Читать книгу Bleierne Schatten - Erik Eriksson - Страница 16
2.
ОглавлениеEines Abends gingen Margret und Verner in Älvsjö zusammen joggen. Sie folgten der beleuchteten Loipe entlang der Eisenbahnschienen, dann durch den Wald hindurch zum Fußballplatz und zurück ins Zentrum. Für die erste Runde brauchten sie achtzehn Minuten.
Sie liefen eine zweite Runde und zogen das Tempo etwas an. Es war matschig und glatt. Verner registrierte, dass Margret ohne Anstrengung lief, sie war leicht, durchtrainiert und ausdauernd. Außerdem war sie fünfzehn Jahre jünger als er.
Verner war gerade fünfzig geworden. Er wog siebenundachtzig Kilo, war stark und schaffte immer noch sechzig Liegestütze. Aber er wusste, dass Margret ihm davongelaufen wäre, wenn es sich um einen Wettkampf gehandelt hätte.
Sie verlangsamten das Tempo und gingen das letzte Stück zu Verners Wohnung im Törnrosväg.
»Du kannst zuerst duschen«, sagte Verner.
»Okay, ich beeile mich.«
Verner zog die Schuhe aus, hängte den Pullover und die Mütze auf, ging in die Kochnische und setzte Kaffeewasser auf. Er hatte Brot und Butter zu Hause, ein Stück Käse, ein paar Tomaten. Er nahm an, dass Margret etwas essen wollte. Er war selbst hungrig.
Margret war nach fünf Minuten fertig mit dem Duschen und Verner an der Reihe. Als er aus dem Badezimmer kam, stand Margret vor dem Bücherregal und schaute sich all die Reisebeschreibungen an, die sich bei ihm angesammelt hatten. Sie hatte schon den Tisch gedeckt und Brot und Tomaten aufgeschnitten. Der Kaffee war gerade durchgelaufen.
Bereits nach kurzer Zeit hatten sie sich gemeinsame Gewohnheiten zugelegt. Sie waren vor zwei Jahren während eines Falls öfter zusammen gewesen, hatten sich danach ab und zu getroffen, manchmal aber ein paar Monate lang nicht gesehen. Jetzt sahen sie sich täglich und beide wussten, wie der andere seine Butterbrote haben wollte: Zwei dicke Scheiben mit etwas Butter für Verner, zwei dünne für Margret, Butter auf der einen, Marmelade auf der anderen, wenn welche da war. Verner hatte Stachelbeermarmelade gekauft.
»Ich muss für ein paar Tage ins Dezernat«, sagte Margret.
»Ich verstehe«, entgegnete Verner.
»Ich muss Berichte schreiben, einem der Kollegen ein paar alte Sachen übergeben und bei den Fällen, an denen ich gearbeitet habe, ehe wir den in der Bondegata übernehmen mussten, noch ein paar lose Enden verknüpfen.«
»Okay, ich mache weiter und dann sehen wir uns … am Donnerstag, oder?«
»Ja, Donnerstag bin ich zurück. Ich muss auch Schießübungen absolvieren; ich bin schon lange nicht mehr in der Schießanlage gewesen, sodass ich das genauso gut gleich mit erledigen kann.«
»Schießt du gut?«
»Ganz ordentlich, vor ein paar Jahren habe ich ein paar Mal an Wettkämpfen teilgenommen, aber dann habe ich aufgehört. Es haben sich andere Dinge ergeben, die ich lieber machen wollte.«
»Was zum Beispiel?«
»Tja, ich wollte auch ein bisschen Freizeit haben, andere Menschen treffen, nicht immer nur Polizisten.«
»Das verstehe ich, ich habe nie mit Polizisten verkehrt.«
»Obwohl manche in Ordnung sind.«
Verner verstummte. Er dachte an seine Jahre als Polizist. Hatte er eigentlich irgendwelche richtigen Freunde unter den Kollegen gehabt? Und an welche dachte Margret, wenn sie sagte, dass manche in Ordnung waren? War er einer von ihnen?
»Noch ein Brot?«, fragte er.
»Nein danke, das reicht. Ich werde jetzt nach Hause fahren.«
Verner ging mit Margret zur Tür. Sie lächelte und fasste mit der Hand seinen Oberarm.
»Wir sehen uns am Donnerstag«, sagte sie.
Margret hatte für neun Uhr einen Platz in der Schießanlage, die im Keller des Polizeigebäudes lag. Sie holte Dienstwaffe und Munition aus dem Waffenschrank im Dezernat, fuhr mit dem Aufzug nach unten, grüßte einige Kollegen, denen sie begegnete, wurde in die Halle eingelassen, wählte Stand und Zielscheibe und setzte den Gehörschutz auf.
Margret schoss zuerst einige Serien auf die kurze Distanz, sieben Meter, erhöhte dann auf fünfzehn, war ein bisschen unzufrieden mit dem Trefferbild. Die Treffer lagen nahe beieinander, aber eine Idee zu hoch, sie saßen in der Brust der Pappfigur, nahe dem Hals.
Margret wog die Pistole in der Hand, die schwarze Sig Sauer fühlte sich schwer und zuverlässig an.
Sie schoss noch ein paar Serien, hielt die Treffer unten, aber jetzt streute sie die Schüsse.
Die fünfte Serie saß besser, die siebte war richtig gut.
Als sie fertig war mit Schießen, verließ sie die Schießanlage und nahm den Aufzug zurück ins Dezernat. Hätte sie die Waffe für einen Auftrag benötigt, hätte sie sie mit ins Büro nehmen dürfen. Aber nun verlangten die Regeln, dass sie Pistole und Munition wieder in den Waffenschrank einschloss.
Margret ging einmal im Monat zum Übungsschießen in die Anlage im Keller, und sie schaffte die jährliche Schießprüfung immer mit einem guten Ergebnis. Aber darüber hinaus hatte sie die Pistole noch nie benutzt, und darüber war sie froh.
Jetzt hatte sie noch einen Termin einzuhalten. Anstatt zurück ins Büro zu gehen, nahm sie die Treppen hinunter in den Trainingsraum, zog sich um und begrüßte die drei Kollegen von der City-Polizei, mit denen sie sich verabredet hatte. Es war Zeit für ihre regelmäßige Trainingseinheit in Selbstverteidigung: vierzig schweißtreibende Minuten, Aufwärmen, kurzes Krafttraining, dann Schläge und Tritte gegen den Sandsack, paarweises Training im Sparring, Serien von Frontaltritten, Rundtritten, Stoßtritten, Hüftwürfen, Beinwürfen.
Das Tempo war sehr hoch, alle vier waren schnell, konzentriert, diszipliniert. Sie versetzten einander harte Schläge, ohne zu treffen, steuerten die Schläge millimetergenau, ließen die heftigen Tritte fast die Wangen des Anderen streifen.
Margret trieb ihren Trainingspartner an die Wand. Er war jünger und wog viel mehr, aber sie war schneller, härter, geschickter.
Um elf Uhr saß Margret wieder an ihrem Schreibtisch im Ermittlungsdezernat der Bezirkskriminalpolizei.
Die Wohnung in der Bondegata war inzwischen aufgeräumt und gereinigt. Verner und Margret hatten das zusammen gemacht. Sie waren mit dem Vermieter übereingekommen, dass sie bis April bleiben konnten.
Die Scheibe in der Küche war immer noch gesprungen. Verner war das egal. Er hörte die Uhr der Sofiakirche schlagen und dachte, dass Lasse die Uhr unzählige Male gehört haben musste.
Aber die Zeit der Viertelstundenschläge war vorbei. Verner hatte in einer Zeitungsnotiz gelesen, dass Mieter in dem Gebiet rund um die Kirche protestiert hatten; sie konnten nicht schlafen, weil die Uhr so oft schlug. Daraufhin gab es eine Änderung. Jetzt schlug die Sofiakirche keine Viertelstunden mehr, sondern nur noch Stunden. Verner dachte: Mochte Lasse den Klang oder hörte er ihn nicht mehr, weil er die ganze Zeit da war? Und durfte er erleben, dass die Viertelstundenschläge verschwanden? Oder hörten die Schläge auf, als er starb? In derselben Woche? Am selben Tag? Vielleicht in derselben Stunde? Verner nahm sich vor herauszufinden, wann das Glockenläuten der Sofiakirche geändert worden war. Nicht dass es etwas bedeutete, aber um Lasses willen, auch wenn er nichts davon hatte.
Um halb zwölf klingelte das Telefon. Es war Margret. Sie wollte nichts besonderes, sich einfach nur melden.
Doch, es war alles in Ordnung.
Bei ihr auch?
Ja, bei ihr auch.
Es wurde ein kurzes Gespräch. Verner fragte sich, warum sie angerufen hatte. Dann dachte er, dass es wohl normal sei, dass man so etwas machte. Er mochte es, dass Margret angerufen hatte. Es freute ihn.
Dann betrat er den begehbaren Schrank. Er hatte beschlossen, den Inhalt der drei Kartons durchzuschauen. An diesem und am folgenden Tag sortierte Verner Papiere, Zeitungsausschnitte, Ordner, Matrizen, Berichte, Zettel. Er legte sie in Stößen auf den Tisch und den Boden.
So machte er es immer; es war eine Gewohnheit von früher. Er hatte auf diese Weise mehrere Fälle gelöst, Papiere gesammelt und sortiert, Namen und Plätze gefunden, Spuren aufgenommen.
Verner hatte seine Kenntnisse als Fahnder und Ermittler erworben, lange bevor die Computer das Hilfsmittel der Polizei wurden. Er hatte sich die neue Technik nie angeeignet. Er war sehr altmodisch, hartnäckig und genau. Er schrieb in kleine schwarze Notizbücher, auf Zettel und an den Rand von Zeitungen und Büchern.
Lasse Bergman war genauso gewesen. Das wusste Verner, nun bekam er die Gelegenheit, es noch einmal festzustellen.
Verner saß über Lasses gesammelten Mühen, Jahren von Recherchen und Nachforschungen, Gesprächen und Interviews. Drei große Kartons voll mit Papierbündeln, Fakten, Entwürfen, Ideen, Wörtern, Zahlen, Namen, Namen, Namen.
Es gab auch zwölf Notizbücher mit angestoßenen Ecken. Verner erkannte, dass Lasse sie in der Tasche getragen und tausende von Malen hervorgezogen hatte.
In den beiden ersten Kartons herrschten System und Ordnung. Lasse hatte alles so einsortiert, dass man es wiederfinden konnte. Die Papierbündel waren geordnet, einige trugen eine Überschrift auf einem Vorsatzblatt, das um die Bündel herumgefaltet war, um andere waren Schnüre geknotet.
Der dritte Karton unterschied sich von den beiden ersten. Zwar gab es auch hier reichlich Bündel mit Kopien von Voruntersuchungen, Gerichtsverfahren und Urteilen. Verner sah ziemlich schnell, worum es ging. Lasse hatte alles Material über die großen Fälle von Kuppelei in den siebziger Jahren aufgehoben, die viel beschriebenen Fälle, in denen kleine Mädchen für Prostitution benutzt worden und in denen bekannte Männer aufgetaucht waren. Lasse Bergman hatte mehrere Jahre für das Fernsehmagazin Fokus an diesen viel beachteten Fällen gearbeitet. In dem Karton befand sich alles, was Lasse dazu aufbewahrt hatte.
Verner erkannte das Material wieder. Er hatte damals im Ermittlungsdezernat der Stockholmer Kriminalpolizei gearbeitet. Während dieser Arbeit hatte er Lasse kennen gelernt. Als die Gerichtsverfahren eingeleitet wurden, war Verners Arbeit abgeschlossen, aber er verfolgte das, was geschah, aus eigenem Interesse.
Sämtliches Material dieser Fälle befand sich in Lasse Bergmans drittem Karton. Aber in diesem Karton fehlte die Ordnung. Protokolle, Bögen und Hefte lagen, als seien sie in aller Hast hineingeworfen worden.
Als Margret am Donnerstag um neun Uhr in die Bondegata kam, war Verner schon da. Er saß im Wohnzimmer und kramte in den Papieren.
»Du bist die Kartons durchgegangen?«, fragte Margret.
»Genau, und es gibt viel zu überprüfen, wie du siehst.«
»Kannst du davon berichten?«
»Zwei Kisten enthalten allerlei aus Lasses Zeit als investigativer Reporter.«
»Okay, und die dritte Kiste?«
»Da drin sind die siebziger Jahre, die Fälle von Kuppelei, Sally T., der Minister, die kleinen Mädchen, der ganze Krempel.«
»Sally T., war das die, die Bordellmutti genannt wurde?«
»Ja, so hieß sie in den Zeitungen.«
»Und der Minister kam davon.«
»Ja, mit einem angeschlagenen Ruf. Aber du warst damals wohl noch sehr jung?«
»Ich war vielleicht zehn, und wenn ich etwas in der Zeitung gelesen habe, dann war es bestimmt über ABBA.«
»Sie haben Sally und den Minister überlebt.«
»Aber was nützt uns das hier, Verner? Was hat dieses alte Material zu bedeuten? Hängt es überhaupt mit Lasses Tod zusammen?«
»Ich weiß nicht, Margret. Ich werde ein bisschen blättern und überlegen und schauen, ob etwas relevantes auftaucht.«
»Währenddessen werde ich zusammenstellen, was wir von den Technikern und dem Gerichtsmediziner bekommen haben. Ich habe ein Modell dafür, eine Art Faktenschema, das vieles erleichtert.«
»Musst du nach Kungsholmen fahren und am Computer sitzen, um das zu erledigen?«
»Nein, ich habe Notizen, und wenn ich mehr Angaben brauche, rufe ich im Dezernat an. Aber ich glaube, ich werde einen Computer mit hierher nehmen. Ich möchte im Internet recherchieren können.«