jahrhundert ist es nur einer kleinen Zahl eigenwilliger und religiös geprägter Gemeinschaften wie den Amish gelungen, moralische Ökonomien aufrechtzuerhalten, die zumeist außerhalb des Marktes operieren.

Die wichtigste Alternative und Kraft hinter der Politik der extremen Linken ist die Planwirtschaft, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Marxisten waren der Überzeugung, der staatliche Besitz von Kapital und die Kontrolle der Industrie seien die einzigen Wege aus der »Lohnsklaverei«28, doch hat sich die Planwirtschaft letztlich als Fehlschlag erwiesen. Die Sowjetunion brachte es zwar fertig, Waffen herzustellen und Fabriken zu bauen, aber sie produzierte triste Wohnungen, langweilige Autos und Versorgungsengpässe selbst bei grundlegenden Gütern. Ihre Zentralplaner waren außerstande, der Vielfalt und dem Geschmack des einzelnen Verbrauchers Rechnung zu tragen. Alles in allem steht der Markt vor keinem ernstzunehmenden konkurrierenden Ansatz, was die Organisation großer Volkswirtschaften angeht.

Wir sind der Markt!

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