Читать книгу Der Grüne Planet - Erik Simon - Страница 22
MIETNOMADEN
Оглавлениеvon Heidrun Jänchen
1
Es war ein heißer Sommer, der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und es hatte zwei Monate lang nicht geregnet. Die Linden im Stadtpark warfen Ende Juli ihre Blätter ab. Man konnte den Fluss zu Fuß durchqueren, ohne nasse Knie zu bekommen.
2
Anna und John – die Europäer hatten nicht nur die Folgen ihres Wirtschaftssystems, sondern auch ihre Namen auf Tokelau hinterlassen – bauten ein Haus. Sie bauten es nicht wie die anderen im Dorf, sondern auf drei Meter hohen Stelzen. Als der Boden sumpfig wurde und die Pflanzen verrotteten, stank es, aber ihr Haus stand noch, und das Meer war noch da, das ihre Vorfahren seit Jahrhunderten, vielleicht auch seit Jahrtausenden ernährt hatte.
Einige der Korallen sahen komisch aus, und manchmal trieben tote Fische auf dem Wasser, doch man konnte überleben. Anna und John wollten nicht wie die anderen Bewohner des Atolls umziehen. Es gab ein neues Dorf in den Bergen. Sie hatten immer am Wasser gelebt und konnten mit Bergen nichts anfangen, die überall den Himmel verstellten. Ringsum verschwanden immer mehr Häuser im Ozean. Die Straße lag schon lange unter Wasser, aber sie hatten ein Boot. Und sie hatten einander. Sie überlebten.
Bis eines Tages die Balken unter der Hütte nachgaben.
3
Die Straßen waren voll mit Plakaten und Fahnen. Unter den Platanen am Eichplatz saß ein Dutzend junger Leute. Sie trugen blaue Kleidung und manche hatten blaue Fahnen mit goldenen Sternen um die Schultern geschlungen. Hinter dem Fuchsturm ging die Sonne auf.
»Das war’s«, sagte Pilar.
»Weißt du schon, was mit deiner Einbürgerung wird?«, fragte ein Mann mit langen blonden Haaren und einem Backenbart.
»Wenn ich mich als Altenpflegerin ausbilden lasse, haben sie gesagt, bekomme ich eine Duldung für zwei Jahre.«
Pilar war Chemikerin, aber seit der Zerschlagung des Monaven-Konzerns steckte die gesamte Branche in der Krise.
»Ich kann das nicht – Menschen beim Sterben zusehen.«
Vom Markt her hörte man die Party der Antieuropäer. Sie spielten »Rosamunde« und »Es saßen die alten Germanen« und das Lied vom eisgekühlten Bommerlunder.
»Die NoVoP hat angekündigt, sofort nach der Abstimmung Grenzkontrollen an allen Außengrenzen einzuführen«, sagte eine Frau mit blauem Blumenmuster auf dem kahl geschorenen Schädel.
»Wir wissen das, Lina. Wir haben das wochenlang jedem erzählt, der es nicht hören wollte.«
»Aber Grenzkontrollen! Das ist ein Rückfall ins Mittelalter.«
Keiner widersprach ihr, obwohl das zwanzigste Jahrhundert um einiges später stattgefunden hatte. Es gab alte Leute, die sich an Grenzen erinnerten und an Zeiten, in denen ein Dreipfundbrot dreiundsechzig Pfennige kostete. Oder waren das Groschen?
Es war die Angst gewesen, die einundsechzig Prozent der Deutschen dazu gebracht hatte, für einen Austritt aus der EU zu stimmen – die Angst vor den Griechen, Italienern und Spaniern, die wegen Missernten und Dürre über die Pyrenäen und die Alpen kamen wie ehedem Alexander der Große. Deutschland förderte den Aufbau von Zitrus- und Olivenplantagen, und die Südländer kannten sich damit aus.
Pilar drehte einen Joint, zündete ihn an, zog daran und gab ihn weiter.
»Die NoVoP hat angekündigt, dass sie Cannabis wieder verbietet, sobald sie die absolute Mehrheit im Bundestag haben«, kommentierte Lina.
»Auch das wissen wir.«
Sie hatten verloren, und die Nordische Volkspartei hatte gewonnen.
Immerhin herrschte, vom Terror mit tümlicher Volksmusik abgesehen, in Deutschland noch immer sozialer Friede.
In Frankreich hatten die Katharer Lyon eingenommen und rückten nach Norden vor. Deutschland unterstützte das befreundete Land mit Waffenlieferungen, und Frankreich unterstützte die deutsche Waffenindustrie. Die Lieferungen an die südfranzösischen Rebellen waren ein wenig komplizierter, aber die Gewinne entwickelten sich trotzdem prächtig. RTK steuerte auf das beste Geschäftsjahr seiner Geschichte zu.
Kein deutscher Politiker wagte es, das Wort Afrika zu erwähnen. Es war, als hätte der Kontinent nie existiert. Er war das schwarze Loch des öffentlichen Bewusstseins.
4
»Sie sind feindselig«, beklagte sich Tabea. »Ich grüße sie, und sie drehen sich wortlos um und gehen weg.«
»Das wird sich geben«, wiegelte Justin ab. »Der Unterschied zwischen Deutschen und Norwegern ist nicht so groß.«
Er brannte die bröselige Farbe des Hauses ab. Sie wollten es gelb streichen, mit weißen Fensterrahmen. Es war warm, aber nicht mehr als zwanzig Grad. Im Sommer. Wasserfälle stürzten von den Bergen und ergossen sich in den Nordkjosen, der auch jetzt im Juli noch eiskalt war. Nur die endlosen Tage waren gewöhnungsbedürftig.
Das Haus hatte zwölf Jahre leergestanden und war nicht im besten Zustand, aber sie waren froh, sich wenigstens das leisten zu können. Die Immobilienpreise in Nordnorwegen waren durch die Decke gegangen, nachdem im letzten Jahr der Thüringer Wald abgebrannt war. Tabea wusste, dass sie sich zu spät entschieden hatten. Aber spät war besser als gar nicht. Ihr Kind sollte in einer heilen Welt aufwachsen.
Anfangs hatten sich die Leute in Nordkjosbotn über die Zuzüge gefreut. Die leerstehenden Häuser im Zentrum waren ein Ärgernis gewesen, und die Leute aus Tromsø bauten lieber am Ostende des Ortes neue, moderne Häuser, anstatt die alten Holzhäuser mühselig zu reparieren.
Aber dann waren innerhalb eines Jahres über zweihundert Familien in den Ort gekommen, und jetzt gab es mehr Deutsche als Norweger in der Kleinstadt. In der Schule wurde seither Unterricht in Deutsch angeboten.
»Ihr werdet sehen«, sagte Ragnar, als sie mit einem Bier in der Hand in der Grünanlage am Extra-Markt saßen, »noch zwei oder drei Jahre, und sie unterrichten nicht mehr in Norwegisch, und dann gehört unser Land den Deutschen.«
»Nachdem sie ihres zur Sau gemacht haben«, pflichtete Ben ihm bei.
»Da kommen schon wieder welche«, kommentierte Kjell eine Familie, die ihren Einkaufswagen über den Parkplatz schob. Sie sprachen laut in einer Sprache, die irgendwie abgeschliffen klang und, wie er fand, nicht in diese Gegend mit ihren schroffen Bergen passte. Sie war hässlich, und er hatte keine Lust, eine hässliche Sprache zu lernen. Ganz davon abgesehen, dass er schon mit Englisch seine Mühe gehabt hatte.
»Wir wollen das hier nicht«, stellte Ragnar fest und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Das Bier kam aus einer Brauerei in Tromsø, die letztes Jahr aufgemacht worden war. Dass sie von Deutschen geführt wurde, wusste er nicht.
Zwei Tage später brannte das erste der alten Holzhäuser.
5
Valentina hätte nicht sagen können, was sie geweckt hatte – der Krach oder die Erschütterung des Hauses. Sie stand bereits neben dem Bett, als sie wach wurde. »Raus hier!«, schrie sie, zog die Trainingshose, einen dicken Pullover und die Socken über.
»Was ist los?« Jurij sah sie verständnislos an.
»Wir müssen raus. Sofort«, kommandierte Valentina, ohne aufzuschauen.
Sie griff den Notfallkoffer, der seit sechzehn Monaten neben ihrem Bett stand. Dann ging sie ins Kinderzimmer und riss Swetlana aus dem Schlaf.
Nach fünf Minuten und achtzehn Sekunden standen sie und Jurij auf dem Hügel vor dem Wohnblock. Swetlana, eingewickelt in eine flauschige Decke, lag im Wäschekorb zu ihren Füßen, klammerte sich an ihren schneeweißen Plüschhund und schaute mit großen Augen in die Dunkelheit.
Neben dem Block war die Nacht schwärzer, als sie hätte sein sollen. Nummer vierundzwanzig fehlte. Immer mehr Menschen sammelten sich auf dem Hügel. Sie waren sehr still und lauschten in die Finsternis, wo es immer wieder knarrte und knackte.
Nach einer Stunde – Valentina zitterte vor Müdigkeit und Kälte – wurde das Knacken lauter. Dann fiel etwas. Mit ohrenbetäubendem Lärm stürzte die Seitenwand ihres Blocks um, und dann senkte sich das östliche Ende um mehr als einen Meter, wie ein Schiff, das voll Wasser läuft und untergeht. Swetlana erwachte wieder und begann zu weinen.
»Alles ist gut«, log Valentina. »Schlaf weiter. Morgen früh ist die Nacht zu Ende.«
Irgendwo brach etwas krachend entzwei. Ein leises Pfeifen ertönte, und dann schossen Flammen hoch.
»Die Gasleitung«, murmelte Jurij.
Wenig später brannte das gesamte Haus. Im dritten Stock brannte Valentinas Bett. Ihre Stühle brannten, der abgewetzte Teppich, Swetlanas Spielzeug und Jurijs schmutzige Socken. Auch die Fotoalben mit Fotos aus Valentinas Kindertagen. Sie weinte nicht. Die Katastrophe war zu groß, um ihr mit Tränen beizukommen.
Das Feuer leckte an der Kiefer neben dem Haus. Dann, mit einem Schlag, stand die gesamte Tundra in Flammen. In blassblauen Flammen.
Valentinas Hand klammerte sich an Jurijs Hand fest.
»Das Methan brennt«, sagte sie. »Wird das den Boden noch mehr auftauen?«
Seit Jahren schon zog sich der Permafrostboden zurück und hinterließ ein Moor. Früher hatte man die Häuser einfach so auf die mehrere Meter dicke Eisschicht gestellt, die hart war wie Stein. Valentina erinnerte sich noch an die eisigen Winter ihrer Kindheit. Die Winter waren noch immer kalt, aber nicht mehr kalt genug, um das Auftauen des gefrorenen Bodens zu verhindern. Er taute, und die Plattenbauten stürzten ein wie Kartenhäuser.
Die Feuerwehr kam, aber der Einsatzleiter schüttelte nur den Kopf und beschränkte sich darauf, in der Zentrale anzurufen und die Einrichtung einer Notunterkunft in der Turnhalle anzuordnen.
Nach und nach rissen sich die Menschen vom Anblick ihres brennenden Hauses los und gingen zur Schule, wo Männer vom Katastrophenschutz Feldbetten aufstellten. Man drückte Valentina eine dünne Filzdecke und eine Tasse mit heißem Tee in die Hand. Sie war hundemüde, aber sie konnte nicht schlafen zwischen all den atmenden, schnarchenden und alpträumenden Menschen, den geflüsterten Gesprächen und dem Weinen.