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WENN DER GROßVATER ERZÄHLT …

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von Monika Niehaus

»Großvater, erzähl’ uns eine Geschichte!«, bat das kleine Mädchen und ergriff seine Hand.

»Ja, bitte, erzähl’ von damals, als es so warm war, dass der Breite Fluss niemals zufror!«, riefen die anderen Kinder und drängten sich näher um ihn ans Feuer, das sie im Inneren einer Ruine neben einem hohen Pfeiler entzündet hatten. Die Luft roch nach Erde und Rauch und dem Schweiß ungewaschener Menschen. Sie war so kalt, dass sie den Atem der Kinder wie Dampf aus ihren Mündern quellen ließ.

»Noch einmal? Habt ihr sie denn nicht schon oft genug gehört?«, fragte Großvater, ein Hüne mit blankem Schädel, dem sein hohes Alter kaum anzumerken war.

Energischer Protest. Nein, sie wollten noch einmal hören, wie alles gekommen war.

Von der Kochstelle, wo die Frauen der Sippe das Nachtmahl bereiteten, drang der Duft des Rattenragouts herüber, und er wusste, dass die Kleinen, bis es so weit war, ihren Hunger vergessen wollten.

»Nun, damals war es so warm, dass man den ganzen Sommer ohne Kleider herumlaufen konnte und sich im Wasser abkühlen musste, so heiß brannte die Sonne«, begann er.

»Und bei uns blühten überall Blumen, und es wuchsen Früchte, Orangen und Zitronen, Wassermelonen und Weintrauben …«, seufzte der magere Junge neben ihm und schlang sein Fell enger um die Schultern, denn trotz des Feuers ließ ihn die eisige Luft frösteln. »Das muss herrlich gewesen sein!«

»Nun, nicht für alle Menschen«, meinte Großvater lakonisch, »denn in manchen Ländern wurde es so heiß, dass man dort nicht mehr leben konnte, und anderswo versanken Inseln einfach im Meer, weil überall das Eis schmolz und der Meeresspiegel stieg.«

Die Kinder blickten durch das zerfallene Gemäuer nach draußen. Obwohl es bald Frühling werden sollte, trieben noch immer Eisschollen auf dem Breiten Fluss an ihrem Unterschlupf vorbei, und wenn sie am Ufer entlangscheuerten, drang ihnen das Knirschen und Knacken durch Mark und Bein. Eine Welt ohne Eis und Schnee, das konnten sie sich kaum vorstellen. Die Blumen, die sie am besten kannten, waren Eisblumen …

»Die Menschen, die von der Hitze aus ihrer Heimat vertrieben worden waren«, fuhr der Alte fort, »flüchteten also in kühlere Regionen, aber dort wollte man sie nicht haben.«

»Warum nicht?«, wollte der magere Jungen mit den dunklen Augen und dem wirren Haarschopf wissen.

Großvater hob die Hände.

»Die, die hatten, hätten mit denen, die nichts mehr hatten, teilen müssen. Und so etwas tun Menschen nicht gern – oder würdet ihr der Sippe auf der anderen Seite des Breiten Flusses die Hälfte eurer Wintervorräte abgeben?«

Allgemeines heftiges Kopfschütteln. So etwas wäre gar nicht infrage gekommen.

»Mit der Hitze kamen auch Krankheiten in die Länder des Nordens, die man früher nur aus den Tropen kannte«, nahm Großvater den Faden wieder auf. »Ebola und SARS, Lassa- und Dengue-Fieber, Affengrippe, Malaria und viele neue Infektionen, gegen die kaum ein Kraut gewachsen war, denn die Erreger waren gegen Antibiotika resistent geworden …«

Als er die verständnislosen Blicke seiner jungen Zuhörer bemerkte, korrigierte er sich: »Schreckliche Seuchen, gegen die auch die weisesten Frauen keine Hilfe wussten. Und so starben die Menschen hier bei uns und auch drüben auf der anderen Seite des Großen Wassers in Scharen. Und es wurde immer noch wärmer.«

Atomkraftwerke ließen sich nicht mehr kühlen und mussten abgeschaltet werden, was den Energiehunger der Habenden nur verstärkte, mussten sie doch ihre Häuser klimatisieren und Zäune gegen die andrängenden Massen der Habenichtse errichten. Und so suchte man jenseits des Großen Teichs überall im Land noch verbissener als zuvor nach unerschlossenen Energiequellen.

»Und je heißer es wurde, desto hektischer wurde die Suche, und desto wilder gaben sich die Habenden ihren Vergnügungen und Ausschweifungen hin … Es war tatsächlich ein Tanz auf dem Vulkan.

»Der Drache unter dem ›Gelben Stein‹ wurde wach, nicht wahr, Großvater?«, warf eines der älteren Mädchen ein, während es eine vorwitzige Laus zwischen den Fingerspitzen zerknackte.

»Genauso war es!«, bestätigte der Alte. »Mit ihrem Lärm und ihren Maschinen, die sich tief in die Erde bohrten, müssen sie etwas aus dem Schlaf gerissen haben, etwas sehr Mächtiges. Und sehr Zorniges. Jedenfalls begann der Drache, der tief unter dem ›Gelben Stein‹ schlief, zu rumoren, warf seinen Kopf hoch und peitschte derart mit seinem Schwanz, dass er die gesamte Decke seiner Schlafkammer absprengte. Tausende Tonnen glühende Magma und Gestein wurden hoch in die Luft katapultiert, sodass dort, wo der Drache geschlafen hatte, eine Caldera, eine riesige Mulde, entstand.«

Großvater unterbrach sich, hob einen Kiesel und verscheuchte mit einem gezielten Wurf eine Ratte, die quiekend in ihrem Loch verschwand.

»Und als der Drache sich umdrehte, um sich ein neues Lager zu bereiten, erschütterten Erdbeben das ganze Land. Das weckte seine Kumpane unter den anderen Vulkanen. Und auch die Seedrachen, die unter dem Meeresboden schliefen, wurden durch den Aufruhr wach und brachten das Meer zum Kochen. Überall wankte die Erde, als die Drachen sich aufbäumten, giftigen Schwefel spuckten und mit ihrem Feueratem alles verbrannten, was brennbar war. Nur wenige Menschen überlebten dieses Inferno.«

Die Kinder lauschten mit angehaltenem Atem. Der Alte erzählte so anschaulich, als habe er das, was er ihnen beschrieb, mit eigenen Augen gesehen.

»Und dann stiegen Schwefel und Asche bis in die Atmosphäre empor und zogen um die ganze Welt. Die Sonne war nur noch ein schwach glimmender Ball ohne Kraft. Über der Erde wurde der Himmel immer dunkler.«

Seine Stimme wurde leiser.

»Und so hüllte die Kälte die ganze Welt mit ihren wenigen Überlebenden in ein eisiges Tuch ein und ließ das, was einmal ›Zivilisation‹ genannt worden war, Stück um Stück erfrieren …«

Der Grüne Planet

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