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Die Regeln eines echten Marktes
ОглавлениеWenn die Marktwirtschaft konkurrenzlos dasteht, müssen wir dennoch fragen, wie die Märkte organisiert werden sollten. Die übliche Sicht der Rechten ist, dass die Regierung nur »aus dem Weg gehen« soll. Diese Argumentation ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Als die kommunistischen Länder 1989 und Anfang der 1990er Jahre zerfielen, schien es zunächst, als ob die Befreiung von der schweren Last der Planwirtschaft schon alles gewesen sei, um einen florierenden Markt zu schaffen. Doch jeder anspruchsvolle, große Markt hängt von gut gestalteten und konsequent durchgesetzten Spielregeln ab, ohne die hemmungsloser Diebstahl, ständiger Vertragsbruch und die körperlich Stärksten herrschen würden. Diese Regeln lassen sich auf drei Prinzipien reduzieren: Freiheit, Wettbewerb und Offenheit.
In einem freien Markt kann der Einzelne alle Waren kaufen, solange er oder sie einen Preis zahlt, der die Verkäufer ausreichend für den Verlust dieser Waren entschädigt. Er oder sie muss auch von anderen für die geleistete Arbeit oder die angebotenen Produkte genau den Wert erhalten, den diese Dienstleistungen für andere Bürger schaffen. Ein solcher Markt gibt jedem Einzelnen die größtmögliche Freiheit, die mit der Freiheit anderer in Einklang steht und diese nicht verletzt. So sagte der berühmte Philosophical Radical John Stuart Mill: »Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.«29 Unfreie Märkte berauben den Einzelnen der Gelegenheit, Gewinne durch Handel zu erzielen. Ein anschauliches Beispiel für eine Beschränkung der Handelsfreiheit ist das Rationierungssystem, das viele Länder im Zweiten Weltkrieg einführten. Obwohl die Rationierung zur damaligen Zeit wohl eine Notwendigkeit und ein sozialer Kitt war, führte sie zu einer faden Gleichmacherei und zu schwarzen und grauen Tauschgeschäften, die es dem oder der Einzelnen erlaubten, zum Beispiel nicht benötigte Zigaretten gegen nötige Kindernahrung zu tauschen. Die Feiern auf dem Trafalgar Square und das Verbrennen von Lebensmittelkarten, mit denen in den 1950er Jahren die endgültige Abschaffung der Rationierungsmaßnahmen in Großbritannien begrüßt wurde, belegen, wie sehr die Menschen die Flexibilität und Vielfalt des freien Marktes zu schätzen wissen.
In einem Wettbewerbsmarkt müssen Einzelne die Preise, die sie zahlen und für die sie bezahlt werden, als gegeben hinnehmen. Sie haben keine Möglichkeit, Preise durch das Ausüben ihrer – wie Ökonomen sagen – »Marktmacht« zu manipulieren. Märkte ohne Wettbewerb verwandeln Eigeninteressen von einem produktiven Motor in eine zerstörerische Kraft, indem sie es Einzelnen oder Gruppen erlauben, den Handel zu behindern, die Produktion zu senken und so die Preise zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Der Kampf gegen Monopole begleitet uns spätestens seit dem Kampf der amerikanischen Kolonisten gegen das Teehandelsmonopol der East India Company. Ende des 19. Jahrhunderts kämpfte eine beliebte antimonopolistische Bewegung gegen die großen Kartelle der Zeit; sie versetzte die Politik in Aufruhr und brachte Parteien wie die Bull-Moose-Partei in den USA hervor, die »Liberal Party« im Vereinigten Königreich, die »Parti radical« in Frankreich und die Radikale Liberale Partei in Dänemark. Monopolisten liefern minderwertige Ware zu höheren Preisen. In den meisten Städten in den USA gibt es zum Beispiel nur einen Kabelanbieter, aber eine Vielzahl von elektronischen Geräten, die an das Kabelnetz angeschlossen werden können. Wir zahlen somit hohe Preise für minderwertige Internetanbieter, können aber aus einer Vielzahl von hochwertigen, preisgünstigen Geräten von Computern bis Telefonen wählen.
In einem offenen Markt haben alle Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Geschlechtsidentität, Hautfarbe oder Religion das Recht, am Prozess des Marktaustausches teilzunehmen; sie maximieren so die Möglichkeit des beiderseitigen Nutzens. Geschlossene Märkte verringern die Möglichkeit zum Austausch und verhindern auf unlautere Weise, dass manche Menschen von den Vorteilen dieses Austausches profitieren. Die Öffnung der Märkte für den internationalen Handel brachte Pasta aus dem fernen Osten nach Italien. Die Öffnung der Arbeitsmärkte für neue Marktteilnehmer brachte die Leistungen von Frauen bis in die Vorstandsetagen. Die Öffnung der Märkte für Apps brachte uns eine Fülle an Möglichkeiten, wie wir unsere Smartphones heute nutzen können. Offene Märkte verkörpern den Gedanken, dass wir alle voneinander profitieren können, wenn wir so umfassend wie möglich zusammenarbeiten.
Smith sah die um ihn herum florierenden Märkte nicht nur als eine produktive Kraft, sondern auch als eine zutiefst egalitäre. Die Reichen, so seine berühmte These, würden in einem gut funktionierenden Markt »von einer unsichtbaren Hand … dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft«.30 Der von uns kursiv hervorgehobene Teil des Zitats wird in Diskussionen über Smith gewöhnlich unterschlagen, vielleicht weil er aus einem Buch stammt, das seinem berühmten Der Wohlstand der Nationen vorausging. Smith war jedoch der festen Überzeugung, Ungleichheit sei vor allem das Ergebnis gesetzlicher Einschränkungen und gesellschaftlicher Konventionen, die den Adel begünstigten und mit einer Marktwirtschaft unvereinbar waren.
Für Smith waren freie, wettbewerbsorientierte und offene Märkte kein Automatismus und kein Naturgesetz. Wie er beobachtete, kommen »Geschäftsleute des gleichen Gewerbes […] selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann«. Seiner Ansicht nach »sollte das Gesetz keinerlei Anlass geben, solche Versammlungen zu erleichtern, und, noch weniger, sie notwendig zu machen«.31
Das zentrale Thema der Philosophical Radicals war der Kampf gegen eine vom Adel dominierte Gesellschaft. Die Radicals beklagten, dass die Aristokratie die Regierung kontrolliere und die Monopole des Adels durch Marktbeschränkungen und die Schließung von Handelsgrenzen schützen lasse. Sie begriffen, dass wirtschaftliche Privilegien und politische Privilegien zwei Seiten derselben Medaille waren, und setzten sich daher mit gleicher Kraft für die Ausweitung des Wahlrechts, für kompetitive demokratische Wahlen und für offene internationale Handelsgrenzen ein.
Diese Pioniere waren zwar in vielerlei Hinsicht erfolgreich, erkannten aber bald, dass ihre anfänglichen Vorschläge nicht weit genug gingen. Während sich die Märkte für Boden und Arbeit erweiterten, tendierte der Industriekapitalismus zu neuen Formen der Monopolmacht über Fabriken, Eisenbahnen und Bodenschätze. Die Ausweitung des Wahlrechts schwächte zwar den Landadel, aber neu gestärkte Mehrheiten tyrannisierten Minderheiten aller Art, und Kapitalisten nutzten ihre Ressourcen, um Politiker zu bestechen und die Presse zu kontrollieren. Die Ausweitung des grenzüberschreitenden Freihandels ging mit internationaler Machtpolitik einher. Der führende Freihändler – Großbritannien – nutzte seine Kolonien für Sklavenarbeit und Bodenschätze.
Die nächste Generation liberaler Reformer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Persönlichkeiten wie Henry George, Léon Walras und Beatrice Webb – versuchte, diese Probleme anzugehen. Die Auswirkungen ihres Werks, das auf dem Erbe der Philosophical Radicals aufbaute, sind bis heute spürbar. Das Kartellrecht und der Rechtsschutz für Gewerkschaften schränkten die Macht der Monopole ein. Sozialversicherung, progressive Besteuerung und unentgeltlicher Pflichtschulunterricht stärkten den Wettbewerb, indem sie für mehr Chancengerechtigkeit sorgten. Systeme der gegenseitigen Kontrolle, der Schutz der Grundrechte und die Stärkung der Judikative zum Schutz von Minderheitenrechten richteten sich gegen die Tyrannei der Mehrheit. Internationale Institutionen, Freihandel und Menschenrechtsverträge sollten den Weg für eine stärkere internationale Zusammenarbeit in einer freiheitlichen Grundordnung bereiten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen diese Reformen zu einer beispiellosen Phase des Wirtschaftswachstums, abnehmender Ungleichheit und politischen Konsenses in den wohlhabenden Ländern bei. Dieser große Erfolg des Liberalismus veränderte die praktische Politik und die Wirtschaftswissenschaften in ähnlicher Weise. In beiden Bereichen entschieden die Verantwortlichen, dass mehr oder weniger perfekte Märkte bereits erreicht seien. Ideen für weitere bahnbrechende Neuerungen bei der Ausweitung des Handels oder der Beseitigung von Monopolmacht wurden weitgehend aufgegeben. Für Ökonomen lag die Hauptursache für Ungleichheit in den unterschiedlichen Begabungen des Einzelnen. Eine progressive Besteuerung und Sozialsysteme seien notwendig, um eine gerechte Verteilung zu garantieren; diese müssten jedoch begrenzt sein, um nicht zulasten der Größe des gesamtwirtschaftlichen Kuchens zu gehen.
Diese Abwägungen führten zu einer Zersplitterung der liberalen Koalition. Diejenigen, die an der Spitze der zweiten Generation von Reformen gestanden hatten, organisierten sich in der modernen politischen Linken, die in den USA als »Liberals« und in Europa als Sozialdemokraten bekannt sind. Sie räumten der Gleichheit innerhalb des Landes und der Öffnung von Märkten für Minderheiten und Frauen den Vorrang ein – Gruppen, die zuvor vom Markt ausgeschlossen waren. In den 1960er und 1970er Jahren feierten sie in den USA Erfolge in der Bürgerrechtsbewegung und in der gesamten entwickelten Welt in der Frauenbewegung.
Die Liberalen, die freie Märkte und Effizienz über Gleichheit stellten, bildeten die moderne politische »Rechte« und wurden in den USA als Libertäre und in Europa als Neoliberale bekannt. Neben der Bekämpfung staatlicher Interventionen spielte die Rechte auch eine entscheidende Rolle bei der Forderung nach offeneren internationalen Waren- und Kapitalmärkten. Ihre größten Erfolge erzielten sie in den 1980er und 1990er Jahren, als Länder verstaatlichte Industrien verkauften, die Wirtschaft deregulierten und sich für den Außenhandel öffneten. Doch während die Ungleichheit zwischen den Ländern und zwischen dominanten Identitätsgruppen (weißen Männern) und anderen Gruppen (Frauen, Afroamerikanern) abnahm, nahm die Ungleichheit innerhalb wohlhabender Länder zu. Die Wachstumsraten gingen zurück und erreichten nie wieder das Niveau, auf dem sie sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts befanden. Mit wirtschaftlicher Stagnation und zunehmender Ungleichheit innerhalb eines Landes – stagnequality – zersplitterte die politische Landschaft und vergiftete das politische Klima.
Während manche Kommentatoren stagnequality als das Ergebnis breiter ökonomischer und demografischer Kräfte sehen, die man nicht beeinflussen könne, sind wir der Ansicht, dass stagnequality das Ergebnis des Scheiterns von Ideen ist. Die Wirtschaftskonzepte der Linken und Rechten sind nicht zum Kern der Spannungen in der Grundstruktur von Kapitalismus und Demokratie vorgedrungen. Privateigentum als solches verlieh Marktmacht – ein Problem, das sich parallel zur Ungleichheit zuspitzte und sich in immer neuer Weise wandelte, was die Bemühungen von Regierungen um eine Lösung zunichte machte. Das Prinzip der Wahlgleichheit, »One-person-one-vote«, gab Mehrheiten die Macht, Minderheiten zu tyrannisieren. Die wechselseitige Kontrolle der Verfassungsorgane und das Eingreifen der Judikative geboten dieser Tyrannei zwar Einhalt, traten dabei aber die Macht an Eliten und Interessenvertretungen ab. In den internationalen Beziehungen stärkten Bemühungen um eine intensivere Zusammenarbeit und grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit eine internationale kapitalistische Elite, die überproportional von internationaler Zusammenarbeit profitierte und der von der Arbeiterklasse her eine nationalistische Welle der Empörung entgegenschlug.
Die ideologischen und militärischen Siege des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, begleitet von den wirtschaftlichen und politischen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erzeugten so Arroganz, die zu Selbstzufriedenheit und innerer Gespaltenheit führte. Aus den radikalen Reformern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden die sich zankenden Technokraten von heute.