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DER KLANG SICH LICHTENDEN NEBELS

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von Christian Endres

Er ist wie immer alleine unterwegs, und wie immer ist es ein Kampf – ein uralter Kampf in einer neuen Welt.

Es fängt schon damit an, sich in den nebeligen Morgenstunden überhaupt zum Aufbrechen zu überwinden und wirklich den ersten Schritt zu tun, und den nächsten, und den übernächsten, und immer so weiter. Seine Zuflucht zu verlassen, sich von seinem gut verborgenen Quartier und der Quelle sauberen Wassers dahinter zu entfernen und beide unbewacht zurückzulassen.

Doch manche Dinge muss man einfach tun.

Manche Dinge sind wichtig.

Jetzt wichtiger denn je.

So wichtig, dass er zumindest für eine Weile sehenden Auges relative Sicherheit gegen sichere Gefahr einzutauschen bereit ist.

Als er sich durch das brusthohe Meer aus dichtem, feuchtem Gras schiebt, das ihm die Luft zum Atmen raubt und eisig über sein Gesicht streicht, denkt er darüber nach, dass man in diesen Zeiten sein Leben genauso leicht verlieren kann wie seine Menschlichkeit, und besser gut auf beides achtet.

Nachdem er sich über eine Stunde im Antlitz der träge emporsteigenden Sonne durch das Grasmeer geackert hat, das zwischendurch sein gesamtes Sichtfeld einnimmt, tritt er neben einem verrosteten Traktor durch eine letzte Welle hoher Halme, auf deren anderer Seite er kurz verschnauft.

Dann setzt er seine schweißtreibende Wanderung fort.

Die Landschaft wandelt sich, jedoch nicht die Anstrengung, die sie ihm abverlangt. Erst geht es über stufig abfallendes Gelände, dessen Boden nur aus unebenem Schiefer und tückischem Geröll besteht, die ihn trotz seiner festen, vielfach reparierten Stiefel um seine Knöchel fürchten lassen, weshalb er die schartige rote Feuerwehraxt wie einen Wanderstock benutzt.

Der Weg nach unten ist irgendwann von immer mehr Kiefern gesäumt, und am Ende führt er in einen wahren Urwald, der mit tausend Fingern nach seiner Wollmütze grapscht, an seinem Rucksack zerrt und ihn im Gesicht kratzt. Jeder Schritt ist ein weiterer kleiner Kampf für sich, gegen den Drang umzukehren genauso wie gegen die überwältigende Natur, die trotz der unverändert trockenen Sommer und zerstörerischen Unwetter zu alter Stärke zurückgefunden hat und die sich nicht noch einmal bezwingen lassen möchte.

Zielstrebig bahnt er sich einen Pfad durch den pfadlosen Wald. Er umgeht steile Hänge, klettert über umgestürzte Bäume und gigantische Wurzeln und passt in Senken erneut gut auf seine Füße auf. Mehr als einmal hackt er sich mit der Axt den Weg durch störrisch verschränkte Äste und verwachsene Zweige frei. Die unauffälligen Markierungen, die er beim letzten Mal in Rinde und Holz schlug, sind schon wieder hinter Sträuchern und Schösslingen verschwunden, und er muss sich einen neuen Weg suchen.

Der Wald verschluckt die Wärme, das Licht und die Geräusche des jungen Tages und erschafft eine eigene Sphäre aus Kühle, Schatten, Geraschel, Vogelgezwitscher, Geflüster, Summen und Geknarze. Die Präsenz und die Dominanz des Waldes sind förmlich greifbar und bohren sich bei jedem Schritt und jedem Hieb wie der Blick einer fremdartigen Entität in seinen Hinterkopf. Angst hat er dennoch keine – nicht einmal ein mulmiges Gefühl, wenn sich der von ihm geschaffene Tunnel durch den Forst direkt hinter ihm sofort wieder zu schließen scheint. Aber der Vormittag ist nicht die Zeit der gefährlichen Räuber, und zur Not versteht er es, die Axt als Waffe einzusetzen und sich so teuer zu verkaufen, dass er irgendwann nicht mehr attraktiv genug ist als Beute, wie die Erfahrung gezeigt hat.

Über Erfahrung sprechen zu können, bedeutet nicht zuletzt, in dieser rauen Welt Sommer um Sommer und Winter um Winter überlebt zu haben. Älter zu werden in einer jungen Welt, die schon immer alt gewesen ist. Tatsächlich muss er sich eingestehen, vor ein paar Jahren noch nicht so ins Schwitzen und Keuchen gekommen zu sein auf seinem Weg, der nie derselbe ist, aber immer in dieselbe Richtung führt und immer dasselbe Ziel hat.

Als die Sonne hoch über dem Wald steht, tritt er aus dessen einschüchterndem Schatten und blickt auf die breite Schlucht, die hier wie eine offene Wunde in der Erde klafft. Nicht nur im Boden, sondern im Planeten selbst, jedenfalls fühlt es sich so an. Früher hätte man eine mächtige, lange Brücke über sie gebaut. Als er das erste Mal auf die Schlucht gestoßen ist, folgte er ihr in beide Richtungen einen halben Tag lang, ohne hier oder dort auch nur das Ende in weiter Ferne erahnen, ja, auch nur eine Biegung oder eine engere Stelle ausmachen zu können. Weiter wollte er nicht gehen. Von den überwucherten Ruinen der Städte und dem, was darin wartet, hält er sich ebenso fern wie von den Kommunen oder dem Bunker-Gebiet; und der gestiegene Meeresspiegel spült noch immer radioaktiven Müll und Trümmer der zwecklosen Archen an die verschobene, verwandelte Küstenlinie.

Manchmal stellt er sich vor, dass die Schlucht, der Riss, diese Verwundung der Erdoberfläche an einem Längengrad einmal rund um den Globus entlangläuft, genau an der Stelle, wo eine gewaltige kataklystische Kraft die Welt auseinandergerissen hat.

Er geht parallel zur Schlucht, bis er seine letzte Markierung findet. Er lächelt grimmig bei der Erkenntnis, wie weit ihn der widerspenstige Wald diesmal vom Kurs abgebracht hat. Nachdenklich mustert er den hüfthohen Pfahl, der ihm eine günstige Stelle anzeigt, die er schon mehrfach erfolgreich zum Abstieg genutzt hatte.

Ruhig schaut er über die Schlucht. Am Himmel, der schon lange keine Kondensstreifen mehr gesehen hat, kreischt ein Bussard. Selbst als er einen vorsichtigen Schluck kühlen Wassers aus seiner Thermosflasche nimmt, sie gewissenhaft zuschraubt und mit geübten Handgriffen wieder an ihrem Platz im Ökosystem seines Rucksacks verstaut, wendet er den Blick nie von der unebenen Kante des tiefen Risses ab.

Schritt für Schritt, gemahnt er sich.

Er schiebt die Axt durch die nachträglich aufgenähten Schlaufen am Rucksack, schultert seinen Ranzen und macht sich an den Abstieg.

Die steinernen Wände der Schlucht sind steil und scharfkantig, und obwohl er sie schon oft bezwungen hat, braucht er all sein Geschick und all seine Konzentration, um sie rutschend, kletternd und an einer Stelle sogar von Vorsprung zu Vorsprung hüpfend zu meistern. Wenn er gelegentlich in die Tiefe späht, um den nächsten Halt auszumachen oder aus Gewohnheit jede Richtung abzusichern, sieht er lediglich den Nebel, der immer dichter wird, je tiefer er kommt, und der den Grund der Schlucht wie ein Schleier verbirgt.

Endlich spürt er unebene Erde, Kies und Unkraut unter seinen Stiefelsohlen. Unten angekommen, ist das Gefühl, eine Anderswelt betreten zu haben, noch stärker als im Wald. Der Nebel ist so dicht und zäh, dass er wie eine einzige Masse und wie etwas Lebendiges wirkt, das einem Plan folgt. Nur gelegentlich verschieben sich einige Schwaden in der Art träger Gliedmaßen, sodass er einen Blick auf die riesigen Steinbrocken erhaschen kann.

Sobald er festen Boden unter beiden Füßen hat, zerrt er die Axt aus dem Futteral. Der Schweiß und der Nebel vermischen sich kühl auf seiner heißen Stirn, als er den Griff der Waffe mit beiden Händen fest umklammert und mit leicht schief gelegtem Kopf in die milchigen Schwaden lauscht.

Er hört sie schon von Weitem – ihr Heulen, das durch den Nebel brandet, und kurz darauf ihr Hecheln und das Klacken ihrer Krallen auf dem Boden.

Wegen des ewigen Nebels hier unten hat er sie nie deutlich gesehen. Immer nur Büschel zotteligen, graubraunen Fells und Umrisse, die größer und prähistorischer wirken, als sie sollten. In seiner Fantasie verwandelten sich Wölfe und genetisch modifizierte Hunde aus den verhängnisvollen Bio-Labors der alten Zeit in einer Art Devolution zu etwas, das sich irgendwann nach dem Ende entwickelt hat und die Schlucht heute als Jagdrevier ansieht. Woanders ist er ihnen noch nie begegnet. Er hat den Bestien, die sofort bemerken, wenn jemand einen Fuß auf den Grund ihrer Schlucht setzt, absichtlich keinen Namen gegeben, denn das würde die Furcht, die er bei ihrem Anrennen jedes Mal verspürt, nur noch verstärken.

Das Hecheln und Klacken wird immer lauter, kommt immer näher. Er bezieht vor einem klotzigen Felsbrocken Position, damit ihn keines der Tiere von hinten anfallen kann, und stellt sich breitbeinig hin.

Da sind sie. Schaukelnde, massige Schatten schießen schnappend und knurrend auf ihn zu, und er schwingt die Axt wie eine Sense. Er kennt diesen Tanz aus Umkreisen, Finten und simultanen Angriffen, und nichtsdestotrotz muss er gegen seine Angst und seinen Fluchtinstinkt mindestens so unnachgiebig ankämpfen wie gegen die Attacken der wölfischen Schimären, die auf eine Unaufmerksamkeit und eine Lücke in seiner Deckung lauern.

Immerhin folgt das Ganze einem bestimmten Muster. Dringt die Axtklinge oft genug durch stinkendes Fell und provoziert genug Blut und Gejaule, verlieren sie den Mut und ziehen sich zurück. Er wartet dann stets eine Weile, um sicherzustellen, dass es kein besonders ausgeklügelter Trick ist, ihn in Sicherheit zu wiegen, ehe er achtsam seitwärts zur anderen Felswand geht, wo er in einem besonders kritischen Moment unbewaffnet und mit dem Rücken zur Schlucht den Aufstieg beginnen kann.

Auf dieser Seite ist es leichter, doch gleichzeitig bieten die besser verteilten Felsvorsprünge den Jägern eine theoretische Möglichkeit, ihm über die natürliche Treppe zu folgen. Doch sie tun es nie, und vielleicht liegt das daran, dass etwas in diesem unnatürlichen Nebel ist, das ihn nicht tangiert, sie aber seit ihrer Anpassung an diese Ära zum Überleben brauchen.

Im Augenblick denkt er nicht darüber nach, sondern konzentriert sich ganz aufs Klettern. Das letzte Stück, der Schwung über die überstehende Kante, gehört zu den schwierigsten, den größten Anstrengungen. Ächzend zieht er sich und sein Gepäck auf dem Rücken in einer ungelenken Bewegung nach oben, wo er mehrere hässliche Sekunden vollkommen schutzlos ist.

Seine Beine zittern beim Aufstehen, doch er erhebt sich umgehend.

Er ist müde und erschöpft. Den restlichen Weg von der Schlucht zu seinem Ziel könnte er zum Glück blind und im Schlaf finden.

Anderthalb Stunden später erreicht er das Haus. Der verwunschene Garten, der es umgibt, ist völlig verwildert und erweckt einen eigenartig friedlichen, märchenhaften Eindruck. Überall Bienen und Hummeln und Schmetterlinge und Käfer und Sperlinge und Drosseln und Finken und Kleiber, die sich überraschend schnell erholt haben, sobald die Hauptursachen ihrer Probleme vom Antlitz der Erde getilgt waren.

Er könnte seine Axt nutzen und einen dauerhaften Pfad zur Haustür schaffen, allerdings ist es ihm lieber, wenn die verfilzten Sträucher und wuchernden Ranken das Haus vor Blicken verbergen, obwohl er noch nie ein Anzeichen einer fremden Anwesenheit wahrgenommen hat.

Das Haus inmitten des ungezähmten Gartens ist relativ gut in Schuss dafür, dass niemand sich darum kümmert und viele Tiere darin wohnen – Eulen im Gebälk, Waschbären auf dem Dachboden, Mäuse in den Wänden, Füchse im Keller. Er bedauert stets, das Häuschen nicht ordentlich instand setzen und hier hinter der Wand aus Dornen, Ranken, Blättern und Ästen leben zu können. Zweifellos würde es vieles einfacher machen, müsste er sich nicht jedes Mal von Neuem den Gefahren der Wanderung aussetzen. Aber die Distanz zur Quelle und zum Grab seiner Frau sind triftige Gründe, nicht zu ernsthaft mit diesen immer wiederkehrenden Überlegungen und Sehnsüchten zu kokettieren.

Gemäßigten Schrittes geht er durch einen holzvertäfelten Flur. Der Gang mündet in einen großen Raum, dessen riesige Fensterfront wie durch ein Wunder unberührt geblieben ist und auf eine kleine Lichtung im Märchengarten hinausblickt. Bis auf ein großes Objekt, das sich unter einer staubigen Plane aus Öltuch verbirgt, die er vor langer Zeit im Garten gefunden hat, ist das Zimmer leer.

Geradezu andächtig bewegt er sich über das alte Parkett und bleibt vor dem verhüllten Etwas stehen, das so groß ist wie der Esstisch in einem weit zurückliegenden, an den meisten Tagen fast vergessenen Leben in einer vergangenen Welt, die nur noch in seiner Erinnerung existiert. Er legt die Axt nicht zu weit weg auf den Boden, lässt den Rucksack mit einem ermatteten Seufzer von den Schultern gleiten und streift seine Jacke ab. Das langsame Trinken aus der Thermosflasche ist wie ein Ritual, das zwei Abschnitte seines jetzigen Daseins miteinander verbindet. Er stellt die Flasche neben Axt und Rucksack und schlägt danach die wasserfeste Abdeckplane wie eine Bettdecke nach hinten.

Zum Vorschein kommt ein schwarz glänzender, wunderschön geschwungener Flügel mit einem kleinen Hocker davor. Der Kratzer, der wie ein Blitz quer darüber verläuft, macht ihn nur noch schöner und einzigartiger.

Er nimmt sich Zeit und steht eine Weile unbewegt da, betrachtet und bewundert einfach nur.

Irgendwann streicht er mit seinen Fingern zärtlich über die glatte Oberfläche des Instruments und über den markanten Kratzer, der die Schlucht und sein Leben so verblüffend simpel und treffend symbolisiert. Schließlich setzt er sich auf den Hocker und legt die Finger sacht auf die breiten weißen und die schmalen schwarzen Tasten, ohne ihnen einen Ton zu entlocken.

Über den Flügel hinweg sieht er in den Garten. Er hat den Eindruck, als wäre ihm ein einzelner weißer Nebel-Tentakel aus der Schlucht gefolgt, der nun nach dem Garten und dem Haus tastet. Vielleicht sind es die verschmierten Scheiben, vielleicht sind es seine alten Augen – womöglich ist diese Art von Nebel heutzutage aber auch überall, besonders in ihm selbst, und er nimmt ihn sonst nicht wahr. Was der Grund dafür ist, wieso er immer wieder hierherkommt, wo ihm die Mittel zur Verfügung stehen, den allesumfassenden Nebel zu durchdringen.

Der Grüne Planet

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