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2.

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Die schwarzen Wolken kamen ganz plötzlich. Gegen Mittag lag eine dicke Schneedecke auf den Straßen und Bürgersteigen von Älvsjö.

Am Morgen war es vier Grad warm gewesen, die Sonne hatte hervorgeschaut und sich in der Fassade der Messehalle gespiegelt. Eine halbe Stunde lang badeten die abgetauten Straßen um das Zentrum von Älvsjö herum in einem trügerischen Licht, das weiß war und nicht zu dieser Jahreszeit gehörte.

Dann kam der Schnee. Verner Lindgren war mit ein paar Lebensmitteln in einer Einkaufstasche auf dem Heimweg vom Konsum. Er ging ohne Kopfbedeckung, in Jackett und dünnen Schuhen. Jetzt beeilte er sich nach Hause zu kommen, lief das letzte Stück zum Törnrosväg, über den Wendeplatz und in den Hauseingang hinein.

Er machte die Deckenleuchte an. Das Unwetter nahm zu, es wurde dunkel. Es war doch noch nicht Frühling geworden; nun war es wieder kalt, Matschwinter und Dunkelheit.

Verner setzte Kaffeewasser auf, schlug Dagens Nyheter auf und las die Überschriften über den Mord an Fadime1. Das Wasser fing an zu kochen. Verner stand über den Tisch gebeugt, las weiter und ließ das Wasser eine Weile brodeln, bevor er in die Kochecke ging und den Kessel vom Herd nahm.

Er dachte an das, was er gelesen hatte, und fühlte sich ruhelos und irritiert, beschloss jedoch, seine Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Er konnte diese Gefühle beherrschen, inzwischen konnte er das, beinahe jedenfalls.

Es war halb eins. Verner schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und machte das Radio an. Der erste Beitrag der Nachrichtensendung handelte von Fadime, von der Trauer, dem Zorn und der Machtlosigkeit.

Er hörte zu, trank seinen Kaffee, schmierte sich ein Butterbrot, trank langsam, kaute langsam und war zufrieden mit sich, weil er es schaffte, Schlucke und Bisse zu kontrollieren, während er gleichzeitig der brutalen Wahrheit über den Tod einer jungen Frau ausgesetzt war.

Der Wetterbericht nach den Nachrichten kündigte weiteren Schnee an, mehr Kälte, glatte Straßen und stürmischen Wind.

Verner aß noch ein Butterbrot.

Um halb zwei war er mit der Zeitung fertig. Er genoss seine tägliche Zeitung, die er nach Hause bekam. Früher hatte er kein Abonnement gehabt. Jetzt las er sie meistens morgens in Eile, bevor er zu einem seiner wechselnden Jobs ging.

In dieser Woche hielt er Vorträge vor jungen Männern und Frauen, die eine Ausbildung als Wachpersonal machten. Verner hatte aus seinen Jahren als Polizist Kenntnisse und Erfahrungen, die er nun mit anderen teilte; er hielt Seminare über die Beurteilung von Verbrechen und die Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen ab, berichtete über Fälle, Irrtümer und Erfolge.

Aber er erzählte nie von sich selbst. Er sprach über Fälle, die er kannte, von denen er gehört oder gelesen hatte. Er nahm an, dass das Unternehmen, das sein Honorar bezahlte, nicht wusste, warum er aufgehört hatte als Polizist zu arbeiten. Oder sie wussten es, und es war ihnen egal.

Es war kurz nach vier, als das Telefon klingelte. Verner war im Badezimmer. Der Wasserhahn lief, sodass er das Klingeln zunächst nicht hörte. Dann eilte er ins Wohnzimmer und meldete sich mit seinem Nachnamen. Eine unbekannte Stimme murmelte etwas.

Verner wiederholte seinen Namen und klang dabei leicht verärgert.

»Bist du es, Verner?«, fragte der Unbekannte.

»Ja, ich bin’s«, antwortete Verner, und nun klang er noch ärgerlicher.

»Hier ist Lasse.«

»Ach ja?«

»Erkennst du mich nicht?«

»Nein.«

»Lasse, verdammt nochmal, Lasse Gunnar Bergman.«

Verner musste nachdenken. Er wusste, wer Lasse Bergman war, aber die Stimme erkannte er nicht. Der Mann, mit dem er sprach, klang angestrengt und heiser, die Stimme war etwas zischend.

»Lasse?«, sagte Verner nach einigen Sekunden der Stille.

»Genau.«

»Das ist ja lange her; ich habe tatsächlich in letzter Zeit ein paar Mal daran gedacht, dich anzurufen. Hättest du nicht angerufen, dann hätte ich mich wohl dieser Tage gemeldet.«

»Ja, siehst du, Verner, die Leute sind alle gleich, wir denken ganz einfach gleich.«

»Wie geht es dir?«

»Tja, eher bescheiden. Ich hatte eine Halsoperation.«

»Ich dachte schon, dass du dich anders anhörst.«

»Eine Weile ging es mir gar nicht gut, aber jetzt bin ich auf dem Wege der Besserung.«

»Wohnst du noch auf Söder?«

»Ja klar, in der Bondegata, an derselben Stelle. Ich bin heute nicht mehr so beweglich.«

»Wir können uns aber doch treffen?«

»Ja klar, das wollte ich vorschlagen.«

»Von alten Zeiten sprechen.«

»Genau, Verner, wir haben viel zu bereden.«

»Wollen wir eine Zeit ausmachen?«

»Ich melde mich nochmal deswegen. Ich habe nächste Woche einen Termin im Krankenhaus; danach werde ich hoffentlich wieder gesund. Ich rufe an, wenn ich das erledigt habe, in ein paar Wochen.«

»Okay, Lasse, aber vergiss es nicht.«

»In dem Fall musst du mich anrufen, Verner.«

»Unbedingt, ich verspreche es.«

Als das Gespräch vorbei war, blieb Verner eine Weile am Tisch sitzen und versuchte sich zu erinnern, wann er Lasse Bergman das letzte Mal getroffen hatte.

War es vor fünf Jahren?

War es in demselben Jahr, als er bei der Polizei aufgehört hatte?

Nein, es war im Jahr davor. Verner hatte Lasse aufgesucht, um ihm einige Fragen zu einer Untersuchung zu stellen, die in Verbindung mit einem alten Fall aus den siebziger Jahren stand, als Lasse als Researcher beim Fernsehen beschäftigt war. Er hatte für Nils Lövgren gearbeitet, der damals Reporter beim Wochenmagazin Fokus war. Nils und Verner kannten sich. So freundeten auch Lasse und Verner sich an.

Sie tauschten Informationen über Untersuchungen und Verbrechen aus, trafen sich dann und wann, und nur Nils Lövgren wusste von ihrer Zusammenarbeit. Es wurde als eher unpassend betrachtet, dass Polizisten und Fernsehjournalisten einander halfen.

So vergingen einige Jahre. Verner hielt den Kontakt mit Lasse und Nils aufrecht. Sie sahen sich gelegentlich, und zwar nicht nur dann, wenn die Arbeit es erforderte. Sie waren Freunde und hatten viel zu bereden.

Aber Verner war gezwungen gewesen, bei der Polizei aufzuhören, als bekannt wurde, dass er gewalttätig gegenüber Tatverdächtigen geworden war, die allesamt Frauen misshandelt hatten. Er kündigte von sich aus; es kam nicht zu einer Anklage.

Die folgenden Jahre waren die schwersten in Verners Leben. Er verlor den Halt, begann zu trinken, wurde depres-siv und bekam starke Medikamente verordnet, war lange krankgeschrieben. Der Wendepunkt kam im Herbst 2000, als er im Zusammenhang mit einem Mord in Älvsjö als möglicher Täter verdächtigt wurde.

Zu dieser Zeit brach er mit seinem destruktiven Leben. Er traf Margret Mattson von der Bezirkskriminalpolizei und half ihr, den Fall zu lösen. Verners Mithilfe wurde geheim gehalten, auch wenn Margrets Chef mehr begriff, als er zugeben wollte.

Verner hörte auf zu trinken, während Lasse weitermachte und sich sein Umgang bald auf eine kleine Schar von Frührentnern beschränkte, die in kleinen Wohnungen im Viertel zwischen Bondegata und Kocksgata auf Söder wohnten. Manchmal sahen sie sich zusammen eins von Hammarbys Heimspielen an. Und manchmal tranken sie ein Bier im Kvarnen. Aber meistens saßen sie bei Lasse und tranken – es war recht gemütlich in seiner großen Küche.

Lasse und Verner hatten sich fünf Jahre lang nicht gesehen. Verner wusste es wirklich zu schätzen, dass Lasse angerufen hatte, aber er schämte sich ein wenig, dass er selbst in all den Jahren nicht von sich hatte hören lassen. Nun hatte er das sehr starke Gefühl, dass es eilig sei.

Das war am Donnerstag, dem 24. Januar 2002. Gegen sieben Uhr hörte es auf zu schneien.

Verner las den ganzen Abend über, bis nach Mitternacht. Er las ein Buch zu Ende, das er für zwanzig Kronen aus einer Wühlkiste auf dem Flohmarkt in Skärholmen gekauft hatte, Frank Hurleys Buch über Shackletons Expedition zum Südpol. Das Buch roch nach altem Staub, duftete nach Abenteuer. Verner merkte nicht, wie die Stunden vergingen; er wurde ergriffen von den trockenen, heroischen Texten, tauchte ein in die Nebel auf den alten Fotografien, war selbst einer der Männer im Packeis, einer der Steuermänner auf der unglaublichen Segelfahrt über das Weddell-Meer.

Einige Stunden lang befand er sich in einer gefährlichen, aber unkomplizierten Welt, mit ständiger tödlicher Bedrohung und einer unbeirrbaren Kameradschaft zwischen den Männern. Einer gefrorenen Welt ohne Frauen.

Am Freitag um halb eins ging Verner zum Bahnhof Älvsjö, um den Pendelzug in die Stadt zu nehmen. Er hatte frei, wollte in die City fahren, in den Geschäften herumlaufen und nach einem Pullover suchen, vielleicht ein paar ausländische Zeitungen in der Stadtbibliothek lesen.

Als der Zug am Bahnsteig hielt, stieg gleichzeitig mit Verner ein junges Mädchen ein. Sie trug eine kurze, schwarze Jacke und eine enge, schwarze Hose. An einem Riemen über der Schulter hatte sie eine kleine Tasche. Ihr Haar war rotbraun und kurz.

Das Mädchen schaute Verner nicht an. Er sah sie und dachte flüchtig, dass es vermutlich kalt sein müsse in der eng anliegenden Kleidung und mit nacktem Bauch. Aber er hatte keinen Anlass, sich für das fremde Mädchen zu interessieren, und setzte sich im Wagen mit dem Rücken zu ihr.

1 Die 1975 in Kurdistan geborene Fadime Sahindal, die mit ihrer Familie in Uppsala lebte, wurde 2002 von ihrem Vater getötet, weil sie sich weigerte, in eine von ihrer Familie arrangierte Hochzeit mit ihrem türkischen Cousin einzuwilligen. Dieser sogenannte Ehrenmord löste in Schweden eine große gesellschaftliche Debatte aus und ist bis heute Synonym für Verbrechen dieser Art. [Anm. d. Übers.]

Bleierne Schatten

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