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ОглавлениеMontag, 24. September 2136, 23:55 Uhr (MSZ): Lunaria – Taktische Sektion des Kontrollzentrums
Die Taktische Sektion vermittelte entgegen der Bezeichnung einen eher unspektakulären Eindruck. Es handelte sich um einen fensterlosen Raum, welcher mit zwei großen und mehreren kleinen Bildschirmen sowie einer die Rückwand vollständig einnehmenden Steuerkonsole ausgestattet war. Im Krisenfall bot der Raum dem Präsidenten und den beiden Vorsitzenden des Lenkungsrats sowie vier weiteren für die Bedienung der Defensivsysteme verantwortlichen Personen Platz. Im Moment war neben dem Präsidenten jedoch nur der diensthabende Offizier anwesend.
Das Treffen mit Maximilian hatte Edward mehr zu denken gegeben als jede andere zuvor in seinem Leben geführte Unterhaltung. Wenige Stunden später hatte er den Kontakt zum Lenkungsrat gesucht, sich mit dessen Meinungsführern besprochen, zahlreiche, zumeist kontroverse Diskussionen mit Einzelpersonen und in Kleingruppen geführt, hatte zugehört, argumentiert und versucht, zu vermitteln. Der vermeintlichen Aussichtslosigkeit der Lage setzte er seine unerschütterliche Zuversicht entgegen. Er wollte zeigen, dass die Mondgemeinschaft auch diese Krise gemeinsam meistern würde. Tief in ihm sah es jedoch anders aus. Seine Zweifel, den Lenkungsrat einen zu können, wucherten wie ein bösartiges Geschwür.
Schließlich erfuhr er eine Niederlage, die ebenso bitter war wie Maximilians Rat: Es ließ sich nicht einmal ein Grundkonsens finden. Es war daher an ihm – und nur an ihm – eine einsame Entscheidung zu treffen. Diese hatte ihn heute ins Kontrollzentrum geführt. Mithilfe von Maximilian und dessen Netzwerk war es gelungen, einen vertrauenswürdigen Mitstreiter innerhalb des Zivilschutzes zu finden und ihn in die heutige Dunkelschicht zu versetzen. Der Mann hatte auf der Erde unsagbar Schlimmes erfahren und dabei Frau und Kind verloren. Er war bereit, die fürchterlichste aller Entscheidungen mitzutragen.
Doch durfte ein Präsident überhaupt ohne demokratisches Mandat handeln? Konnte er einfach festlegen, was richtig war? Wer war er, dass er es wagte, sich anzumaßen, eine derartig tiefgreifende Entscheidung für die gesamte Mondgemeinschaft zu treffen? Edward King wurde sich erneut seiner Namensgeber bewusst. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass es sich einerseits um einen der größten mittelalterlichen Monarchen, andererseits um den führenden Bürgerrechtler des 20. Jahrhunderts handelte …
Das Piepen der Kontrollinstrumente im Raum erinnerte ihn an die Elektrokardiogramme der Krankenstation. In ihm formte sich die Vorstellung einer dahinsiechenden Erde, deren imaginärer Pulsschlag zunehmend langsamer und schwächer wurde. Würde der Patient überleben? Er dachte an bewaffnete Konflikte, an Hunger und Vertreibung. Er dachte an die zunehmende Luft- und Wasserverschmutzung, die Reaktorunfälle und die Auswirkungen der globalen Klimaveränderung. Und er dachte an das ungebremste Bevölkerungswachstum. Wie kein anderes Problem machte es die wohl unvereinbare Distanz zwischen Mond- und Erdendenken deutlich: Hier waren Geburtenkontrollen selbst für religiöse Mitglieder der Gesellschaft kein Tabu.
Als Präsident musste er der Verantwortung gerecht werden und diese MikroGesellschaft von knapp 200.000 Individuen schützen. Zum ersten Mal empfand er seine Blindheit als Segen: Er würde das von Laserstrahlen durchtrennte Transportschiff und die durchs All schwebenden Leichen nicht sehen müssen. Ebenso wie Justitia sollte ihm die Konsequenz seiner Entscheidung verborgen bleiben.
Er hatte eine kurze Erklärung vorbereitet. Zum Beginn der kommenden Hellphase würde er sie verlesen, vom Präsidentenamt zurücktreten und sich der Justiz stellen. Sein eigenes Schicksal war unbedeutend. Zusammen mit Maximilian teilte er die Hoffnung, dass sein Handeln langfristig dem Überleben der Menschheit diente. Zwar war der Zeitpunkt, die Erde als dauerhafte Lebensgrundlage zu erhalten, wahrscheinlich seit mehr als hundert Jahren überschritten. Vielleicht würde in ein paar Jahrtausenden – falls sich das planetare Ökosystem nach dem Verschwinden des Menschen regenerieren sollte – der Mond die Keimzelle für neues irdisches Leben sein. Der Homo sapiens lunaris könnte dann auf den Trümmern der alten Zivilisation das Fundament einer tatsächlich humanen Gesellschaftsordnung legen.
»Zielerfassung erfolgt, Sir. Feuerbereitschaft ist hergestellt«, meldete der diensthabende Offizier und riss Edward aus seinen Gedanken.
Der Laser musste händisch aktiviert werden. Vorsichtig tastete Edward nach dem Auslöser. Als er ihn berührte, zog er seine Hand ungewollt zurück, so als hätte er sich an einem heißen Kochfeld verbrannt. Er hielt kurz inne und bemerkte, dass er am ganzen Körper zitterte.