Читать книгу Der Grüne Planet - Erik Simon - Страница 24
ОглавлениеErst als es draußen hell wurde, sank sie entkräftet in den Schlaf. Sie träumte von Mammuten, die über die nordsibirische Steppe zogen und trompetend den Morgen begrüßten.
6
Es gab nach offiziellen Schätzungen noch eine Milliarde Menschen auf der Erde, als Ludmillas Forschungsgruppe in Sankt Petersburg der experimentelle Nachweis des Interphasenantriebs gelang, der bis dahin nur eine schöne Theorie gewesen war. Plötzlich schien das Tor zu den Sternen weit offen zu stehen.
Die Metropole im Norden war in den vergangenen Jahren auf fünfzehn Millionen Einwohner angewachsen. Sämtliche Wohnungen waren verstaatlicht worden und wurden nach einem schwer durchschaubaren Punktesystem vergeben. Ludmilla war es gelungen, ihre gesamte Gruppe in einer der großzügigen Wohnungen aus dem vorletzten Jahrhundert unterzubringen. Sie teilten sich Zimmer und taten so, als sei das kein Problem. Immerhin waren sie unter sich und mussten sich nicht mit Säufern und Schlägern herumärgern.
Als Ludmilla vom staatlichen Fernsehen gefragt wurde, wie ihnen der Durchbruch gelungen sei, antwortete sie: »Wir wollten endlich jeder ein eigenes Zimmer haben. Das motiviert.«
Inzwischen gab es eine lange Reihe von Exoplaneten, die von den Astronomen »Klasse M« genannt wurden, wenn sie unter sich waren. Man wusste über Atmosphären und Wasserhaushalt Bescheid, über Energiebilanz, Gravitation, Lichtspektrum. Man wusste längst, wohin man fliegen würde, wenn man es könnte. Der Planet hieß WAATO-2.
Jetzt konnte man es.
»Wir werden ein Generationenschiff bauen, und zwar so schnell wie möglich«, hatte der Parlamentspräsident Schwedens angekündigt. »Wir müssen es tun, solange wir noch eine Zivilisation haben, die die nötigen Ressourcen bereitstellen kann. Es wird der Befreiungsschlag für die Menschheit, der Aufbruch zu einem neuen Planeten.«
Zwanzig Jahre und zweihundertdreizehn kriegerische Auseinandersetzungen später startete ein Raumschiff mit einer Million Menschen an Bord, das man zu Ehren der Petersburger Forscher Svarog getauft hatte, nach dem slawischen Gott des Himmelsfeuers. Es bewegte sich zunächst aus der Erdumlaufbahn in den Asteroidengürtel. Durch die Sprengung des Asteroiden Ceres erzeugte man die notwendigen Gravitationswellen, auf denen der Interphasenantrieb ritt.
Ludmilla beobachtete den Start am Teleskop. Sie war zu alt gewesen, um einen der Plätze an Bord zu bekommen. Kolja, ihr Doktorand, hatte mehr Glück gehabt. Wahrscheinlich würde er seine Doktorarbeit nie fertig bekommen, aber seine Urenkel würden WAATO-2 betreten. Sie weinte, als sie den winzigen hellen Punkt auf dem Weg zur Ceres verfolgte.
Die Explosion konnte man mit bloßem Auge verfolgen, zumindest außerhalb der Millionenstädte im Norden. Viele Menschen machten sich auf in die dunklen Außenbezirke, starrten in den Himmel und sahen die Nebelwolke, die sich wie ein Komet ausbreitete. Sie redeten sich ein, dass es ein Symbol der Hoffnung war, obwohl sie wussten, dass es zwanzig Jahre dauern würde, eine weitere Arche zu bauen, die einen winzigen Bruchteil der Menschheit evakuieren könnte.
Obwohl Verkehr und Warenproduktion zusammengeschrumpft waren, hatte sich die Erdtemperatur weiter erhöht. Alljährlich im Sommer brannte die Tundra im Norden, brannte die Taiga, brannten Wälder rings um den Globus.
Sie wussten nicht mehr, worauf sie hoffen sollten.
7
Unterwegs gab es keine Entscheidung zu treffen. Alle Entscheidungen waren gefällt worden, ehe die Svarog die Erdumlaufbahn verließ. Die Ressourcen waren nicht nur abstrakt endlich, sie konnten grammgenau angegeben werden. Wer an Bord gegangen war, der hatte sich auf ein durchorganisiertes Leben eingelassen, in dem jede Mahlzeit, jeder Liter Wasser, jede Tätigkeit und jedes Kind vorgeplant war.
Es gab keine Möglichkeit, unterwegs nachzutanken. Es gab kein unbesiedeltes Deck, das man bevölkern konnte. Es gab keine Waffen, mit denen man hätte Dinge umverteilen können. Es gab, was Jahrzehnte und Jahrhunderte auf der Erde als Teufelswerk gegolten hatte: eine absolute Planwirtschaft, in der keiner verhungerte und keiner reich wurde und jeder in der gleichen winzigen Kajüte lebte.
Sie kamen zurecht.
Sie taten Dinge, die getan werden mussten.
»Warum soll ich zwei Kinder bekommen?«, fragte Sigyn trotzig.
»Wegen der genetischen Vielfalt«, erwiderte Olga, die Lehrerin.
»Dafür würde auch ein Kind reichen.«
»Damit würdest du nur die Hälfte deiner Erbanlagen weitergeben.«
»Und?«
»Und es gibt eine kritische Bevölkerungsgröße, unter der die Aufrechterhaltung der Zivilisation nicht möglich ist.«
Es war eine alte Debatte, die an verschiedenen Orten des Generationenschiffes immer wieder in Varianten aufgeführt wurde.
Später lag Sigyn mit Zora auf dem zu schmalen Bett ihrer Kajüte. Die Mädchen küssten einander, hielten einander fest und starrten an die Decke, die so grau war wie am Tag ihrer Herstellung. Sie verblich nicht, weil es kein Sonnenlicht gab, dass dem Plastikmaterial hätte gefährlich werden können.
»Kannst du dir eine Sonne vorstellen?«, fragte Zora.
Sigyn schüttelte neben ihr den Kopf. Zora spürte es mehr, als dass sie es sah.
»Kannst du dir einen Wald vorstellen? Ich meine, wir haben Bäume. Ich sehe mir einen Baum an, und dann denke ich: Ein Wald sind zehnmal so viele. Und davon noch einmal zehnmal so viele. Mehr kann ich mir nicht vorstellen. Aber auf der Erde standen Millionen Bäume in einem einzigen Wald.«
»Woher weißt du, dass es Wälder überhaupt jemals gegeben hat? Sie zeigen uns Bilder von Elefanten und Fledermäusen und behaupten, dass es sie auf der Erde gegeben hat. Sie zeigen uns Bilder von Einhörnern und Drachen und sagen, dass es nur Erfindungen waren. Wo ist der Unterschied?«
Zora fuhr mit dem Zeigefinger über Sigyns sommersprossiges Gesicht.
»Es sind unsere Eltern«, sagte sie leise.
»Die es von unseren Großeltern wissen. Und unsere Großeltern haben einen Planeten mit richtigen Wäldern verlassen, nur um in einer Blechkiste zu leben. Unsere Enkel sollen es einmal besser haben und so. Ich habe nicht darum gebeten, in einer Blechkiste aufzuwachsen. So scheiße kann kein Planet sein, dass das besser wäre. Also was stimmt damit nicht?«
Die Pubertät war an Bord der Svarog kein bisschen leichter als auf der Erde, im Gegenteil. Man konnte nirgends hin, man konnte nicht davonlaufen, man konnte kein anderes Leben führen als das seiner Eltern.
»Ich will keine Kinder«, erklärte Sigyn. »Ich will nicht daran schuld sein, dass Kinder in diesem Schiff aufwachsen müssen und nie einen Wald sehen werden. Oder Schmetterlinge.«
Fünf Jahre später war es Sigyn, die bei der Routineüberwachung des Raumes vor ihnen ein anderes Raumschiff entdeckte, das in Gegenrichtung unterwegs war. Es war das erste Mal, dass die Menschheit ein Zeichen fremder Intelligenz entdeckte. Aber es gelang ihnen nicht, mit den Fremden zu kommunizieren, obwohl sie das ganze Arsenal systematischer Kommunikationsanbahnung funkten.
»Vielleicht«, sagte Sigyn zehn Jahre später zu ihrer Tochter Danica, »kennen sie keine Funkgeräte. Oder sie haben das mit dem Kälteschlaf hinbekommen und schliefen alle, als wir einander begegneten.«
»Kälteschlaf?«, fragte Danica.
»Auf der Erde soll es Tiere gegeben haben, die monatelang schliefen, wenn es kalt war. Es gab da Jahreszeiten. Manchmal war es warm, und manchmal war es kalt – kalt wie im Kühlschrank. Dann versteckten sich die Tiere und schliefen, bis es wieder wärmer war. Wenn wir so etwas könnten, dann könnten wir die Zeit des Fluges einfach verschlafen.«
»Ich will nicht so lange schlafen. Ich finde Mittagsschlaf doof. Einen ganzen Monat schlafen wäre noch doofer.«
Danica verstand nicht, dass das Leben an Bord sterbenslangweilig war, weil nie irgendetwas passierte. Nichts, was nicht tausendmal vorher passiert war und tausendmal danach passieren würde.
Dreißig Jahre später diskutierten sie darüber, ob es zu rechtfertigen wäre, die knappen Ressourcen für ihre dementen Großeltern zu verschwenden, die ihre Kajüten nicht mehr allein und aus eigener Kraft verlassen konnten. Es gab keine Infektionen an Bord, keinen Alkohol, keine Drogen … Man brauchte kriminelle Energie, um trotz der optimierten Rationen ungesund zu leben. Die Menschen wurden älter als geplant.
Sie hatten das Problem der Überbevölkerung in den Weltraum mitgenommen.
8
Kate war vierundachtzig Jahre und sechs Monate alt.
WAATO war der hellste Stern in der Weite des Alls. Die Svarog bremste seit geraumer Zeit. Dreizehn Monate, sagten die Berechnungen, würde es noch dauern, bis sie sein System erreichten und in eine Umlaufbahn um den zweiten Planeten einschwenken würden.
Seit ihre Urgroßmutter gestorben war – Kate war damals elf – wusste sie, dass sie die Ankunft auf dem Planeten nicht erleben würde. Seit dreiundsiebzig Jahren wusste sie, dass es für sie kein Ziel gab, dass sie es um wenig mehr als ein halbes Jahr verfehlen würde.
Sie hatte Probleme mit dem rechten Bein, und manchmal vergaß sie Dinge, weil die Tage, Wochen, Monate und Jahre so unglaublich gleichförmig waren, so wie auch die unzähligen Kajüten fast völlig gleich waren. Man konnte sie nicht voneinander unterscheiden. In letzter Zeit war Kate gelegentlich in eine falsche Kajüte geraten, weil sie sich nicht an die Nummer erinnern konnte.
Sie würde bei der Kolonisierung von WAATO-2 (oder war es doch -3?) keine Hilfe sein, sondern eine Last, und deshalb würde sie nie erfahren, wie der Himmel über einem Planeten aussah.
9
»Klasse M, ja?« Celestines Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was sie von der Einstufung des Planeten WAATO-3 hielt.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Vera. »Sie können nicht so danebengelegen haben.«
»Mit vierzehn Prozent Sauerstoff kommen wir nicht aus. Nicht mal an den Polkappen, wo die Temperaturen erträglich sind. Jedenfalls hoffe ich, dass sie erträglich sind. Ich habe keine Ahnung, wie sich zweiunddreißig Grad anfühlen.«
Die Wissenschaftlerin verstummte und rieb sich die verspannte linke Schulter, während sie auf ihren Monitor starrte. Keine ihrer Analysen passte zu den Daten, die man vor dem Start der Svarog ermittelt hatte.
»Es muss einen Grund dafür geben.«
Auch Vera war völlig übermüdet. Sie hatte längst den Punkt überschritten, wo sie noch logisch denken konnte; aber ehe sie die Besatzung informierten, dass der Planet nicht besiedelbar war, wollten sie alle Fehler ausgeschlossen haben. Ihr war unangenehm bewusst, dass eine knappe Million Menschen gespannt darauf wartete, dass sie ihre Hoffnungen und Träume wahr werden ließen.
Was sie nicht konnten.
»Irgendwo müssen wir einen Fehler haben«, sagte Vera zum hundertsten Mal.
Sie wusste, wie lahm das klang.
»Wir haben keine Erfahrung mit Atmosphären«, schob sie deshalb hinterher.
Das hörte sich nicht besser an.
»Wir gehen runter und sehen nach«, entschied Celestine.
Sie ließ eine der Landefähren fertig machen und forderte einen Piloten an.
Wenig später tauchten sie in die Atmosphäre von Zwei ein. Sie hatten Planeten in Filmen und Hologrammen gesehen, aber nichts hatte sie darauf vorbereitet, einen echten Planeten aus Dreck und Lava zu sehen: riesige Meere, Landmassen jenseits ihrer Vorstellungskraft, Berge, Wolken.
Arkadi, der Pilot, fluchte leise.
»Sie haben Wind hier«, beklagte er sich. »Seitenwind.«
Die Fähre schlingerte. Er war ein Pilot, der noch nie in seinem Leben geflogen war, aber die letzten Piloten, die noch durch eine echte Atmosphäre geflogen waren, waren seit mehreren hundert Jahren tot.
Trotz aller Faszination war Vera übel. Sie hätte nicht sagen können, ob das Schlingern schuld daran war oder die unvorstellbare Größe des Planeten so unglaublich weit unter ihr. Das Weltall war unendlich. Da fiel man nirgendwohin. Aber der Planet hatte ein reales Gravitationsfeld, und die Triebwerke der Fähre arbeiteten hörbar, um das zerbrechliche Gefährt in der Luft zu halten. Sie hatte kein Wort für die Angst, die sie zwang, den Blick von der Oberfläche abzuwenden.
»Sollte es da unten nicht grüner sein?«, fragte Celestine. »Wald und so?«
Um den Äquator herum erstreckten sich Wüsten, so weit sie sehen konnte, nur unterbrochen vom Dunkelblau der Meere. Hier und da ragte eine Struktur aus dem gelben oder roten Boden, von der man nicht sagen konnte, ob sie ein Felsen, der Rest einer Pflanze oder eines dieser Dinger namens Gebäude war.
Gebäude.
Als die Fähre vom Äquator aus in Richtung Pol flog, entdeckte sie Strukturen, die zu geometrisch waren, um natürlichen Ursprungs zu sein – zu sechseckig, zu gerade, zu anders als ihre Umgebung. Da und dort schien es auch Pflanzenwuchs zu geben.
»Vera? Vera, gab es irgendwo in den Daten zu Zwei einen Hinweis auf Funkverkehr?«
Vera schüttelte vorsichtig den Kopf.
»Kein Funk. Sonst hätte man ja annehmen müssen, dass der Planet besiedelt ist.«
»Da sind Anomalien in der Landschaft. Sieht aus, als sollten wir jetzt besser annehmen, dass der Planet besiedelt ist.«
»Verdammte Axt«, entfuhr es Arkadi, dem Piloten. »Das ist nicht gut, oder?«
»Nein. Und sie kommen mit viel weniger Sauerstoff aus als wir.«
Vera öffnete die Augen und schaute nach draußen. Das flaue Gefühl kehrte zurück, als sie den Planeten tief unten sah.
»Vielleicht sind es irgendwelche staatenbildenden Insekten oder so. Auf der Erde gab es doch so etwas, und die bauten riesige Waben.«
Arkadi ließ die Landefähre sinken. Vera würgte, schloss wieder die Augen und zählte bis zehn.
»Es sieht«, sagte Celestine, »seltsam aus. Das da hinten sieht aus wie ein Steinbruch, einer dieser Monstersteinbrüche, in die ein ganzes Raumschiff passen würde.«
Der Boden fiel in Terrassen ab. Der Computer stellte fest, dass das Loch hundertsiebenundzwanzig Meter tief war – im Durchschnitt. Die Zahl hatte für die drei keine reale Bedeutung. Nirgends im Schiff gab es eine Strecke, die so lang war. Die Kamera zoomte hinein. Da stand etwas, das wie ein Fahrzeug aussah. Es steckte zur Hälfte in einer Sanddüne. Hinter dem Steinbruch fanden sich weitere sechseckige Strukturen.
Arkadi flog einen Bogen. Er schwitzte am ganzen Körper, und seine Handflächen klebten.
»Wenn sie hier nicht sehr große Insekten haben, dann waren das Gebäude«, kommentierte Celestine. »Aber falls sie Dächer hatten, dann sind die eingestürzt.«
Kleine Sanddünen hatten sich auch auf einer Seite der Mauern abgelagert. Die beiden Frauen hatten stundenlang Filme von der Erde angesehen, um eine Vorstellung von Planeten zu entwickeln. Trotzdem fiel es ihnen schwer, Worte wie Ruine oder Geröll mit dem zu verbinden, was sie sahen. Es gab gerade Linien im Gelände, die vielleicht das waren, was man auf der Erde Straße genannt hatte – obwohl sie weniger eben waren und da und dort Pflanzen aus der Fläche herauswuchsen. Falls es Pflanzen waren.
In der Nähe dessen, was sie für den Südpol des Planeten hielten, gab es Vegetation. Zumindest wirkte es mit seiner fraktalen Gestalt wie Vegetation. Dazwischen bewegten sich Dinge, die wohl Tiere waren. Sie erinnerten Celestine an eine Tierart namens Herde oder etwas, das Reptil hieß. Sie bewegten sich langsam über die Ebene und rupften an der Vegetation. Auch da gab es Strukturen, die meisten davon sechseckig und ohne Dächer. In der Polarregion waren sie größer und dichter gedrängt, aber bis auf einzelne Reptilien wirkten sie unbelebt.
Celestine suchte nach einem Wort dafür. Stadt. Da unten lag eine Stadt. Das war so etwas wie ein Raumschiff, nur breiter und nach außen offen. Eine Geisterstadt. Geister gab es auch an Bord. Es waren die Seelen der Verstorbenen, deren Körper in den Geistertanks zersetzt wurden, ehe man ihre Bestandteile in den Gärten recycelte. Geister rochen seltsam. Sie machten Geräusche, wispernde, seufzende Geräusche. Als Kinder waren sie zu den Tanks gelaufen, um sich zu fürchten. Celestine konnte das Seufzen und Wispern der Gebäude beinahe hören.
10
Sie begannen damit, Sauerstoff aus der Atmosphäre zu filtern und in Flaschen zu füllen. Ohne Atemgerät konnte man auf der Oberfläche nicht überleben. Ohne Atemgerät konnte man nicht einmal herausfinden, was zum Teufel mit dem Planeten nicht stimmte.
Nach der ersten bleiernen Enttäuschung hatte sich ein eiserner Fatalismus breitgemacht. Sie hatten es nicht eilig. Sie konnten die Gebäude und Straßen untersuchen. Sie konnten Dinge analysieren. Sie konnten sogar Möglichkeiten finden, den Planeten bewohnbar zu machen. Sie hatten Hunderte von Jahren in einem Raumschiff gelebt, das Luft, Wasser und Nährstoffe in einem unendlichen Kreislauf wiederverwertete. Sogar den Staub hatten sie gesammelt, gefiltert und wiederverwendet. Es kam nicht auf ein paar Tage, Monate oder Jahre an.
Vera fühlte sich sicherer, seit sie wieder an Bord war und Videoaufnahmen auswertete.
»Sie sind weg«, erklärte sie schließlich. »Es gibt reichlich Spuren intelligenter Bewohner, aber nirgends Bewohner. Wir haben in Bodenproben Hinweise darauf gefunden, dass es in der Vergangenheit mehr Vegetation und mehr Sauerstoff gab. Es scheint, als hätte eine rasante Erwärmung des Planeten einen Großteil der Biosphäre vernichtet oder geschädigt. Ohne Pflanzen keine Photosynthese, ohne Photosynthese kein Sauerstoff.«
Sie hatten an verschiedenen Stellen die Reste riesiger Waldbrände ausgegraben. Wald. Wald, der Sauerstoff produzierte. Verbrannter Wald, der Kohlendioxid an die Atmosphäre abgegeben hatte. Aber da und dort breitete sich neue Vegetation aus. Es schien, als wäre die Natur gerade dabei, sich neu zu erfinden. Vera erinnerte sich vage an ihre Ökologie-Lektionen. Irgendwann würde sich ein neues Gleichgewicht herstellen, das die vorhandenen Ressourcen optimal nutzte, aber ohne Hilfe würde es sich auf einem niedrigen Niveau stabilisieren – zu niedrig für eine künftig wachsende Bevölkerung.
»Die gute Nachricht ist«, sagte sie sich und anderen immer wieder, »sie sind weg. Sie werden uns nicht davon abhalten, den Planeten für uns wohnlich zu machen.«
Die Menschen bauten an den Küsten entlang sonnenbetriebene Aggregate, die Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff spalteten und den Wasserstoff in organischen Verbindungen speicherten. Sie errichteten Wohnkuppeln, in denen man auf der Oberfläche leben konnte. Aus künstlichen Samen zogen sie winzige Bäume, die in fünfzig oder hundert Jahren ein eigenes Ökosystem bilden würden. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre stieg, aber er stieg unendlich langsam.
Nach zwei Jahren gewöhnten sie sich langsam daran, dass man Fäkalien einfach wegwerfen konnte. Es fühlte sich nicht richtig an, aber in den Archiven fand man Hinweise darauf, dass die Menschen auf der Erde genau das getan hatten. Ein Planet war so etwas wie ein sehr großes Raumschiff, und nichts ging verloren. Auf dem Planeten gab es riesige Vorräte von Material, auch wenn manche Elemente fast völlig fehlten. Fäkalien gab es ausreichend.
Einige der Menschen suchten nach den verschwundenen Bewohnern, obwohl es seit Jahrhunderten keine Archäologen gegeben hatte – ebenso wenig wie Piloten oder Seeleute. Sie fanden riesige Bergwerke. Es schien, als hätten die Vorgänger alles Nützliche aus dem Planeten gegraben, ehe sie verschwanden. Sie fanden auch die Deponien, und sie kartierten sie. Noch war genug Platz auf dem Planeten, um die radioaktiv verseuchten Gebiete weiträumig zu umgehen. Sie fanden die Reste der Startrampen, und nach zwölf Jahren fanden sie auch die Reste von Aufzeichnungen. Es war ein Puzzle von Informationsfetzen, ein Sakrileg für Menschen, die seit Generationen alles aufbewahrten, die kein Bit Daten löschten und keinen Milliliter Wasser ins All entkommen ließen. Aber sie setzten es zusammen, und das Ergebnis war klar genug.
»Es ist ein schlechter Witz«, sagte Juene.
»Die Geschichte macht nur schlechte Witze«, erwiderte Arif.
Sie saßen auf Faltstühlen auf einer winzigen Fläche hinter der Glaswand der Kuppel, die ansonsten mit Gerätschaften, Anzuchtkisten und Samen bis in den letzten Winkel vollgestopft war. Um zu schlafen, würden sie später die Stühle zusammenklappen und unter das Regal mit den neuen Bäumen schieben müssen. Vor ihnen erstreckte sich die unwirtliche Landschaft von Zwei. Im lehmgelben Dreck im Windschatten der Felsen standen hundertsechzehn kniehohe Bäumchen. Jeden Abend gingen die beiden hinaus und gossen sie mit Wasser aus der Entsalzungsanlage. Natürlich hätten sie Rohre verlegen und es den Automaten überlassen können, aber es fühlte sich richtig an, und es sparte das Material für die Rohre. Sie experimentierten mit Rohren aus gebranntem Lehm, aber bisher war das Ergebnis unbefriedigend. Außerdem liebten sie die Bäume. Hinter den Felsen erhoben sich einige der einheimischen Gebüsche, staubig blaugraue, struppige Dinger, die die Biologen Schachtelbaum nannten, obwohl sie nicht wie Schachteln aussahen. Die irdischen Bäume waren leuchtend grün. Die Biologen sagten, dass es Platanen wären, die vierzig Meter hoch werden würden.
Niemand wusste, welche Lebensformen sich durchsetzen würden. Sie wussten nur, dass die Schachtelbäume ebenso wie alle anderen einheimischen Pflanzen für irdische Organismen unverwertbar waren. Die Menschen konnten entweder irdische Pflanzen etablieren oder aussterben. Eine andere Variante gab es nicht. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, die Rückreise zur Erde anzutreten, weil das größte Rohstoffreservoir im System ihr eigenes Raumschiff war. Auf Zwei war nichts zu holen, jedenfalls kein Treibstoff für eine Rückreise.
»Sie haben den Planeten ruiniert, und dann sind sie davongeflogen, weil sie sich eingebildet haben, es gibt einen zweiten als Backup«, nahm Juene ihren Gedanken wieder auf, aber es war nicht klar, ob sie die Erdmenschen oder die Vorgänger damit meinte.
»Und wir, die wir nie irgendetwas verbraucht haben, das wir nicht vorher ausgeschissen hätten, bezahlen die Rechnung.«
Arif legte ihr die Hand auf die Schulter. Er sah hinaus, und für einen Moment sah er die Bäume, wie sie in zwanzig oder dreißig Jahren sein würden: riesige, grüne Organismen, die von Tieren bewohnt wurden, ein Universum, ein Wald. Etwas, was nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Er lächelte.
»Genau deshalb«, sagte er, »sind wir die Einzigen, die es hinkriegen können.«